Gibt es einen Platz für ein „Meinungsforum“ in unserer wissenschaftlichen Publikationslandschaft? Wenn ja, wie sollte es aussehen, was wären seine Funktionen? Die Herausgeberschaft der Publizistik hat mich gebeten, mir Gedanken über diese Fragen zu machen. Und eines scheint von vornherein klar: Es sollte ein Forum sein, das weder „klassische“ empirische oder theoretische Beiträge bringt, wie sie den Hauptteil wissenschaftlicher Fachzeitschriften ausmachen, noch rein fachpolitische Auseinandersetzungen, wie wir sie im Aviso, der Mitgliederzeitschrift unserer wissenschaftlichen Fachgesellschaft, lesen können. Es müsste etwas Drittes sein, das zur Selbstverständigung und Selbstreflexion im Fach beiträgt, Denkanstöße liefert und das wir zugleich gern lesen.

Um die Antwort vorwegzunehmen: Ja, es gibt in meinen Augen einen Platz für dieses Dritte, für konstruktive innerfachliche Auseinandersetzungen jenseits des empirisch-theoretischen Kerngeschäfts und jenseits reiner Fachpolitik. Und es ist gut, dass die Publizistik dafür einen Ort anbietet. Aber damit fangen die Fragen und Herausforderungen erst an. Der Anlass für meinen Beitrag ist klar: der Streit über das „Gendern“ in unserem Fach, der in der Forumsrubrik der Publizistik begonnen hat, dann rasch in die breitere Öffentlichkeit des Faches migriert ist und in der Folge die Formen unserer innerfachlichen Auseinandersetzung selbst ins Zentrum gerückt hat. Von vornherein ist klar, dass ich nicht als Schiedsrichter in diesem Streit auftreten soll oder will – schon allein deshalb, weil ich in dieser Sachfrage nicht neutral bin, wie die geschätzte Leserschaft an meinem Versuch, genderneutrale und genderinklusive Formulierungen unter Vermeidung des generischen Maskulinums zu wählen, unschwer erkennen wird. Wichtiger aber ist, dass ich gebeten worden bin, nicht auf die Debatte zurück-, sondern in die Zukunft zu schauen und mir Gedanken darüber zu machen, wie produktive Auseinandersetzungsformen aussehen können.

Es geht mir also um die Frage, welche Formen der innerfachlichen Auseinandersetzung jenseits von Kerngeschäft und Fachpolitik eigentlich angemessen und anregend sind. Und darum, in welchen Publikationsformaten diese anregende Auseinandersetzung am besten aufgehoben ist und welchen Stil und welche Anmutung solche Formate haben können. Dabei beginne ich mit einer Reihe mentaler Modelle für solche Auseinandersetzungen, die mir als Leitbilder ungeeignet erscheinen und die ich deshalb zunächst „abräumen“ möchte.

1 Eher ungeeignete Modelle: Leitartikel, Kampagne, Anklageschrift

Das erste Modell, das für Kommunikationswissenschaftler*innen, jedenfalls solche, die sich mit Journalismus beschäftigen, vielleicht besonders naheliegt, ist das Genre des Leitartikels. Leitartikel sind in der Regel kürzer, als wir es in der Wissenschaft brauchen, und sie drehen sich im Kern um eine fokussierte, pointierte Meinungsäußerung, die auf die eine oder andere Weise argumentativ gestützt wird. Argumentative Formen der Auseinandersetzung sind natürlich auch in der Wissenschaft erwünscht und üblich, aber nicht notwendigerweise soll dabei die Meinung vorausgesetzt sein und im Mittelpunkt stehen. In dem Forum, das ich mir wünsche, sollte weniger der subjektive Charakter der Äußerung („Meinung“), als deren epistemische Kraft („Ideen“) die Kommunikation prägen und organisieren. Aus diesem Grund komme ich hier schon mit einem ersten Vorschlag an die Publizistik aus der Deckung, nämlich der Empfehlung, die entsprechende Rubrik zukünftig nicht mehr „Meinungsforum“ zu nennen, sondern „Ideenforum“, um vom Leitartikel-Modell wegzukommen. Alternativ könnte man auch schlicht „Essay“ darüber schreiben, aber aus Gründen der Konsistenz bleibe ich im Folgenden beim „Ideenforum“, um nicht die Textsorte, sondern die epistemische Funktion zu betonen.

