Mit „Simulative Souveränität – eine Soziologie politischer Ordnungsbildung“ legt Andrea Kretschmann eine in mehreren Hinsichten umfassende Kultursoziologie staatlicher Praxis vor, deren Entwicklung hin zu einer „Simulativen Souveränität“ sie eindrucksvoll am Gegenstand simulativer Trainingstechniken der Polizei entwickelt.

Das Buch im Umfang von 384 Seiten, das im Jahre 2020 an der LMU München als Habilitationsschrift vorgelegt wurde, ist im März 2023 bei Konstanz University Press erschienen und auch im Open Access verfügbar. Die zentrale These, die gleich zu Beginn formuliert und erläutert wird, lautet, dass Souveränität simulativ geworden ist (S. 7). Simulative Souveränität betrifft in erster Linie „polizeiliche enactmentsFootnote 1 für das policingFootnote 2 von Protest in Europa“, wenn die Polizei in ihren Trainings „in verteilten Rollen und mit großem Aufwand“ simulierte Protestszenen und Demonstrationen (S. 7) durchspielt. Das Konzept einer „simulativen Souveränität“ hat zugleich aber auch einen gesellschaftstheoretischen Anspruch: es ist die staatliche Souveränität, die parallel und in Abhängigkeit zu simulativen Trainingstechniken der Polizei ebenfalls simulative Anteile aufweise.

„Denn in welcher Form ‚der Souverän‘ in Protesten aktiv wird und wofür er darin stehen soll – mithin, welche Formen politischer Öffentlichkeit generiert und welches Verhältnis von Staat und Bürger:innen etabliert wird, ergibt sich aus dem simulierten Wechselspiel von Protestierenden und Polizei“ (S. 8, Hvg. d. A.).

Kretschmanns Programm ist somit eine kulturtheoretisch verstandene politische Soziologie (vgl. S. 8, S. 37), die auf die ethnographische Beschreibung der „präformative[n] Effekte auf die politische Gestaltung bzw. Rekonfiguration des Sozialen“ (S. 8) abzielt. Zu diesem Zwecke stützt sich die Arbeit „auf eine umfangreiche Ethnografie einer Reihe von Polizeien in Europa und deren Fortbildungen für ‚public order policing‘“ (S. 33). Dabei ist die Simulation gegenüber „weiter bestehenden, althergebrachten Verfahren der Herstellung von [staatlichem] Handlungswissen wie etwa der Statistik“ (S. 36; vgl. S. 21) im Anschluss an Baudrillard „eine Form der Neuschreibung des Realen“ (ebd.), bei der „das Simulierte (in der Form einer simulativen Antizipation) das präformiert, was als reale Souveränität wünschenswert erscheint“ (S. 22). Nach dieser ersten Begriffseinführung wird jedoch schnell klar, dass Kretschmann den Baudrillard’schen Simulationsbegriff durch den vielschichtigeren, wenn auch schillernderen Begriff der Assemblage in Anlehnung an Deleuze und Guattari entscheidend anreichert: Eine Assemblage ist „Teil der Staatsform“, die „eine vielschichtige Ansammlung von Praktiken, Materialitäten und Diskursen“ umfasst. „Assemblagen vermögen es […], De- und Recodierungen sozialer Phänomene vorzunehmen, Neues zu erschließen und hergebrachte soziale Phänomene zu überbauen“ (ebd.). Damit soll es offenbar gelingen, die „vielfach als instabil und fluide charakterisierte Verfasstheit der Spätmoderne analytisch zu berücksichtigen, ohne sich von einem Fokus auf strukturelle Faktoren zu verabschieden“ (ebd.). Mit der Zusammenfassung kategorial heterogener Phänomene und auch widerstreitender Prozesse zu einer Assemblage, soll die Grundlage für das weitere Verständnis der Argumentation gelegt werden – in Frage stehen immerhin die „Möglichkeitsbedingungen des Politischen in Gegenwartsgesellschaften“ (ebd.). Die empirisch dichten Beschreibungen, die Kretschmann in ungewohnt hoher Dimensionsdichte mit Bezug auf Aspekte polizeilichen Simulierens vorbringt, können schnell darüber hinwegtäuschen, dass mit einer so verstandenen Kultursoziologie das Verhältnis von Gesellschaft, Demokratie und Staatlichkeit thematisiert und ein gesellschaftstheoretischer Bezug postuliert werden können soll. Die Simulation soll als Paradigma der späten Moderne gelten (vgl. S. 334 ff.). Die Arbeit möchte damit dezidiert „unterschiedlichste Relationen von Mikro‑, Meso- und Makrophänomenen sowie zahlreiche Zwischenebenen in den Blick […] nehmen“ (S. 24). Zeitdiagnostisch gestützt wird die These eines Entwicklungsschubs hin zu einer breitbandigen simulativen Souveränität, die man seit den 1950er-Jahren in Form einer heterogenen Vielzahl von Dynamiken beobachten kann (S. 25, S. 334 ff.).

