In der Kommunikationswissenschaft sind zwar quantitative Langzeitstudien dominierend, da sie oftmals repräsentativ angelegt sind. Allerdings besitzen sie für die Analyse des Zusammenhangs von Medien- und Gesellschaftswandel oftmals nur eine beschränkte Aussagekraft. Die aufgrund des methodischen Aufwands wenigen qualitativen Längsschnittstudien fokussieren zumeist bestimmte Altersgruppen, Mediengattungen oder -repertoires. Vorliegende Veröffentlichung dokumentiert die finale Auswertung einer fünfzehnjährigen (!) qualitativen Panelstudie mit sozial benachteiligten Heranwachsenden und ihren Familien. Die Pionierstudie leistet insgesamt gesehen eine höchst detaillierte Beschreibung und differenzierte Analyse der Rolle der Medien im Rahmen von mediatisierten Sozialisationsprozessen, da sie verschiedene individuelle (z. B. subjektive Bedeutungszuschreibungen, Motive und Hobbies) wie strukturelle Kontexte (u. a. Sozialisationskontexte und familiäre Arrangements) berücksichtigt. Der Band ist die dritte Veröffentlichung im Projektkontext. Er verzichtet daher nachvollziehbar auf grundlegende theoretische wie methodische Ausgangspunkte und konzentriert sich dagegen auf gegenwärtige mediale und gesellschaftliche Kontexte wie Migrationsdebatte und Corona-Pandemie und vertieft Einsichten, die sich in der letzten und siebten Erhebungswelle – dem Übergang zum Erwachsensein der Befragten – ergeben haben.

Das Buch beginnt mit einem Parforceritt durch das Feld der Praxistheorien und der Grundannahmen Pierre Bourdieus sowie des Modells der kommunikativen Figurationen nach Andreas Hepp und Uwe Hasebrink. Die Autor:innen verstehen Mediensozialisation nicht als einen zeitlich begrenzten, sondern als einen permanenten Prozess, der durch die analytische Differenzierung der Handlungsoptionen, -entwürfe und -kompetenzen der Befragten empirisch greifbar wird. Es kommt dabei ein mehrstufiges qualitatives Analysekonzept zum Einsatz. Dieses gewährleistet nicht nur, dass die ambivalenten Potenziale von Medien berücksichtigt werden, sondern auch, dass die freizeitbezogenen Nutzungsrepertoires in ihrer vollen Komplexität in den Blick genommen werden können. In den vorhergegangenen Untersuchungswellen geben Leitfadeninterviews einen Einblick in die individuellen Nutzungspraktiken, standardisierte Fragebögen in die familiären und lebensweltlichen Arrangements. Beobachtungen, Netzwerkkarten und die Methode des lauten Denkens bei exemplarischen Mediennutzungssituationen liefern weitergehende Einsichten in den Umgang der Heranwachsenden mit Medien und deren strukturellen Kontexte. In der letzten Phase beschränkte sich die Erhebung zumeist auf Online-Leitfadeninterviews mit den jungen Erwachsenen, was aber den Befunden keinen Abbruch tut.

Das Herzstück des Bandes ist die Darstellung und Diskussion der Befunde der letzten Welle, die sich über mehrere Kapitel erstrecken. In einem ersten Schritt können mit Hilfe dreier Dimensionen – soziökonomische Situation, sozio-emotionale Bedingungen und Beziehungsstrukturen sowie Bewältigungsstrategien – vier Typen von jungen Erwachsenen identifiziert und in sogenannten Fallbeschreibungen auf knapp 130 Seiten (!) detailliert beschrieben werden. So spielen erwartbar die familiären Kontexte der jungen Erwachsenen, die damit verbundenen Ressourcen und Kompetenzen eine besonderen Rolle bei ihrer beruflichen wie privaten Entwicklung. In einem zweiten Schritt werden fallübergreifend Entwicklungen bei den Befragten und ihren Bezugspersonen herausgearbeitet. Interessant erscheinen besonders die medialen Freizeitgewohnheiten. So zeigt sich eine Abnahme an exzessiver Mediennutzung bzw. eine Art Normalisierung durch die zunehmenden Routinen und Pflichten als junge:r Arbeitnehmer:in und infolge von Partnerschaften, aber auch, wie wenig partizipativ und schöpferisch mediale Angebote genutzt werden und eher ein passiver Medienkonsum dominiert.

Zwei der rezenten gesellschaftlichen Krisendiskurse werden zum Anlass von Sonderbefragungen genommen. Hier zeigt sich eindringlich die Leistungsfähigkeit der Panelstudie, da detailliert Bedingungen und Verläufe von Meinungsbildungsprozessen einer vulnerablen Personengruppe nachgezeichnet werden können, die aufgrund des schwierigen Feldzugangs ansonsten unsichtbar geblieben wären. Prototypisch erscheint beim Migrationsdiskurs ein klarer typenbezogener Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischen und sozio-emotionalen Bedingungen und der Wahrnehmung von Migrant:innen als eine „bedrohliche Konkurrenz“. Dieser Zusammenhang ist im Coronadiskurs nicht zu erkennen, dafür kann sehr eindringlich nachgezeichnet werden, wie schnell eigentlich sozio-ökonomisch gut gestellte Personen das Vertrauen in die Medien verlieren und in Verschwörungstheorien abdriften können.

Danach folgt eine Zusammenstellung der methodischen und forschungspraktischen Herausforderungen der Panelstudie, die man sich etwas systematischer und auf den methodologischen Forschungsstand ausgerichtet gewünscht hätte. Den Abschluss des Bandes bilden eine Zusammenfassung und Diskussion der gesamten Panelstudie und eine etwas zu kurz geratene Skizze ihrer „gesellschaftlichen Konsequenzen“.

Die Studie zeichnet sich dadurch aus, dass mit dem Fokus auf soziale Ungleichheit und eine vulnerable Personengruppe, die nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Wissenschaft zu Unrecht bisher ein Schattendasein geführt hat, ein zentraler Beitrag zum Verständnis von Mediatisierungsprozessen geleistet wird. Vor allem die Kontrastierung der Befunde mit denen zu Mediatisierungspionieren erscheint eine lohnende Anschlussaufgabe. Hervorzuheben bei dem empirischen Langzeitprojekt ist auch die imponierende Leistung der beteiligten Forschenden, fast das gesamte Panel bzw. 17 von 20 Befragten und ihre engsten Beziehungspersonen bis zum Abschluss der fünfzehnjährigen Laufzeit zusammengehalten zu haben. Die soziale Kompetenz der Forscher:innen zeigt sich auch nachdrücklich in der positiven Reflexion des Projektverlaufs durch die Befragten.