Ein zweites Modell, das ich weniger geeignet finde, ist das Modell der Kampagne, wie wir es aus der Werbung, der PR, dem Wahlkampf oder den sozialen Bewegungen kennen. Die Besonderheit und Stärke von Auseinandersetzungen im Zwischenfeld zwischen Fachpolitik und Fachwissenschaft liegt meines Erachtens weniger in der Mobilisierung von Unterstützungs- oder gar kollektiver Handlungsbereitschaft. Die Stärke wissenschaftlicher Auseinandersetzungen liegt nach wie vor in der Betonung von kritischer Reflexion mit ihrer relativen „Handlungsentlastetheit“. Und wir täten gut daran, wenn wir diese Qualitäten in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift, auch im Ideenforum, herausarbeiten und schützen würden.

Ich will einräumen, dass es hier Grenzfälle gibt. Ich denke an jene Fragen der wissenschaftlichen Selbstreflexion, die unmittelbar in der eigenen Publikationspraxis virulent werden. Genau zu dieser (kleinen) Klasse von autoperformativen Auseinandersetzungen zählt die Debatte, die den Auslöser meines Essays darstellt. Niemand kann der Frage entgehen: Schreibe ich über das Gendern in der Wissenschaft in einer „gegenderten“ Form – und wenn ja, in welcher? Aber ich möchte betonen, dass dies ein Ausnahmefall ist. Die meisten Formen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Selbstreflexion betreffen eine auseinandersetzungsexterne Sachfrage und nicht die (sprachliche) Form der Auseinandersetzung selbst. Insofern erlaube ich mir, die „Gender-Debatte“ als Spezialfall oder Grenzfall zu behandeln, bei der man in der Tat dem Problem des performativen Selbstwiderspruchs nicht entgehen kann und in der sprachlichen Form der Äußerungen selbst Position beziehen muss. In den meisten anderen Fragen sind Inhalt und Form stärker trennbar und sollten dann auch stärker getrennt werden. Das bedeutet natürlich nicht, dass im Ideenforum jede Form von Handlungsorientierung oder jeder praktische Verbesserungsvorschlag unterbleiben sollte, sondern nur, dass Handlungsaufrufe hier nicht den Kern ausmachen sollten.

Ein drittes Modell, das ich weniger überzeugend finde, ist die Anklageschrift. Sie hat eine gewisse Nähe zur Kampagne, betont aber in besonderer Weise Verstöße gegen moralische (oder gar rechtliche) Maßstäbe. Dabei wird in der Regel intentionales Fehlverhalten unterstellt, was häufig zu heftiger Verteidigung oder gar Wagenburgmentalität führt. Vorwürfe und Gegenvorwürfe sind in moralisch aufgeladenen Konflikten die Regel und führen entweder zu fortlaufender Konfliktverschärfung oder umgekehrt zu Groll und einem angespannten Beschweigen des Konfliktes. Beides bindet viele kognitive und emotionale Ressourcen, die für die Auseinandersetzung in der Sache dann fehlen.

Um es metaphorisch auszudrücken: Wissenschaftliche Auseinandersetzungen laufen Gefahr, einerseits in einen Wahlkampfmodus abzugleiten (im schlechten Fall mit gegenseitigen Vorwürfen und Konflikteskalation) oder in den Modus von Koalitionsverhandlungen, in denen es um die Durchsetzung partikularer Interessen und die Gewinnung von Anhänger*innen geht. Viel passender scheint mir das Modell der Sondierungsgespräche oder noch genauer der sogenannten Vorsondierungen zu sein – ein Begriff, von dem wir nach der Bundestagswahl 2021 meines Wissens zum ersten Mal gehört haben. Wir wissen nicht genau, wie die Vorsondierungen der Ampel-Koalitionäre in Berlin genau abgelaufen sind, aber in der nachträglichen öffentlichen Selbstbeschreibung spielten Worte wie Offenheit und Neugier eine große Rolle – Neugier darauf, wie die andere Seite bzw. die anderen Seiten im Dreieck denken. Noch bevor es überhaupt an die Auslotung und Formulierung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden (und dann an das Festzurren von Kompromissen) gehen konnte, gab es (offenbar) den Moment der gegenseitigen Neugier auf die andere Sichtweise. Vorsondierungen dieser Art scheinen mir ein geeignetes Modell für Auseinandersetzungen in der Wissenschaft zu sein, besonders für den hier interessierenden Zwischenbereich jenseits des empirisch-theoretischen Kerngeschäfts und der reinen Fachpolitik. Ideenforen leben geradezu von Neugier. Und das vor allem auch deshalb, weil Neugier kein rein kognitives Phänomen ist, sondern wahrscheinlich die wichtigste der sogenannten epistemischen Emotionen darstellt.