1 Inhalt

Im ersten Kapitel des Buches ist nicht immer deutlich, was noch Ankündigung und was schon entfaltete Argumentation ist. Die Vorteile der insgesamt ‚spiralförmigen‘ Argumentation des Werkes, die das Feld der Simulationsassemblage immer wieder erschließt und in der Auseinandersetzung mit dem Material unterschiedlich perspektiviert, überwiegen ihre Nachteile bei weitem (vgl. S. 37). In den Kapiteln 2 bis 8 werden „entlang einer kreisenden Bewegung […] die verschiedenen Bestandteile der Simulationsassemblages“ nachgezeichnet (ebd.). Das zweite Kapitel eröffnet mit der in diesem Feld hoch aufgeladenen Frage, wie sich Simulationspraxen der polizeilichen Staatsgewalt im Rahmen einer soziologischen Studie empirisch bzw. ethnographisch überhaupt untersuchen lassen (S. 44). Der Zugang zu diesem Feld sei alles andere als selbstverständlich und müsse erst in mühsamer Anbahnung über verschiedene Instanzen hinweg hergestellt werden (S. 67 ff.). Forschende, die einen hinreichenden Zugang zu diesem bislang verborgenen Feld herstellen möchten, sollten grundsätzlich eine „‚polizeifreundliche‘ Einstellung mitbringen“ (S. 45). Man betrete immer auch „eine hochgradig politisierte Sphäre“ (ebd.). In der Auswahl der untersuchten Länder (England, Frankreich, Deutschland und Nordirland) zeigen sich unterschiedliche Traditionen des protest policing (S. 33). Damit hat Kretschmann bewusst eine empirische Auswahl getroffen, „über die sich das Phänomen der simulativen Souveränität für Europa in seiner ganzen Bandbreite darstellen lässt“ (S. 34). Im dritten Kapitel entfaltet Kretschmann die Dimensionen der spezifischen Materialität und Räumlichkeit polizeilicher Handlungen. Polizeiliche Räume werden regelrecht als Schauplätze verstanden, die inszensiert sind und zu theatralischen Zwecken genutzt werden (S. 38). Eindrücklich beschrieben sind Simulationen europäischer Städte und Stadtausschnitte (S. 97 ff.). Im vierten Kapitel untersucht Kretschmann die textuelle wie narrative Beschaffenheit polizeilicher Simulationen (Plot-Strukturen und worst case Szenarien). Hier verbinden sich polizeilich konstruierte Räume mit den praktisch umgesetzten Szenarien („Skripte“), sodass deutlich wird, dass erst in der je feldspezifischen Triangulation die Rede von einer simulativen Souveränität (eines polizeilichen Handlungsfeldes) kann. In Kapitel 5 und 6 analysiert Kretschmann „enactments, in denen Polizist:innen sich um die Darstellung von Demonstrationen und Aufständen bemühen“ (S. 39). Die ‚Simulative Souveränität‘ gewinnt hier ihr Spezifikum in Form verschiedener (theatraler) Praktiken des Protests und des Aufstandes. Die Kapitel 7 und 8 stellen noch einmal eingehender heraus, dass sich die ‚Simulative Souveränität‘ „in eine Logik der Antizipation des Kommenden einschreibt, wie sie ursprünglich in militärischen Kriegssimulationen zu finden ist“ (S. 175). Zentral ist hier die sozialtheoretische Einbettung und kulturtheoretische Grundlegung der simulativen Souveränität. Hier will die Autorin zeigen, „wie die simulativen Formen in der späten Moderne eine neue Form von Staatlichkeit hervorbringen,“ die Kretschmann ‚simulative Souveränität‘ nennt (S. 40). Die neuartige staatliche Expressivität verdanke sich der Kulturalisierung von Staatlichkeit, die aber in ihrer „derzeitigen Ausprägung Protest in der Tendenz auf besonders schlagkräftige Weise an seinem Erscheinen hinder[e]“, so die zeitdiagnostisch starke These (S. 40).

