Der gesellschaftlichen Mitte wird im öffentlichen Diskurs eine bedeutende Funktion zugeschrieben. Sie sei Garant für Stabilität, sorge für Wohlstand und schließe die meisten Menschen in Österreich ein. Gleichzeitig bringen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte die politisch wie gesellschaftlich bedeutsame Mitte unter Druck, ihr wird ein Schrumpfen attestiert. Dies führe, so Steffen Mau (2012) und Oliver Nachtwey (2016), zu einer Aufspaltung in eine obere und eine untere Mittelschicht und zu Polarisierung. Auch aktuell ist die Mitte Gegenstand politischer Ausverhandlungsprozesse in Österreich. Multiple Krisen wie die Corona-Pandemie und der Krieg Russlands in der Ukraine befeuern die Sorge vor einer Erosion der Mittelschicht und deren gesellschaftliche Folgen. Politische Maßnahmen werden derzeit nicht nur ergriffen, um jene zu unterstützen, die am stärksten betroffen sind, sondern sollen alle Menschen in Österreich entlasten. Das Credo: Die Teuerung sei bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen und müsse auch dort abgefedert werden.

Nun legen Laura Wiesböck und Roland Verwiebe mit ihrem Buch „Mittelschicht unter Druck“ erstmals eine umfassende multidisziplinäre Sammlung sozialwissenschaftlicher Analysen zur gesellschaftlichen Mitte in Österreich vor. Ausgehend von den Entwicklungen, die die Mitte heute unter Druck setzen, beschäftigen sich die Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven mit der historischen Entwicklung, dem Habitus, Einstellungen und anderen Merkmalen der österreichischen Mittelschicht und bieten auch sozialpolitische Stabilisierungs- und Verbesserungsvorschläge an. Der Band enthält theoretisch-konzeptionelle und empirische Beiträge sowohl von etablierten Wissenschaftler:innen als auch von Nachwuchswissenschaftler:innen. So kommen die Herausgeber:innen ihrem Anspruch, den blinden Fleck des Status quo der Mittelschicht im österreichischen Kontext (S. 5) erstmalig zu beleuchten, gelungen nach. Die vielfältigen Beiträge des Buches lassen sich zu drei thematischen Schwerpunkten sowie einzelnen Beiträgen zu spezifischeren Themen bündeln. Entlang dieser Struktur werde ich die Inhalte im Folgenden vorstellen.

Der Band beginnt mit einem historischen Blick auf die Entstehung der Mittelschicht in Österreich (S. 13 ff.) gefolgt von einer kritischen Diskussion des sozialwissenschaftlichen Konzepts der Mitte (S. 53 ff.), die zum Nachdenken anregt. Ein Thema, das in vielen Beiträgen aufgegriffen wird und Leser:innen durch das Buch begleitet, ist das Zugehörigkeitsgefühl bzw. die subjektive Identifikation mit der Mitte. Diese subjektive Vorstellung der objektiven Position im sozialen Raum drücke sich nach Barbara Rothmüller in Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängsten der Mittelschicht aus (S. 39). Der historische Beitrag von Therese Garstenauer zeigt auf, dass diese Angst nicht neu ist, sondern schon immer vorhanden war und der Mitte inhärent ist, während sich diese in einem ständigen Transformationsprozess befindet (S. 29). Die Idee der „Mitte“ als „beste“ Klasse zwischen sehr reich und sehr arm tauche bereits in der Antike bei Aristoteles auf (S. 17). Nach Garstenauer ist die Mitte aber „keine einheitlich zu bestimmende soziale Formation […], sondern vielmehr eine Identifikationsmöglichkeit, eine sinnstiftende Idee“ (S. 18). Historisch gäbe es bis heute eine undefinierte, aber „idealisierte Mitte“, die sich auch mithilfe von Sozialwissenschaften und Medien immer wieder neu erfinde (S. 29). Deren einzige Gemeinsamkeit sei die Abgrenzung nach unten und oben (S. 28), verknüpft mit der Angst vor sozialem Abstieg (S. 29) und fast alle fühlen sich ihr zugehörig. Der Beitrag von Anja Eder, Markus Hadler und Markus Schweighart zeigt, dass heute unterschiedliche Schichtungsmerkmale zur Aufwertung der eigenen Position (S. 236) und unterschiedliche soziale Referenzpositionen zur Nivellierung der eigenen Position nach unten herangezogen werden, sodass aus objektiven Positionen der Unter- sowie Oberschicht plausibel eine subjektive Zuordnung zur gesellschaftlichen Mitte möglich ist (S. 239). Rothmüller thematisiert die Auswirkungen der Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit zwischen Aufstiegshoffnung und Abstiegsängsten auf den kleinbürgerlichen Habitus. Sie bezeichnet „die mit Bewunderung, Verachtung und Scham affektiv aufgeladenen Aufstiegs- und Abstiegsvorstellungen […] als ‚signature fantasies‘ der Mittelklassen […], die ihr Denken, Fühlen und Handeln fundamental orientieren“ (S. 53). Konsequenzen des Scheiterns an Aufstiegsvorstellungen aufgrund zunehmender sozialer Ungleichheit können Schamgefühle oder die subjektive Überschätzung der eignen Klassenlage sein. Dass Menschen in der Mitte darauf häufig mit Ressentiments statt mit klassenübergreifender Solidarität reagieren, müsse jedoch auf spezifische historische Prozesse und Kämpfe zurückgeführt werden. Die widersprüchlichen Denk- und Handlungsmuster gründen demnach nicht notwendigerweise und zu allen historischen Zeitpunkten in Ressentiments gegenüber ökonomisch Benachteiligten.

