In Zeiten, in denen allerorts die Individualisierung der Gesellschaft proklamiert wird, strebt der Essener Kommunikationswissenschaftler Robin Kurilla eine Revitalisierung des soziologischen Gruppenbegriffs an. Bereits im Titel seiner Abhandlung wird das ambitionierte Vorhaben des Autors deutlich. Ziel ist nicht nur die Entwicklung einer Theorie der Konstruktion von Gruppenidentitäten, die verschiedene Ansätze in einem einheitlichen Begriffsinstrumentarium vereinigt, sondern auch der Entwurf einer allgemeinen Sozialtheorie.

Kurilla spricht auf gut 300 Seiten ein zentrales Problemfeld der sozialwissenschaftlichen Identitätsforschung an: Die „soziale“ oder „kommunikative“ Konstruktion von (Gruppen‑)Identitäten wird zwar häufig konstatiert, die daran beteiligten präkommunikativen und kommunikativen Prozesse bleiben bisher jedoch weitgehend unbestimmt. Hier setzt der Autor an und nimmt zunächst eine grundlagentheoretische Diskussion der Begriffe Kommunikation und Beobachtung vor, wobei ersterer sich durch die Zuschreibung von Mitteilungsabsichten von letzterem unterscheidet. Es folgt eine Definition der „Gruppe“ als sozial handlungsfähiger Einheit, bestehend aus mindestens zwei Mitgliedern, die eine Identität besitzt. Im Anschluss daran wird unter Bezugnahme auf verschiedene AutorInnen ein an Mead orientiertes Identitätskonzept entwickelt. Die Heterogenität der diskutierten Ansätze in diesem grundlagentheoretischen ersten Teil zeugt von einer breiten Theoriekenntnis des Autors. In Anlehnung an Heideggers Unterscheidung von zuhanden/vorhanden nimmt Kurilla schließlich die für ihn zentrale Abgrenzung von praktischen und vergegenständlichten Identitäten vor. Diese Trennung mag mit einer Komplexitätssteigerung einhergehen, erlaubt es aber auch, präreflexive Prozesse der Identitätskonstruktion zu fassen und die Rolle impliziten Wissens zu berücksichtigen.

Entsprechend der schon bei Marx zum Einsatz kommenden Produktionsmetapher, deren materialistische Konnotationen vernachlässigt werden, begreift Kurilla Gruppenidentitäten folglich als das Ergebnis (prä-)kommunikativer Prozesse, deren Prozesskomponenten aus Umwelten gewonnen werden. Diese Umwelten sind wiederum selbst als Korrelate sozialer Prozesse zu verstehen. Sie wirken zugleich ermöglichend wie limitierend auf Identitätskonstruktionen. Insgesamt werden acht solcher Prozessumwelten konzipiert. Kurilla schafft so die Möglichkeit, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu zerlegen und sie wissenschaftlicher Analyse zugänglich zu machen. Berücksichtigt werden muss allerdings, dass die Trennung der Umwelten lediglich analytischer Art sein kann. Als relevante gesellschaftliche Teilbereiche identifiziert Kurilla unter anderem technische, psychisch-personale, rechtlich-institutionelle, semiotisch-mediale und diskursive Umwelten. Dabei werden die in der sozialwissenschaftlichen Identitätsforschung als zentral für die Identitätskonstruktion deklarierten Themenkomplexe in großer Breite aufgegriffen. Zugleich wird eingeräumt, dass es je nach Erkenntnisinteresse nötig werden kann, zusätzliche Umwelten zu entwickeln, andere wiederum zu vernachlässigen. Als „Sonderumwelt“ (S. 131) führt Kurilla dann auch auf Märkten zirkulierende kollektive Identitäten ein, die logisch auf einer anderen Ebene angesiedelt sind als Gruppenidentitäten und als Bausteine in jene einfließen. Aus fachlicher Perspektive hätte es sich hier angeboten, die Rolle öffentlicher, massenmedial vermittelter Kommunikation im Prozess der Gruppenidentitätskonstruktion stärker auszuarbeiten. Insbesondere inwiefern diese in die verschiedenen Umwelten eingebettet ist, wäre dabei von Interesse gewesen. Auch auf eine nähere Beschreibung der Relationen zwischen den verschiedenen Umwelten wird verzichtet, ebenso wie auf entsprechende Vorschläge zur Operationalisierung.

Im letzten Teil wird anhand vielfältiger Beispiele illustriert, wie kollektive und Gruppenidentitäten unter Rückgriff auf die sozial vorfabrizierten Rohmaterialien der verschiedenen Umwelten kommunikativ konstruiert werden. Kurilla leistet dabei auch einen Beitrag zur aktuellen Debatte um die Identitätspolitiken sozialer Bewegungen und macht in diesem Zusammenhang auf die wechselseitige Beeinflussung von Wissenschaft und Alltagswelt aufmerksam. Anhand von Ritualen, Konsumprodukten und Humor wird exemplarisch die Wechselwirkung von Praxis und vergegenständlichter Identität erörtert. Unter Verweis auf Prozesse der Inklusion, Exklusion und Grenzziehung wird außerdem nachvollziehbar dargestellt, dass Gruppenidentitäten auf Differenzen basieren.

Gelungen ist das Schlusskapitel, in dem der Autor seine theoretischen Überlegungen bündig resümiert und dabei auch die Grenzen seiner Konzeption reflektiert. Zuletzt geht er, wenn auch nur knapp, auf methodische Implikationen ein und empfiehlt eine ethnografische Herangehensweise in Form teilnehmender Beobachtung. Alternativ würde sich aber auch die Analyse natürlich-situierter oder erfragter Narrationen anbieten.

Kurilla ist es gelungen, verschiedene Stränge der Identitäts- und Gruppenkommunikationsforschung aufzugreifen und sinnvoll in einem einheitlichen Modell zu integrieren. Sein Theorieentwurf zeichnet sich durch einen vergleichsweise hohen Abstraktionsgrad aus, der es prinzipiell erlaubt, das Produktionsmodell an verschiedenste Gegenstandsbereiche heranzutragen und hinsichtlich unterschiedlicher Fragestellungen zu spezifizieren. So bietet das Modell einen breiten theoretischen Rahmen, auf dessen Grundlage sich nicht nur Inter- und Intragruppenkommunikation, sondern beispielsweise auch Prozesse der Massenkommunikation im Kontext der Konstruktion von Gruppenidentitäten analysieren lassen. Auch medial verbreitete Angebote kollektiver Identitäten können hiermit theoretisch gefasst und hinsichtlich ihrer Relevanz für Gruppenidentitäten untersucht werden. Der Autor liefert ein umfangreiches heuristisches Grundgerüst, dessen praktischer Nutzwert sich allerdings erst in der empirischen Anwendung beurteilen lassen wird. Aufgrund der mitunter sprachlich schwierigen Zugänglichkeit und der Komplexität des Gegenstandsbereichs sei das Werk primär Dozierenden der Kommunikationswissenschaft und sozialwissenschaftlicher Nachbardisziplinen sowie Studierenden in höheren Fachsemestern empfohlen.