2 Gesellschaftsanalyse?

Gesellschaftsanalytisch lässt die „Simulative Souveränität“ – notwendigerweise und teils schon im Hinblick auf ihren möglichen Umfang – einige Fragen offen. Zentral ist und bleibt die Frage, welcher gesellschaftsanalytische Zusammenhang zwischen Polizeitrainings und (simulativer) Staatlichkeit besteht, mit anderen Worten, worin die Verbindung zweier sehr unterschiedlicher Sinnverarbeitungsformen nun eigentlich genau besteht, wenn simulative Souveränität über die Trainings hergestellt wird und daraus wiederrum „reale, präformative Effekte auf die politische Gestaltung bzw. Rekonfiguration des Sozialen [entstehen]“ sollen (S. 8). „Sich maßgeblich auf kulturelle Mechanismen beziehend und somit eine Kulturalisierung von Staatlichkeit mitbedingend, zeige ich auf, dass diese eine neue Form staatlicher Expressivität begründen“ (S. 40, Hvg. d. A.). Sind es Parallelentwicklungen, eher Emergenzeffekte (dazu vgl. S. 297), Interdependenzunterbrechungen und ÜbersetzungsverhältnisseFootnote 3 oder gar kausale Wirkungen, die programmatisch in der Metapher der Assemblage zum Ausdruck kommen sollen? Vermittels von Assemblages sollen immerhin die vielschichtigen Interdependenzen der simulativen Souveränität erschlossen werden können. Allerdings ist die mit dieser Begriffswahl verbundene Einziehung bewährter Unterscheidungen der soziologischen Theoriebildung (etwa verschiedener Formen der Sinnverarbeitung) eher verdeckend als erschließend. Wenig aufschlussreich sind Formulierungen wie: „[W]elche Formen politischer Öffentlichkeit generiert [werden], ergibt sich aus dem simulierten Wechselspiel von Protestierenden und Polizei“ (S. 8, Hvg. d. A.).

Es ist dann nicht klar, woraus genau sich die Einheit der Simulation speist, die Staatlichkeit und Polizeitraining trianguliert. Es geht aus der Analyse nicht hervor, in welcher systematischen Rolle kulturelle Praktiken auf emergente Formen staatlicher Souveränität Bezug nehmen, diese ‚beeinflussen‘, ‚mit-bestimmen‘ oder gar ‚hervorbringen‘: „Staatlichkeit kommt so als eine Souveränität ins Spiel, die sich mittels einer simulierten Souveränität ausprobiert, vergewissert und herstellt, womit sie politische Ordnungen auf spezifische Weise (re)konfiguriert“ (S. 21, Hvg. d. A.).

