Mit Paula Stehrs Arbeit liegt ein fast über das heute Dissertationsübliche hinaus gründlicher und sehr aufwändiger Band vor, bei dessen Lektüre man viel über prosoziales Handeln aus der vorhandenen Forschung lernt und umfangreiche neue Befunde auf der Grundlage durchdachter Designs präsentiert bekommt. Das Werk stellt ein gelungenes Beispiel eines aktuell recht verbreiteten Typus von Dissertationen in der Kommunikationswissenschaft dar und qualifizierte sich dadurch auch bereits für den Herbert von Halem „Nachwuchs“preis.

Ich würde es zunächst in einen aktuellen Forschungstrend einordnen, den man als medienbezogene positive Psychologie oder Sozialpsychologie des Wünschenswerten beschreiben könnte. Ohne speziell ausgearbeitete normative Theorie wird auf der Ebene des Individuums oder konkreter Interaktionszusammenhänge untersucht, was bestimmte als wünschenswert erachtete Handlungen und Zustände (z. B. Gesundheit, Wohlbefinden, Hilfeleistung, Eudämonie) begünstigt. Es erwarten einen in Arbeiten dieser Schule also keine kritische Gesellschaftstheorie oder normative Öffentlichkeitstheorie, sondern Faktoren (und ggf. Interventionsmöglichkeiten) bezogen auf das Wohlergehen oder prosoziale Verhalten von Individuen, ein empirisches fundiertes Inventar von Einflussfaktoren und -mechanismen. Ferner erwarten einen in der Regel kompetent durchgeführte Studien auf der Grundlage des klassischen empirisch-sozialwissenschaftlichen bzw. psychologischen Methodenkanons rund um die Befragung im weitesten Sinne. Dieser Ansatz hat seine unbestrittene Relevanz und Stärken, aber natürlich auch seine Grenzen.

Der Stil des Werks ist sehr schmucklos und die Arbeit kommt bereits in der Einleitung ohne viele Anekdoten oder dergleichen, sondern mit Begrifflichkeiten und Forschungsfragen zur Sache. Sie geht dann, wie es in diesem Genre oft vorkommt, nicht so sehr von einer radikalen Kritik der bisherigen Forschung aus, sondern vollzieht ausgehend vom Forschungsstand eine kleine, relevante und originelle Perspektivverschiebung. Im vorliegenden Fall wendet sich der Blick von denjenigen, die online soziale Unterstützung erfahren, (auch) auf diejenigen, die sie leisten, und die Arbeit untersucht den jeweiligen Einfluss der Unterstützung auf das Wohlbefinden. Dies ist besonders dann relevant, wenn sich Menschen online über stigmatisierte Themen austauschen.

Es wäre eine müßige Begriffsstreitigkeit, ob das postulierte Kausalgeflecht eine geschlossene Theorie im engeren Sinne darstellt – die Arbeit bleibt hier jedenfalls bescheiden und kündigt keine solche an und schmückt sich auch nicht mit einem entsprechenden wohlklingenden Namen à la „theory of … behavior“. Jedoch fügt Paula Stehr, wie es auch typisch ist, mit einem großen Aufwand an Literaturaufarbeitung, Übersichtstabellen, Schaubildern etc. eine Vielzahl von Faktoren zusammen und ordnet sie kausal (solche Dissertationen neigen dann gelegentlich zu etwas langen Passagen, die sehr minutiös bisherige Literatur referieren, eignen sich dann aber umgekehrt auch gut als Literaturüberblick).

Die Grenzen des Ansatzes liegen vor allem da, wo Konstrukte fast schon ein wenig verdinglicht werden und wo eine etwas andere Perspektive etwas essentialistische Auffassungen auflösen könnte. Die aufgearbeiteten Begriffsbestimmungen des prosozialen Handelns können z. B. aus Sicht anderer Handlungs- oder Tauschtheorien noch anders reflektiert werden, etwa dahingehend, wie Autonomie und Handlungsfähigkeit erst sozial bzw. subjektiv zugeschrieben, wie Fremd- und Eigennutz sozial definiert und im Gegensatz oder Einklang gesehen, wie rein finanzielle Motive sozial abgewertet werden, wie Reziprozität manchmal nicht allzu direkt sichtbar oder eingefordert werden darf, wie Care-Arbeit stereotypisiert oder missachtet wird usw.

Beim (Teil‑)Konstrukt der Lebenszufriedenheit bestimmt eine übernommene Definition und Skala letztlich etwas unter der Hand seine Bedeutung und es wird durch diese Reifikation in eine vielleicht ungünstige Richtung eingeengt. Die Items sind nämlich teilweise sehr rückblickend formuliert. Vielleicht macht es aber einen Unterschied, ob jemand – natürlich aus der gegenwärtigen Lage und Stimmung heraus – das bisherige oder das aktuelle Leben bewertet. Zwar könnte man in beiden Fällen einen Einfluss der in letzter Zeit empfangenen oder geleisteten Hilfe vermuten, aber der Mechanismus wird womöglich etwas unterschiedlich sein (wobei die z. T. eher vergangenheitsbezogene Lebenszufriedenheit zusammen mit etwas gegenwartsnäheren Affekten in das Konstrukt des Wohlbefindens einfließt, so dass sich die zeitliche Ordnung von Unterstützung und Zufriedenheit nicht mehr eindeutig festlegen lässt). Akzeptiert man aber die gewählten Begriffsverständnisse und Messungen, so bieten sich sehr differenzierte Befunde zum Einfluss von Hilfeleistungen auf das Wohlbefinden z. B. in Abhängigkeit von der Motivation, persönlichen Merkmalen oder den Kontexten und der Nutzung unterschiedlicher Foren.

Ambitionierte Promotionsvorhaben leisten sich heute auch immer aufwändigere Mehrmethodendesigns, in diesem Fall gleich eine Kombination aus einer Tagebuchstudie, einer qualitativen und einer quantitativen Befragung. An die qualitative Studie muss man freilich mit den richtigen Erwartungen herangehen. Hier geht es nicht um dicht beschreibende Feldforschung oder eine Untersuchung, die sich in offenen Schritten unter Einklammerung ihrer Vorannahmen langsam einer digitalen Kultur nähert, sondern um die Plausibilisierung eines schon sehr ausgearbeiteten Kausalmodells. Man darf sich hier also nicht durch das Wort „Moderation“ in der Forschungsfrage einer qualitativen Studie abschrecken lassen, denn letztlich bauen die Studien nämlich allesamt sinnvoll aufeinander auf und tragen zum Gesamtbild der Befunde bei.

In der Summe sind wir durch dieses Werk also over-benefited, bekommen viel heraus, wenn wir die Lektüre der natürlich nicht gerade kurz ausgefallenen Arbeit mit der großen gedanklichen und empirischen Mühe vergleichen, welche Paula Stehr in dieselbe gesteckt hat.