„Tabus sind die Achillesferse der Gesellschaft“ – dieses Zitat des Soziologen Ralf Dahrendorf steht am Beginn eines Beitrags aus dieser Zeitschrift, in dem sein Fachkollege Otthein Rammstedt vor fast sechzig Jahren über „Tabus und Massenmedien“ reflektierte (Publizistik, 9. Jg. 1964, S. 40–44). Rammstedt fasst seine Ausgangsüberlegungen so zusammen: „Die Tabus sind rein gesellschaftliche Phänomene. Da sie sich nicht in ein System einreihen lassen, sind es keine moralischen Forderungen; da sie keine Universalität besitzen, sind es keine Naturgesetze. Die Tabus vergesellschaften den Menschen dort, wo er sich von der Gesellschaft nicht zu manipulierenden Kräften gegenüber zu befinden glaubt, z. B. Geburt, Tod, Liebe, Göttern. Daher hängen Tabu, Ritus und Mythologie in mancher Form zusammen.“

Eingehender hat sich Hans Wagner mit der Thematik befasst. In seinem Buch „Medien-Tabus und Kommunikationsverbote“ (München 1991) blendet er zurück in den polynesischen Kultur- und Sprachraum, in dem Tabus vor allem Berührungsverbote bedeuteten, und er unterscheidet Wort- und Sprachtabus, Kommunikationsverbote und Medientabus. Letztere führt er vor allem zurück auf ein falsches Berufsverständnis vieler Medienleute, die sich als Vertreter spezieller Kommunikationsinteressen (= als Publizisten) anstatt als unparteiische Gesprächsanwälte der Gesellschaft (= als Journalisten) verstehen.

Melanie Hellwig referiert in ihrer Studie über „Mechanismen eines medialen Tabubruchs“ die beiden erwähnten Veröffentlichungen. Ihr Forschungsüberblick zeigt weiter, dass das Thema ‚Tabu‘ bisher insbesondere von Ethnologen, Psychologen und Soziologen behandelt wurde. Sie selbst definiert Tabu als „normatives Konstrukt, welches Verhalten standardisiert und somit für die Mitglieder der Gemeinschaft erwartbar macht“ (S. 55). Ein Tabu hat eine regelnde Funktion, die identitätsstiftend und durch Sanktionen geschützt ist. Bei den Akteursrollen kann man Tabugeber und Tabunehmer sowie Tabuwächter und Tabubrecher unterscheiden.

Die an der Universität Bamberg als Dissertation entstandene Studie ist modulartig aufgebaut. Am Beginn stehen theoretische und begriffliche Erläuterungen. Anschließend wird ein breit angelegter Forschungsüberblick zum Thema Tabu präsentiert. Dann geht es um Abgrenzungen: Welche Schnittmengen gibt es zwischen Tabu und Geheimnis? Und welcher Zusammenhang besteht zwischen Tabubruch und Skandal?

Als konkreten Gegenstand ihrer Analyse hat Hellwig die Berichterstattung über das Thema Abtreibung gewählt. Ausgangspunkt ist die Titelgeschichte der Illustrierten Stern vom 6. Juni 1971: „Wir haben abgetrieben“ – auf Initiative von Alice Schwarzer haben damals 374 Frauen ein entsprechendes Manifest unterschrieben. Aus Solidarität schlossen sich später viele tausend weitere Frauen der Aktion an, wobei einige nachher einräumten, von diesem Geständnis gar nicht betroffen zu sein. Doch vor dieser Fallstudie wird zunächst noch umständlich die deutsche Medienlandschaft der 1960er- und 1970er-Jahre beschrieben. Ausführlich erläutert Melanie Hellwig das gewählte Beispiel, indem sie Geschichte und Gegenwart der Abtreibung akribisch verfolgt. Der historische Rückblick greift zurück bis in die Antike. Insgesamt zeigt sich, dass die Thematik vor allem im Kontext Familienplanung, Verhütung und Kindstötung behandelt wurde. Wie in manchen anderen Kapiteln verselbständigt sich hier die Darstellung – das primäre Erkenntnisinteresse der Studie gerät dabei teilweise aus dem Blick.

Der empirische Teil besteht aus einer quantitativen Inhaltsanalyse von Printartikeln zum Thema, wobei drei ereignisbezogene Zeiträume aus den Jahren 1962 (4 Artikel), 1971 (111 Artikel) und 1976 (35 Artikel) ausgewählt wurden. Das Vorgehen und die Ergebnisse sind detailliert beschrieben, so dass sich Auswertung und Interpretation gut nachvollziehen lassen. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine „intendierte Selbstskandalisierung“ – ein Verfahren, das in der Geschichte der Frauenbewegung manche Vorläufer hat. Die Frage, ob es sich hier um einen Skandal oder um einen Konflikt handelt, beantwortet Hellwig salomonisch: Es „kann von einem skandalisierten Konflikt mit einer Gesetzesänderung als Abschluss gesprochen werden“ (S. 225).

In Rezensionen wird nicht selten auf einen „fehlenden Lektor“ verwiesen. Da im wissenschaftlichen Publikationsbetrieb das Lektorat meist nur noch als Phantom existiert, geht die beträchtliche Zahl von Flüchtigkeitsfehlern leider voll auf das Konto der Autorin. Über ihr Vorhaben schreibt sie: „Mit der Inhaltsanalyse der Printmedien zum Fallbeispiel Wir haben abgetrieben soll eine erste systematische Untersuchung durchgeführt werden“ (S. 127). Dies ist insofern irritierend, als Hans Wagner in seinem eingangs erwähnten Tabu-Buch ausführlich über differenzierte Inhaltsanalysen zur Abtreibungsthematik und zur Reproduktionsmedizin berichtet, die er an der Universität München initiiert hat. Sowohl die Zahl der Untersuchungseinheiten als auch die Differenziertheit der Analysekategorien sind hier deutlich höher. Ein Vergleich der Ergebnisse und der davon abgeleiteten Schlussfolgerungen wäre naheliegend, ja notwendig gewesen.

Im Übrigen ist die Thematik nach wie vor aktuell, wie die Debatten über die Aufhebung des ärztlichen Informations- und Werbeverbots in Deutschland und die Änderung der einschlägigen Rechtsprechung des Supreme Court in den USA jüngst gezeigt haben. Daneben gibt es viele neu entstandene Tabus, etwa im Umkreis der Genderdebatte und der Identitätspolitik. Deshalb muss in diesem Zusammenhang dringend das Phänomen des Wertewandels ins Visier genommen werden, was in der vorliegenden Studie allerdings nur am Rande geschieht.