2 Epistemische Emotionen als Triebkräfte des Ideenforums

Epistemische Emotionen sind Gefühle, die sich auf Erkenntnisse oder auf den Prozess des Erkennens selbst beziehen. Dazu gehört die Überraschung durch unerwartete Ergebnisse, die Neugier auf bislang Nichtgewusstes oder Unerforschtes, die Freude am Erkenntnisprozess selbst, aber auch die Verwirrung angesichts widersprüchlicher oder unverständlicher Ergebnisse. Weiterhin genannt werden Frustration über scheinbar unlösbare kognitive Inkongruenzen, Angst vor der Infragestellung fundamentaler Überzeugungen und Langeweile angesichts immer gleicher Ergebnisse ohne weitergehenden Lerneffekt. Ich betone im Folgenden aber die zuerst genannten, stärker nach vorn treibenden Emotionen.

Epistemische Emotionen sind weniger gut erforscht als andere Gefühle, spielen aber in der gelebten Wissenschaft nach meiner Beobachtung eine große Rolle. Ein Beispiel: Ich selbst war überrascht und, ich gestehe, auch verwirrt, immer wieder zu lesen, dass das von mir als zentral und wahr angenommene Phänomen der Echokammern in sozialen Netzwerken offenbar weniger empirische Bestätigung findet, als ich dachte. Immerhin ist die Echokammer-Metapher extrem eingängig. Die überraschenden empirischen Indizien dafür, dass das Phänomen wohl überschätzt wird, haben bei mir einige Verwirrung ausgelöst. Hinzu kam aber die Neugier, warum eine derart eingängige Metapher so falsch sein soll. Verwirrung und Neugier haben gemeinsam, wie ich glaube, meinen Blick dafür geschärft, was an der zunächst gängigen Operationalisierung der Echokammer-These (Menschen kommen mit gegenläufigen Information und Meinungen überhaupt nicht in Kontakt) nicht stimmt. Die Prozesse müssen offenbar komplexer sein, als es die Metapher in ihrer einfachen Logik nahelegt. Vielleicht geht es, so fing ich an zu überlegen, in einer Echokammer nicht primär um das, was Menschen zu hören bekommen (angeblich nichts Gegenläufiges), sondern eher um das, was sie zu glauben bereit sind und was sie selbst teilen und weitertragen (nämlich das Konsonante, vor allem wenn es von Eliten ausgesprochen wird). Vielleicht zeigen sich die Abschließungs- und Einigelungstendenzen nicht in der Rezeption, sondern eher in der Bewertung und Multiplikation von Botschaften. Und vielleicht ist dann am Ende die Metapher der Echokammer nicht komplett falsch, sondern nur zu eng, weil sie den Fokus auf die „exposure“ legt und nicht auf „selective judgement“ und „selective sharing“. Und weil sie mit der Assoziation einer schalldichten geschlossenen Kammer ein zu absolutes Bild dieser aktiveren Abschließungstendenzen nahelegt.

