Anders als die über 350 Fachkolleg*innen, die mit dem Offenen Brief gegen die Veröffentlichung des Beitrags protestiert haben und ihn offenbar vor allem aufgrund von als diffamierend empfundenen Reizwörtern unerträglich finden, meine ich, dass man sich mit der Position von Rudolf Stöber auseinandersetzen kann. Ich referiere zunächst seine aus meiner Sicht wichtigsten Argumente, ohne diese Reizwörter in den Mittelpunkt zu stellen:
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1.
Stöber wendet sich offenbar nicht gegen gendergerechte Sprache an sich, sondern nur gegen Genderstern und Binnen‑I. Diese seien „derzeit sprachnormwidrig“ (1), als wichtigste Instanzen führt Stöber den zwischenstaatlichen „Rat für deutsche Rechtschreibung“ und mit Abstrichen den Duden an. „Und gegen andere Formen der ‚gendergerechten Sprache‘ wende ich mich keineswegs.“ (S. 5)
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2.
Hinter der Sprachnormverletzung stehe „das Bemühen, die Emanzipation voranzutreiben“ (S. 3) – doch wer „bewusst sprachpolitisch eingreift, um via Sprache Denken zu lenken, manipuliert“ (S. 4). Dies sei gefährlich und weise eine Nähe zu totalitären Systemen auf, die ebenfalls „Gedankenmanipulation via Sprachlenkung“ betrieben hätten und „Menschen zu ihrem Glück zwingen“ wollten – so etwas ende „in der Regel mit der Aufrichtung von Guillotinen“ (ebd.). Es sei der „heraufdämmernde, wachsende Illiberalismus“, den er „fürchte“ (S. 3).
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3.
Zudem führten Gender-Stern und Binnen‑I vermutlich nicht zu realer, „wünschenswerter Emanzipation“ und dazu, „reale Diskriminierungen […] aus der Welt zu schaffen“, sondern lediglich zur Beschädigung der „Institutionen Schrift und Sprache“ und zur „Polarisierung der Gesellschaft“ (S. 5).
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4.
Stöber fordert verstärkte Forschung zu der Frage „ob Gender-* und Binnen‑I bei den Rezipienten so ankommen, wie sie wirken sollen“. „Man sollte empirisch prüfen, wer auf generische Pluralbildung und wer auf Gender-Stern und Binnen‑I empfindlich reagiert.“ (S. 8). Er vermutet, „dass das Gendern die Mehrzahl der Bevölkerung kaum interessiert“ und es „außerhalb bestimmter Milieus eher auf Ablehnung stoßen wird“ (S. 9).
Ich bin, wie gesagt, kein Geschlechterforscher und auch kein Sprachforscher, allerdings an Fragen von Ideologie, Manipulation, Framing und Medienmisstrauen (Stichwort „Lügenpresse“) sehr interessiert. Vor diesem Hintergrund möchte ich Stöbers Argumentationsgang, der nicht immer klar und nachvollziehbar ist, wie folgt kritisieren:
Der zentrale Vorwurf, den Stöber den Verfechter*innen der gendergerechten Sprache macht, ist der der „Manipulation“ und der „Ideologie“ (zwölfmal kommt „manipul“ im Text vor, neunmal „ideolog“) – doch diese Begriffe bestimmt er nicht näher. Hätte er dies (auch für sich) geklärt, hätte dies möglicherweise zu einer stringenteren Argumentation geführt. Ich nehme an, er hängt (trotz einer Marx-Referenz an anderer Stelle) nicht dem Marxschen Verständnis von Ideologie als „notwendig falschem Bewusstsein“ im Kapitalismus an, sondern neigt eher dem Verständnis von Karl Popper zu: Dieser kennzeichnet „politische Ideologien wie den Faschismus oder Stalinismus durch ihren totalitären Charakter, der grundlegend wahrheitsverleugnend, mythenbildend und diskriminierend gegenüber konkurrierenden Vorstellungen ist“ (Amlinger 2018, S. 183). Eine solche explizite Begriffsdefinition aber wirft Fragen auf, die Stöber nicht beantwortet: Welche Wahrheiten werden verleugnet, welche Mythen werden gebildet, welche konkurrierenden Vorstellungen werden wie genau diskriminiert? So bleibt Stöbers Assoziationskette vom Ideologie-Vorwurf bis zur „Guillotine“ reichlich vage. Auffällig ist übrigens, dass ihm beim Thema gefährliche Ideologien ausschließlich Kommunismus und Faschismus bzw. Nationalsozialismus einfallen. Stöber vergisst, dass auch die dritte bedeutende politische Ideologie des 19. und 20. Jahrhunderts, der Liberalismus bzw. Neoliberalismus, in Sachen Menschheitsbeglückung mithilfe von personeller und struktureller Gewalt sowie ideologisierter Diskurse und Begriffe nicht unbeleckt ist – man denke an die neoliberalen „Schock-Therapien“ in Krisenländern und die Zusammenarbeit entsprechender Wirtschaftsideologen mit Folterdiktaturen und Besatzungsmächten (vgl. Klein 2009) sowie an organisierte Think-Tank-Kampagnen zur Beeinflussung des öffentlichen Diskurses, um freie Märkte zu naturalisieren und die Privateigentumsordnung, Sozialstaatsabbau, Privatisierungen und Deregulierungen mit individueller Freiheit zu verschweißen (vgl. Walpen 2004; Chamayou 2019).