Wenn Kretschmann demgegenüber von einem „Formwandel von Souveränität“ (S. 15) spricht, lässt sich dies durchaus als Hinweis dafür verstehen, dass die simulative Souveränität (des Staates) gegenüber der lokal spezifischen Simulation der Polizeien eine neue Form gewinnt und einen Wechsel des „Aggregatszustand[s]“ von Simulation impliziert (vgl. S. 21). Unübersichtlich bleibt aber, wie die Übergänge analysiert und behauptete Formwechsel tatsächlich berücksichtigt werden. Auch wenn die Untersuchung „nach der Funktionsweise, dem Charakter und der sozialen Bedeutung einer derart simulativen Souveränität“ fragt (S. 21), erfährt man wenig über das jeweilige Zusammenspiel von institutionalisierten und kulturell pluralisierten Wechselwirkungen einzelner, direkt oder indirekt betroffener gesellschaftlicher Teilbereiche. Es wirkt zuweilen, als ob polizeiliche Simulation allzu linear auf ihre externe Umgebung einwirke, indem sie (wenn auch auf mehreren Kanälen) den Weg für eine spezifische Perspektivierung des Politischen vorbahnt:

„Staaten bedürfen des Handlungswissens, um ihre Praktiken planvoll und vorausschauend anzulegen – ein Anliegen, das systematisch in der Moderne auftritt und staatliches Handeln seitdem begleitet […]. Die Simulationen der Polizeien im Bereich des public order policing,[…], stellen einen solchen Versuch der Herstellung von Handlungswissen dar“ (S. 297).

Differenzierungstheoretisch muss man hier doch eher einrechnen, dass es sich jeweils nicht um dasselbe Handlungswissen handeln kann, alleine schon, weil bereits die Identifikation des Handlungswissens standortgebunden ist. Wie der soziale ‚Sinn‘ über den Radius lokaler und „heterogene[r] Ensembles von Praktiken und Gegenständen der Simulationsassemblage“ (S. 138) hinausweisen und tatsächlich so transferiert werden soll, dass „sich die simulative Souveränität konstituiert“ (S. 138), wird am Ende nicht restlos klar. Kretschmann muss nicht nur voraussetzen, dass sich der Sinn von (polizeilicher) Simulation über mehrere Kaskaden des Transfers zwischen heterogenen sozialen Ordnungen hinweg als solcher aufrechterhalten lässt, sondern geht auch so weit, zu behaupten, dass es diese lokal wirksamen Simulationen seien, die selbst staatliche simulative Souveränität erzeugen.

Die Soziologie hat der Polizeiforschung (mit nur wenigen Ausnahmen) bislang eher wenig Beachtung geschenkt. Mit ihrer Arbeit gelingt es Kretschmann nicht nur die Polizeiforschung im Horizont grundlegender soziologischer Problemstellungen zu verankern. Man kann auch darüber nachdenken, welchen Beitrag dieses Buch zu einer politischen Soziologie leistet. Ganz sicher ist es hoch verdienstvoll, sich um die Phantasien zu kümmern, die auf Seiten der Exekutive im Modus der Simulation verfestigt und in den Rang des Realen geschoben werden. Aber wäre nicht demokratietheoretisch ‚die andere Seite‘ der Souveränität mit auf die Rechnung zu nehmen? Es überrascht, dass sich die Autorin angesichts der prominenten Rolle, die der außerparlamentarische Protest in ihrer Arbeit spielt, nicht z. B. mit der Gegenseite befasst, die etwa in Judith Butlers (2016) jüngst vorgelegter ‚performativer Theorie der Versammlung‘ paradigmatisch ist.Footnote 4 Am Ende hat Souveränität immer diese beide Seiten: die Exekutive, aber eben auch verschiedene Formen des allgemeinen Publikums als Basis oder als ‚Simulacrum‘ der Volkssouveränität.