Ich führe dieses Beispiel nur an, um begreiflich zu machen, dass Erkenntnisprozesse keine entkörperlichten, rein kognitiven Prozesse, sondern stark von erkenntnisbezogenen Emotionen geprägt sind. Die dominanten Formen des wissenschaftlichen Publizierens in Fachzeitschriften sind allerdings darauf angelegt, von solchen epistemischen Emotionen zu abstrahieren, sie zu dethematisieren und den Erkenntnisprozess entsprechend gereinigt und geglättet darzustellen. Hier sehe ich eine zentrale Funktion eines Ideenforums, wie ich es mir vorstelle: dass es nämlich eine explizitere Reflexion epistemischer Emotionen als Triebkräfte empirischer und theoretischer Erkenntnis nahelegt; dass es die geglätteten Gedankenprozesse wieder zugänglicher und damit auch kritisierbarer macht; und dass dabei die Forschenden als Subjekte ein Stück weit besser sichtbar werden. In welchen Formen aber kann ein Ideenforum diesen Zielen näherkommen? Dazu beschreibe ich im folgenden Abschnitt ein paar Beispiele.

3 Lerneffekte reflektieren und kontroverse Zusammenarbeit eingehen

Die von Zizi Papacharissi herausgegebene Zeitschrift Social Media+Society enthält die Rubrik „Something I no longer believe“, die von den Journalismusforscher*innen Adrienne Russell und Matt Powers aus Seattle verantwortet wird. Hier finden sich Kurzbeiträge von 2000 Wörtern mit expliziten Reflexionen von Forscherinnen und Forschern über ihre eigenen Lernprozesse. Manche der Beiträge folgen dem Format einer Kontrastierung früherer und heutiger Überzeugungen und des Erkenntniswegs vom einen zum anderen sehr genau, andere Beiträge lösen sich ein Stück weit. Manche sind programmatisch, manche eher reflexiv. Aber der Schwerpunkt auf den eigenen Lernprozessen statt einer distanzierten Beobachtung des jeweiligen Forschungsfeldes eint die Beiträge dann doch und ist interessant zu lesen. Denkbar wäre natürlich auch eine positive Wendung des Rubrikentitels nach dem Motto „Etwas, das ich erst jetzt erkannt habe“.

Ein zweites Beispiel stammt von der ehemaligen ICA-Präsidentin Barbie Zelizer. Sie hat vor Jahren einmal von einem Beitragsformat erzählt, das „My best fiend“ heißt (ja, „fiend“ ohne „r“, also etwa: „Mein bester Widersacher/meine beste Widersacherin“). Darin steckt die explizite Aufforderung, das zu thematisieren, was die Autorin oder der Autor von jemand gelernt hat, der oder die klar einer anderen, vielleicht gar „gegnerischen“ Forschungstradition angehört. Ich finde die Überlegung anregend: Wo habe ich meine eigenen Vorstellungen über meine Forschungsgegenstände dadurch geändert, dass ich berechtigte Einwände von anderer Seite aufgegriffen und mein Denken geändert habe? Über den (vielleicht widerwillig zugestandenen) Lerneffekt hinaus lenkt das Format den Blick aber auch auf den Respekt oder gar den Dank, den man „den besten“ Widersacher*innen schuldet.

Nach meiner Erfahrung denken wir viel zu sehr im Modell des Schlagabtauschs, in dem jeder Beitrag eine einzige Position möglichst in Reinkultur verkörpert und der Dialog allein aus der Gegenüberstellung der Beiträge erwächst. Das ist ein zwar möglicher, aber durchaus riskanter Prozess. Wir wissen, dass die Konfrontation mit gegenläufigen Beiträgen zu selektiver Ausblendung von Aspekten beim Schreiben und selektiver Wahrnehmung beim Lesen führen kann. Besser ist es, wenn der Konflikt in den Beitrag verlagert wird. Viel zu selten publizieren wir mit Kolleginnen und Kollegen, die bekanntermaßen eine andere Auffassung zum jeweiligen Thema haben als wir selbst. Wenn wir das häufiger täten, würde es erst richtig spannend. Ich gestehe, dass ich das auch noch nicht gemacht habe. Umso erfreuter war ich, als ich vor Kurzem erfuhr, dass für diese Art der brückenbildenden Konfliktpublikation bereits ein Modell existiert, nämlich die Idee der „adversarial collaboration“ van Daniel Kahnemann.

