Im Mittelpunkt der Forschung und öffentlichen Diskussion zu Nutzerkommentaren stehen vor allem Hasskommentare und mangelnde Diskursqualität. Mit ihrer Dissertation will Anne Mollen diese Perspektive erweitern und einen induktiven Blick auf die Praktiken des Kommentierens werfen. Die Arbeit ist am Bremer ZeMKI entstanden und verortet sich im Paradigma der praxeologischen Mediatisierungsforschung. Die forschungsleitende Frage lautet, wie das Kommentieren „digitale Räume“ an der Schnittstelle von Kommentierpraktiken und Kommentier-Interfaces konstituiert (S. 7). Im Laufe des Buches und spätestens im gelungenen empirischen Teil klärt sich auf, was damit konkret gemeint ist: Mollen untersucht mit qualitativen Inhaltsanalysen einerseits, welche Normen und Ansprüche die Betreiber (von Nachrichtenmedien und Blogs) an Kommentarbereiche stellen und wie diese in Vorgaben und technische Möglichkeiten für die NutzerInnen „eingeschrieben“ werden. Andererseits geht es um die Frage, wie NutzerInnen in diesem Rahmen zu einem bestimmten Thema kommentieren und das Thema für sich bearbeiten. Als Beispiel wurde die Eurokrise gewählt.

Im Theorieteil wird zunächst kurz die Geschichte des Kommentierens im Internet dargestellt, bevor die groben Forschungslinien zu Nutzerkommentaren in der Kommunikationswissenschaft aufgearbeitet werden. Als Desiderat macht Mollen aus, dass bislang eine dialektische Perspektive auf Kommentare weitgehend fehlt, in der die Anbieter von Kommentarbereichen ebenso wie die kommentierenden NutzerInnen berücksichtigt werden. Dabei wird explizit ein induktiver Anspruch formuliert. Es geht also darum, die gesamte Bandbreite des Kommentierens zu untersuchen und nicht nur problematisches Kommentierverhalten. Das ist begrüßenswert, weil die NutzerInnen ernst genommen werden und ihre tatsächlichen Handlungen in den Mittelpunkt rücken. Mit dieser Offenheit lässt sich vermutlich besser verstehen, was Menschen in Nutzerkommentaren eigentlich tun und zum Ausdruck bringen, als wenn Kommentare ausschließlich an unerreichbaren Diskursidealen gemessen werden. Einzig: In der Forschung ist diese Perspektive nach meinem Eindruck nicht so unterrepräsentiert, wie hier behauptet wird. Es gibt es eine ganze Reihe an (gerade auch qualitativen) Studien, die sich der Frage widmen, warum Menschen eigentlich kommentieren (oder nicht) und wie sie damit aktuelle Ereignisse aushandeln. Daher überrascht es, dass diese Ergebnisse hier kaum Eingang finden.

Die theoretische Basis der Arbeit orientiert sich an vier theoretischen Zugängen: dem Domestizierungsansatz, dem Konzept der Affordances, der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) sowie der Praxistheorie von de Certeau. Vor allem der Domestizierungsansatz und die ANT werden jedoch kaum systematisch mit den anderen Ansätzen verbunden und sind wohl eher als Hintergrundfolie zu verstehen, denn sie spielen für die empirische Untersuchung später keine erkennbare Rolle mehr.

Im zweiten Teil der Arbeit werden das methodische Vorgehen und die Ergebnisse der Inhaltsanalysen präsentiert. Untersucht wurden die Kommentarbereiche von insgesamt 20 reichweitenstarken Blogs und journalistischen Nachrichtenwebsites sowie Facebook-Seiten aus vier europäischen Ländern und von europaweit tätigen Medien (etwa Spiegel Online, Bild, der Standard, Libération und The Guardian). Um diese Medien auszuwählen, wurde ein Webcrawling durchgeführt und anschließend in Netzwerkanalysen die am meisten verlinkten Nachrichten-Websites und Blogs der jeweiligen Länder identifiziert. Das Vorgehen ist insgesamt überzeugend, an einigen Stellen aber nicht ganz nachvollziehbar dokumentiert (zum Beispiel wird der Untersuchungszeitraum nicht genannt).

Der Ergebnisteil nimmt den Löwenanteil des Buches ein und hält eine ganze Reihe spannender Erkenntnisse bereit, von denen hier nur einige herausgegriffen werden können. Die Analyse der Kommentarbereiche („Interface Analysis“) gibt einen wichtigen Überblick über die verschiedenen Formen von Kommentarbereichen und die jeweiligen Ansprüche und Intentionen der Betreiber. Mollen leitet vier Typen ab: „informative“ Kommentarbereiche fordern die NutzerInnen vor allem dazu auf, zusätzliche Informationen zum Artikel beizutragen (z. B. Spiegel Online). „Diskursive“ Kommentarspalten fördern stärker den Austausch zwischen den NutzerInnen und die Bildung einer Community (z. B. der Standard), während „confined Interfaces“ (Blogs) kaum Regeln haben und wenig Funktionen für die NutzerInnnen bieten. Facebook-Kommentarbereiche werden durch ihre flüchtigen Interaktionen als „volatile Interfaces“ eingeordnet. Insgesamt überzeugt dieser Teil mit einer starken Strukturierung der Ergebnisse und einem hohen Abstraktionsgrad.

Spannender noch ist jedoch die qualitative Inhaltsanalyse der Kommentare selbst („Interaction Analysis“). Mollen zeichnet ein plastisches, reichhaltiges und lebensnahes Bild der vielfältigen Interaktionen in Nutzerkommentaren. Dabei wird deutlich, wie stark Kommentarbereiche als soziale Räume genutzt werden, in denen Menschen small talk betreiben, miteinander scherzen und streiten, ebenso aber die Nachrichtenthemen bearbeiten und ausdiskutieren. Auch hier überzeugt die nachvollziehbare Typologie der KommentiererInnen vom „supporter“ bis hin zum „attacker“.

Insgesamt bietet der Band einen faszinierenden Einblick in den „Alltag“ der Kommentarbereiche und eine frische Perspektive jenseits des Problemdiskurses rund um Nutzerkommentare. Die Analyse legt viele Anknüpfungspunkte für weiterführende Forschung offen und gerade die Typologien sind auch für Anbieter von Kommentarbereichen hoch relevant, um Regeln und Funktionen ihrer eigenen Kommentarspalten zu planen und Modi des Umgangs mit unterschiedlichen KommentiererInnen zu finden.