Auch eine Klärung von Stöbers Manipulationsbegriff wäre mehr als ein akademisches Glasperlenspiel. Der Begriff „Manipulation“ (französisch etwa „Handhabung“ oder „Bearbeitung“) bezeichnet laut Elsen (2008, S. 447) allgemein „das Beeinflussen des Verhaltens eines Gegenübers zum Nutzen des Manipulators“, und zwar unabhängig davon, ob dies bewusst oder unbewusst geschieht und ob die Beeinflussung erkannt wird oder nicht. Daneben gibt es „auch die enge Auffassung von Manipulation als Lenkung durch bewusste Beeinflussung, die nicht erkannt wird“ (ebd., S. 448). Nun wäre es spannend, ob Stöber den „Sprach- und Gedankenmanipulateure[n]“ (S. 4) verdeckte sprachpolitische Operationen vorwirft, ob sie also die Gesellschaft heimlich „indoktrinieren“ (S. 4) oder mit offenem Visier, transparent und herrschaftsfrei-diskursiv agieren. Ich selbst fühle mich jedenfalls nicht indoktriniert; ich habe eher den Eindruck, dass mit gendersensibler Sprache nicht Manipulation, sondern Edukation betrieben wird, also „die gezielte Beeinflussung zum Nutzen des Gegenübers“ (Elsen 2008, S. 447). Mit einer solchen Begriffsexegese taucht die Frage auf, wem gendergerechte Sprache eigentlich nützt: nur den bislang sprachlich unterrepräsentierten Frauen und queeren Menschen (nach dem Motto: deren Gewinn ist der Verlust der bislang Privilegierten) oder vielleicht der gesamten Gesellschaft – wenn nämlich Emanzipation dazu führt, dass bislang unterdrückte oder marginalisierte Gruppen sich frei entfalten können und deren Tatkraft und Kreativität am Ende alle bereichert. Dies scheint mir eine Frage der Wahrnehmung zu sein, die in verschiedenen Milieus ganz unterschiedlich beantwortet wird und die im öffentlichen Diskurs stärker diskutiert werden könnte.
Weiterhin verstehe ich nicht, ab wann für Stöber die Manipulation der Sprache eigentlich beginnt und ob der Sündenfall für ihn tatsächlich erst bei Gender-Stern und Binnen‑I passiert und nicht doch schon vorher, nämlich bei jeglicher Form gendersensibler Sprache, die aus einer Reflexion über sprachliche Repräsentationsverhältnisse resultiert. Stöber bekennt einerseits, dass er „für die historisch gewachsene Sprache plädiert“ (S. 6), und verteidigt es, dass wir „nicht über jedes Wort nach[denken], das wir sagen“ (S. 4). Andererseits schreibt er, offenbar aus Rücksicht auf Frauen, von „Kolleginnen und Kollegen“ (S. 4) und „Rezipientinnen und Rezipienten“ (S. 8). Böser Verdacht: Manipuliert Stöber hier selbst? Trifft ihn der eigene Vorwurf?Footnote 2 Oder ist Manipulation einfach ein ungeeigneter Analysebegriff, wenn es um das Anliegen geht, vor dem Sprechen und Schreiben einmal nachzudenken? Zudem: Als Historiker, der „für die historisch gewachsene Sprache plädiert“, müsste er sich auch vorstellen können, dass er zurzeit vielleicht einen historischen Wachstumsprozess der Sprache miterlebt, in dem sich unter vorübergehenden Sprachnormverletzungen neue Normen etablieren, die ein Historiker in hundert Jahren als Teil der historisch gewachsenen Sprache ansehen wird.
Beinahe rührend finde ich auch, wie Stöber von Wording und Framing spricht: „Die Diskussion um Wording und Framing anlässlich des ARD-Gutachtens von Elisabeth Wehling […] zeigt, dass wir längst auf der schiefen Ebene der Manipulation stehen und wo die Sprache zu rutschen beginnt“ (S. 4). Framing und Wording als schlimme Techniken der Manipulation – als ob Stöber nicht selbst auch Rahmen aufspannen und Begriffe mit bestimmten Konnotationen verwenden würde (und ich natürlich auch). Framing ist ein notwendiger und unauslöschlicher Bestandteil aller sprachlichen Kommunikation – das hätte Stöber bei Wehling (2016) nachlesen können oder auf netzpolitik.org, wo Wehlings ARD-Gutachten veröffentlicht wurde (vgl. Beckedahl und Dobusch 2019).
Dies wäre meine Entgegnung – als Laie auf dem Gebiet des eigentlichen Themas. Welch Steilvorlage müsste der Text dann erst sein für eine Replik aus berufenem Munde, von feministischen Kommunikationswissenschaftler*innen und Geschlechterforscher*innen! Welch dankbare Gelegenheit, hier diskursiv einzusteigen, Stöbers Argumente zu entkräften und die eigene sprach-, ideologie- und herrschaftskritische Perspektive zu entfalten! Das ultimative Manifest mit den stärksten Argumenten für gendergerechte Sprache (auch solche, die die Normen des Rates für deutsche Rechtschreibung verletzen mag): Ich hätte es gern in der Publizistik gelesen.