Es gibt ein kurzes YouTube-Video, in dem Kahnemann die Idee der gegnerischen Zusammenarbeit erläutert (https://www.youtube.com/watch?v=sW5sMgGo7dw). Darin führt er aus: „Instead of the reply and rejoinder format you can agree to write a joint article in which you first settle what you agree on and then what you disagree on.“ Einen solchen gemeinsamen Artikel aus der Feder von wissenschaftlichen Kontrahent*innen würde ich sehr gerne lesen – und auch gelegentlich einmal zu schreiben versuchen. Eine fortgeschrittene Form der gegnerischen Zusammenarbeit besteht darin, dass die Widersacher*innen eine gemeinsame Untersuchung planen, bei der sie sich auf ein gemeinsames Design einigen, das keinem der gegenläufigen erwarteten Ergebnisse von vornherein Vorteile verschafft. Wenn beide Seiten bereit sind, sich der Ergebnislage zu unterwerfen und dann auf eine gemeinsame Ergebnisinterpretation hinarbeiten, aber ansonsten „in zwei Stimmen schreiben“, wie Kahnemann sagt, ist der Erkenntnisfortschritt erwartbar am größten. Diese Art der anspruchsvollen, empirisch gewendeten „adversarial collaboration“ kann aus meiner Sicht als ein natürlicher Bestandteil der Open Science-Bewegung verstanden werden, die ja insgesamt auf Erkenntnisfortschritt und Qualitätssteigerung durch Öffnung des oft undurchsichtigen Forschungsprozesses setzt. Empirische Studien, die auf gegnerischer Zusammenarbeit beruhen, sehe ich allerdings eher nicht im Ideenforum einer Fachzeitschrift aufgehoben, sondern im Kernbereich der empirischen Forschung weiter hinten im Heft. Allerdings kann ich mir kürzere konzeptionelle Beiträge, die von Kontrahent*innen gemeinsam verfasst werden, sowie Aufrufe zur Mitarbeit an kontrovers-kollaborativen Studien sehr gut als innovatives und anregendes Format des Ideenforums vorstellen.

Die forscherische Zusammenarbeit und auch das gemeinsame Publizieren wissenschaftlicher Kontrahent*innen scheint mir die denkbar produktivste Art zu sein, wie eine Fachgemeinschaft mit ihren internen Spaltungen und Konfliktlinien umgehen kann. Hier wird die Auseinandersetzung in die wissenschaftliche Arbeit selbst hinein verlagert, statt sie nach getaner Arbeit nur auf der Ebene der Publikationen auszutragen. Vielleicht motivieren kontroverse Kollaborationen auch stärker dazu, wissenschaftliche Kontroversen wirklich auszutragen, als die bisher üblichen Diskussionsformate. Ich gestehe, dass ich aus wissenschaftlichen Podiumsdiskussionen nicht immer viel gelernt habe und ich oft das Gefühl hatte, dass ich als Zuhörer solcher Formate nicht wirklich zum inhaltlichen Kern der Kontroverse vorgedrungen bin. Das mag an mir liegen – oder eben auch daran, dass wir wissenschaftliche Kontroversen in unserem Publikationswesen immer noch zu oft nach dem Modell einer publizistischen Kontroverse oder eines politischen Schlagabtauschs organisieren. Ich sehe jedenfalls einen großen Bedarf, hier auch Neues auszuprobieren – und welche Arena wäre dafür besser geeignet als das Ideenforum einer disziplinweit gelesenen Fachzeitschrift?

4 Hegemonie, Subversion und die Frage der Zivilität

Ist die Orientierung an der Explizierung eigener Lernprozesse und an gegnerischer Zusammenarbeit ein zu harmonistisches Konzept für die innerwissenschaftliche Kontroverse? Ist unser Fach nicht vielmehr von hartnäckigen Hegemonien und tiefreichenden Konfliktlinien dauerhaft zerklüftet? Und führt diese Zerklüftung nicht gerade zu Unversöhnlichkeiten, die sich gelegentlich in heftigen Attacken und öffentlicher Skandalisierung Bahn brechen? Und ist nicht jede Disziplin, auch die Kommunikationswissenschaft, von dominanten und marginalisierten Gruppen, von Platzhirschen und Rebellinnen, von Hegemonie und Subversion geprägt? Eine macht- und ressourcenorientierte Wissenschaftssoziologie à la Pierre Bourdieu scheint das nahezulegen, und sie hat auch im deutschsprachigen Raum ihre Anhänger*innen. Für den Rahmen dieses Beitrags sind solche Fragen zu komplex. Ich ziehe mich deshalb an dieser Stelle mit dem Hinweis aus der Affäre, dass genau dies ein ideales Thema für eine gegnerische Zusammenarbeit nach Kahnemann darstellt, die ich sehr gern lesen würde.