Einen weiteren Themenblock des Buches bilden Beiträge, die den Einfluss von Faktoren wie Bildung, Geschlecht, Migration oder des Wandels der Berufsstruktur auf die Schichtzugehörigkeit bzw. Veränderung der Klassenlage untersuchen. Johann Bacher und Robert Moosbrugger prüfen in ihrem Beitrag die abnehmende Bedeutung von Bildung und geringere Bildungserträge in der Mitte. Sie kommen zu dem vorsichtigen Schluss, dass es in Österreich zunehmend schwieriger wird, höhere Bildungsabschlüsse auch in höhere berufliche Positionen zu übersetzen (S. 79 ff.). Im Einklang damit zeigt Arthur Buckenleib im Beitrag zu intergenerationaler Bildungsmobilität, dass untere Schichten von der Bildungsexpansion profitieren, während er eine steigende Tendenz der Vererbung akademischer Abschlüsse und einen sinkenden positionalen Wert von höheren Bildungsabschlüssen feststellt (S. 343 ff.). Eindeutig zeigt sich bei Bacher und Moosbrugger, dass in der Mittelschicht in den letzten Jahrzehnten geringere Bildungserträge erzielt wurden als in der Oberschicht, Spaltungstendenzen konnten sie hingegen nicht feststellen. In ihrer ländervergleichenden Untersuchung zeigen Bernd Liedl und Nina-Sophie Fritsch demgegenüber u. a., dass höhere Bildungsabschlüsse dennoch den Abstieg aus der Mittelschicht abfedern, während Migrationshintergrund die Wahrscheinlichkeit für die Zugehörigkeit zur Unterschicht erhöht und zur Oberschicht verringert (S. 159 ff.). Zentral ist auch der berufliche Kontext: Berufe mit steigendem Frauenanteil erhöhen die Risiken eines Abstiegs aus der Mittelschicht. Das gilt allerdings nicht in gleicher Weise für Männer und Frauen. Im Gegenteil, für Männer in feminisierten Berufen sind die Risiken zur Unterschicht zu gehören geringer und die Chancen zur Oberschicht zu gehören höher (S. 179). Katharina Mader und Erza Aruqaj beschäftigen sich mit der kaum diskutierten Rolle der Frauen in der Mittelschicht und wollen dadurch zu einer Öffnung der „Black Box“ Haushalt beitragen (S. 138). Sie machen sichtbar, dass das Konzept „Mittelschicht“ bislang die unbezahlt geleistete Arbeit von Frauen im Haushalt unsichtbar bleiben lässt, obwohl gerade diese für die Festigung der Mitte so zentral ist. Sie plädieren daher für dringend notwendige feministische ökonomische Analysen der Mittelschicht. Der Beitrag von Bernhard Riederer, Lena Seewann und Roland Verwiebe zeigt, dass insbesondere in größeren Städten sowohl Veränderungen am Arbeitsmarkt als auch Zuwanderung von Personen außerhalb Europas „zum Schrumpfen der Mittelschicht beitrugen“ (S. 204).