Allerdings möchte ich in diesem Zusammenhang doch ein Argument anführen, das nicht die Struktur der Disziplin selbst, sondern die Form der öffentlichen Konfliktaustragung betrifft und das oben bereits anklang. Wir würden aus meiner Sicht viel gewinnen, wenn wir die Austragung innerwissenschaftlicher Konflikte nicht nach der Logik politischer Konflikte modellierten. Am Ende geht es in der Wissenschaft eben nicht darum, wer mehr von seinen Interessen durchsetzen kann, sondern um die beste Erklärung und die überzeugendste Interpretation. Deswegen sollten wir auch nicht wie in der Politik Interessen, Positionen oder Meinungen als den Stoff des Konflikts ansehen, sondern Befunde und Deutungen (deshalb ja „Ideenforum“ statt „Meinungsforum“, siehe oben). Jürgen Habermas hat in seiner berühmt gewordenen Dresdner ICA-Rede auch für die Demokratie eine solche „epistemische Dimension“ reklamiert, die kollektive Entscheidungen an überzeugende Argumente binden will. Aber selbst wenn man das für eine Überforderung der Öffentlichkeit und der Politik hält – diese epistemische Dimension ist jedenfalls keine Überforderung der Wissenschaft, sondern gerade ihre Kernfunktion.

Diese beinahe banale Feststellung hat meines Erachtens direkte Konsequenzen dafür, wie das Ideenforum in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift redaktionell geführt werden sollte. Um es auf eine Kurzformel zu bringen: Artikel 5 GG allein reicht nicht. Es ist für ein Ideenforum, wie ich es zu skizzieren versuche, nicht genug, das Postulat der Meinungsäußerungsfreiheit mit dem Zensurverbot zu kombinieren. Das mag auf der Straße und in den sozialen Netzwerken genügen – und selbst dort sehen wir, dass es keineswegs ausreicht, wenn die Demokratie keinen Schaden nehmen soll. In der innerwissenschaftlichen Auseinandersetzung muss aber in jedem Fall das Zivilitätspostulat zwingend hinzukommen.

Zivilität ist ein schillernder, mehrdimensionaler Begriff, und viele kluge Köpfe – gerade auch aus der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft – haben zu seiner Konturierung in den letzten Jahren Wichtiges beigetragen. Klar ist inzwischen, dass Zivilität mindestens zwei zentrale Normdimensionen umfasst, gegen die inzivile Kommunikation verstößt: die Normen des interpersonellen Umgangs (oft auch Höflichkeitsnormen genannt) einerseits und demokratische Normen des gegenseitigen Respekts unter Gleichberechtigten und des Verzichts auf stereotypisierende Abwertung und Diskriminierung andererseits. Gegen beide Normtypen können auch Beiträge von Wissenschaftler*innen verstoßen, vor allem außerhalb des empirisch-theoretischen Kernbereichs der Wissensproduktion, also in einem Meinungs- oder Ideenforum oder auch der fachpolitischen Diskussion.

Um es also einmal klar auszusprechen: Ich bin dafür, dass die Redaktion der Publizistik Forumsbeiträge (und übrigens auch die eine oder andere Rezension) stärker auf die Einhaltung der Zivilitätsnormen hin redigiert. Natürlich steckt bei dieser Forderung der Teufel im Detail, und nicht jede zugespitzte Formulierung ist diskriminierend oder herabsetzend. Aber manche eben schon. Deshalb plädiere ich dafür, die Frage der Zivilität weniger vom Äußerungsrecht des Sprechenden oder der Autorin des Forumsbeitrags her zu denken und übrigens auch nicht primär vom Unterhaltungserleben der Zuschauerin oder des Lesers. Stattdessen sollte Zivilität gerade in wissenschaftsinternen Auseinandersetzungen, aber auch darüber hinaus, vor allem vom Adressaten, von der Empfängerin der Botschaft her gedacht werden. Diese sollen ja zuhören und hinhören, nicht auf Durchzug schalten oder das Terrain der Auseinandersetzung wechseln. Offenes, verstehensorientiertes Zuhören zu begünstigen – und zwar auch dann, wenn die Botschaft Kritik übt – ist aus meiner Sicht das Kernziel von Zivilität und deshalb auch die vornehmste Aufgabe redaktioneller Bearbeitung.

Was aber tun, wenn ich als Zuhörer doch einmal einer Provokation durch bewusste Regelverletzung ausgesetzt bin? Für ein Ideenforum, wie ich es mir vorstelle, ist dann Langmut gefordert: Auch wenn es noch so schwerfällt, ist der Verzicht, Bosheit oder Unwahrhaftigkeit zu unterstellen, gepaart mit einer elegant formulierten Zurückweisung den epistemischen Zielen meist am zuträglichsten. Das bringt mich zur allgemeineren Frage der Stilistik von Ideenforums-Beiträgen. Sollen diese mit minutiösen Belegen aufwarten wie Journal-Aufsätze oder eher freihändig argumentieren wie Essays? Ich habe mich in diesem Beitrag gegen Belege und Fußnoten entschieden, halte das aber nicht für zwingend. Ich kann mir in einem Ideenforum sowohl essayistische als auch strenger wissenschaftliche Formate vorstellen. Das muss nicht unbedingt normiert werden. Sollen Beiträge für das Ideenforum kommissioniert werden oder eigeninitiiert sein? Auch hier finde ich beides legitim. Zudem meine ich, dass sowohl Initialbeiträge als auch Repliken und Gegenrepliken ihren Platz haben. Auch wenn ich mich oben für Initialbeiträge ausgesprochen habe, die bereits einen Teil der Diskussion durch die Zusammenarbeit potenzieller Kontrahent*innen inkorporieren, enthalten die meisten Repliken darüber hinausgehende Ideen, die nicht abgedrängt werden sollten.

Bleibt schließlich die Frage, ob Forumsbeiträge einem Reviewprozess unterzogen werden sollten oder ob eine redaktionelle Bearbeitung genügt. Hinter dieser Frage lauert gleich die nächste, nämlich ob der Reviewprozess auch zur vollständigen Ablehnung von Forumsbeiträgen führen darf. Artikel 5 des Grundgesetzes mit der wunderbar lapidaren Formulierung „Eine Zensur findet nicht statt“ würde wohl eher dagegen sprechen, wenn Forumsbeiträge als Meinungsäußerungen gesehen werden. Aber da es mir, wie gesagt, weniger um die Subjektivität der Meinungsäußerung geht als um die epistemische Kraft der Ideen, spricht für mich vieles dafür, Ideenforums-Beiträge ähnlich wie normale Journalbeiträge vor der Veröffentlichung dem wohlwollend-kritischen Urteil der Adressierten und Sachkundigen auszusetzen. Und das bedeutet natürlich in der Konsequenz, dass so ein Beitrag im schlechtesten Fall auch abgelehnt werden kann. Im anderen Fall wird er schlicht besser.

Meine Vorschläge für ein an Lernprozessen und Zusammenarbeit orientiertes Ideenforum weisen natürlich gewisse Nähen zur Deliberationstheorie auf, aber eben einer durch die Konzepte der epistemischen Emotionen und des verstehenden Zuhörens bereicherten und revidierten Theorie öffentlicher Deliberation. Die Vorschläge hängen aber nicht am Gängelband dieser Theoriegrundlage. Sie erfordern keine Beitrittserklärung zum deliberativen Paradigma, sondern sind gedacht als flexible, modulare Komponenten eines neuen, konstruktiveren Verständnisses von wissenschaftlicher Kontroverse genau im Zwischenfeld zwischen Fachpolitik und empirisch-theoretischem Kerngeschäft. In diesem Sinne bin ich gespannt, was die implizit und explizit Adressierten und was das mitlesende Publikum dazu zu sagen haben. Ich bin neugierig auf den Ideenaustausch und freue mich aufs Zuhören.