In verschiedenen Aufsätzen des Buches werden politische Orientierungen bzw. politisches Bewusstsein und Schichtzugehörigkeit thematisiert. So widmet Birgit Sauer ihren Beitrag eindrücklich dem selten beachteten Phänomen, dass autoritär-rechtspopulistische Parteien in Österreich Abstiegsängste in der Mitte maskulinisieren und so mobilisieren (S. 59 ff.). Verunsicherungen, enttäuschte Erwartungen und Ohnmachtsgefühle werden aufgegriffen und als „Krise der Männlichkeit“ umgedeutet, sodass die Politik für den „kleinen Mann“ als Identitätsangebot an eine imaginierte soziale Mitte, – das auch für mehrfachbelastete Frauen ansprechend ist – Wähler:innen mobilisiert. Clemens Danler und Michelle Noé-Nordberg stellen in ihrem Beitrag „Solidarität oder Abgrenzung?“ in Österreich u. a. Schließungstendenzen und weniger Aufstiege in die Mittelschicht als noch Anfang der 2000er-Jahre fest. Dafür beobachten sie eine Angleichung der Einstellungen zu wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen zwischen Aufsteiger:innen und jenen, deren Eltern bereits der Mittelschicht zugehörig waren, die sich nach Bildungsniveau wiederum maßgeblich unterscheiden (S. 245 ff.). Das Wahlverhalten in der Mitte weise nach Johann Gründl und Patricia Oberluggauer, keine klaren gruppenspezifischen politischen Präferenzen auf. „Im Gegenteil, Angehörige der Mittelschicht bleiben je nach Interessenlage anschlussfähig für schichtübergreifende Koalitionen mit den oberen und den unteren Einkommensschichten“ (S. 291). Katharina Kulesza und Marija Stanisavljević diskutieren das Vertrauen in politische Institutionen nach Migrationshintergrund (S. 301 ff.). Sie stellen fest, dass Personen mit Migrationshintergrund ein höheres Maß an Vertrauen in politische Institutionen aufweisen, insbesondere wenn sie ein politisches Mitspracherecht haben. Anders als bei Personen ohne Migrationshintergrund nimmt jedoch das Misstrauen bei Zugehörigkeit zur Oberschicht zu.

Über die drei vorgestellten Themenblöcke hinausgehend bietet der Sammelband noch spannende Beiträge zu spezifischeren Einzelthemen an. So beleuchtet Franz Höllinger das immer weiter in den Hintergrund tretende Phänomen der „Religiösität nach sozialer Schichtung“ (S. 111 ff.). Religiöse Praktiken erleben, wie vermutet, in der alltäglichen Lebensführung einen zunehmenden Bedeutungsverlust. Entgegen häufiger Annahmen führt allerdings nicht soziale Benachteiligung zu höherer Glaubensaffinität. Stattdessen findet sich religiöser oder magisch-esoterischer Glaube häufiger bei jenen, die sich sozial bevorzugt fühlen. Vor dem Hintergrund des erhöhten Leistungsdrucks durch Abstiegsängste setzt sich Victoria Nuculović mit der Frage nach Depressionsbetroffenheit in der Mitte auseinander. Dabei zeigt sich, dass die Berufsklasse der Hilfsarbeitskräfte in Österreich viel stärker von Depressionssymptomen betroffen ist als Bürokräfte, Führungskräfte oder Facharbeiter:innen. Sie kommt zu dem Schluss, dass „nicht die Angehörigen der Mittelklassen, sondern die ‚Unterprivilegierten‘ erhöhten psychosozialen Arbeitsbelastungen ausgesetzt sind, welche langwierig negative Auswirkungen auf die Gesundheit haben“ (S. 339). Im letzten Autor:innenbeitrag nehmen Judith Derndorfer und Karin Heitzmann wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen zur Stärkung der Mittelschicht in den Blick (S. 371 ff.). Wichtigen Veränderungsbedarf attestieren sie Österreich dem zu früh selektierenden Bildungssystem und der Steuer- sowie Familienpolitik, die negative Anreize für das Beschäftigungsausmaß und die Bezahlung von Frauen setzt.

In der Gesamtkonzeption des Sammelbandes werden nicht nur unterschiedliche Perspektiven in einem breiten Themenspektrum auf das Phänomen der Mitte in Österreich gelegt. Die einzelnen Beiträge nehmen auch aufeinander Bezug, ergänzen sich so thematisch eindrücklich und geben Anstoß zu wichtiger weiterführender Forschung. Abschließend leiten die Herausgeber:innen neun Thesen aus der gesammelten wissenschaftlichen Forschung zur gesellschaftlichen Mitte in Österreich ab, die einen Beitrag zur laufenden gesellschaftspolitischen Debatte und eine Anregung für weitere sozialwissenschaftliche Forschung zum Thema anbieten sollen. Eine Auseinandersetzung mit diesem Band lohnt sich.