1 Anthropologische Grundlagen der Ethik

Alle anthropologischen Ansätze und ganz explizit diejenigen einer Philosophischen Anthropologie haben eine ethische Dimension. Am tiefgründigsten hat das Max Scheler in seinen systematisierenden Arbeiten über eine „materiale Wertethik“ ausgeführt. Dort hat er – ähnlich den allerdings weniger ontologischen Bestimmungen Arnold Gehlens – auch grundlegende Differenzen der Sinnhorizonte behandelt, wobei er von einer Güter- und Zweckethik und einer Ethisierung des Erfolges ausging (Scheler 1966, S. 127–172). Auch nahm – wie später für Gehlen in seiner kritischen Studie „Moral und Hypermoral“ – der Eudaimonismus schon bei Scheler (1966, S. 294 ff. und 370–580) als dem Begründer der Philosophischen Anthropologie, einen wichtigen Platz ein, zumal dieser alle Personen- und Individuumsbegriffe davon abgeleitet hat.

Auch bei Helmuth Plessner ist die ethische Dimension nicht ausgespart. In seinem anthropologischen Hauptwerk „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ ist es insbesondere das abschließende Kapitel über die „Sphäre des Menschen“ (Plessner 1981, S. 360–382), in welchem die Positionalität der exzentrischen Form und der damit verbundenen Ich-Position sowie der Personencharakter behandelt werden. Weitere Aspekte finden sich dann in den drei viel zitierten Abschnitten mit den „anthropologischen Grundgesetzen“, nämlich in I. dem „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“, in dem gesagt wird, dass der Mensch als „exzentrisch organisiertes Wesen […] sich zu dem, was er schon ist, erst machen“ muss; II. dem „Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit“ und schließlich III. dem „Gesetz des utopischen Standorts“, in dem des Menschen „konstitutive Wurzellosigkeit“ und sein Transzendenzbezug sich zeigen und sowohl zu einem „unverlierbaren Recht der Menschen auf Revolution“ führen oder zu einem ihm möglichen „Theomorphismus“ (Plessner 1981, S. 383–425, insbes. 383, 419 und 423 f.). Aber auch bei Arnold Gehlen ist die Verbindung der Interpretation des menschlichen Daseins mit ethischen Verpflichtungen grundlegend. In seiner „elementaren Anthropologie“, die er 1940 mit „Der Mensch“ vorgelegt hatte, tritt eine Ethik der „Zucht“ (Gehlen 1978d, S. 421–439) mit einem starken ordnungspolitischen Impetus auf. „Oberste Führungssysteme“ (ebd., S. 709–743) – wie er zu NS-Zeiten formulierte – und seit der 4. Auflage im Jahre 1950 eben die ganz neu begründeten Institutionen (ebd., S. 477–480) werden zu Garanten der ethischen Formierung des Menschen, beginnend bei einer rituell erzeugten „unbestimmten Verpflichtung“ (ebd., S. 78, 381, 385 und 479) schon in den schriftlosen Gesellschaften, wie er das in seiner die Institutionen von diesen frühen Formen einer dynamischen Quelle von Ordnungsmustern ableitenden Studie „Urmensch und Spätkultur“ dargestellt hat.

Gehlen ließ seinem anthropologischen Grundlegungswerk weitere Monographien folgen, die er am liebsten unter den Titel eines zweiten und dritten Bandes der in „Der Mensch“ grundgelegten „empirischen Philosophie“ gestellt hätte, wovon ihm allerdings sein damaliger Verleger Wolfgang Metzner abriet. So folgte eben „Urmensch und Spätkultur“ als eine vor allem durch anglo-amerikanische kulturanthropologische Studien angeregte Theorie der Entstehung von Sozialität und der sie möglich machenden Bindungs‑, Normierungs- und Verpflichtungsgehalte. Immer geht es dabei auch um ethische Forderungen und die daraus sich entwickelnden Moralen. Aber erst in seiner zuletzt erschienenen Monographie „Moral und Hypermoral“ hat Gehlen dieses Thema vielschichtig entfaltet und dabei eine Theorie des ethischen Pluralismus entwickelt, in der vor allem die unauflösbaren Spannungen zwischen einander widerstrebenden Ethosformen hervorgehoben wurden.

2 „Hypermoral“ als Überdehnung ethischer Prinzipien

Der Abschnitt II nimmt Formulierungen aus meinem Vorwort in der 1986 im Wiesbadener Aula-Verlag erschienenen Kassette mit drei Monographien Gehlens (Der Mensch, Urmensch und Spätkultur und Moral und Hypermoral) auf.

Das Titelwort „Hypermoral“ mag auf Friedrich Nietzsche anspielen, wie Helmut Schelsky in seinem Brief an Gehlen vom 22. Juni 1970 vermutet hat, während Gehlen sich handschriftlich auf diesem Brief [MN] notierte, dass ihn Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergis Buch „Ethik und Hyperethik“ (Coudenhove-Kalergi 1922) zu diesem Begriff angeregt habe – allerdings war das nur eine Wortanleihe, denn dieser um die europäische Einigung so verdienstvolle Autor meinte damit „Schönheit als Prinzip menschlichen Handelns“ und die „Synthese von Ethik und Ästhetik“. Was Nietzsche betrifft, dessen aphoristische Brillanz Gehlen vielfach zitierte, um gleichwohl einem systematischen Denker wie Vilfredo Pareto den Vorrang einzuräumen (Gehlen 2004d, S. 265), könnte man auch in Gehlens Buch eine „Genealogie der Moral“ finden, samt der Ansicht von deren Dekadenz und Hypertrophierung.

Mit einer Gegenüberstellung unterschiedlicher Ethik- und Moralkonzepte und seinem, in sechs Manuskriptfassungen immer wieder neu durchgearbeiteten Buch „Moral und Hypermoral“ verband Gehlen seine Kritik an moralischen Überdehnungen, welche er als „Hypermoral“ kritisierte. Zuerst hatte er sich die Aufgabe gestellt, vier voneinander nicht ableitbare Ethosformen empirisch freizulegen: 1. „das aus der Gegenseitigkeit entwickelte Ethos“, 2. eine „Mehrzahl instinktiver, verhaltensphysiologisch greifbarer Regulationen, einschließlich der Ethik des Wohlbefindens und des Glücks (Eudaimonismus)“, 3. das „familienbezogene ethische Verhalten samt der daraus ableitbaren Erweiterungen bis zum Humanitarismus“ und 4. das „Ethos der Institutionen einschließlich des Staates“ (Gehlen 2004d, S. 41). Gehlen, der sich auch als ein „Anti-Rousseau“ (Rehberg 2018) verstand, wollte damit der „abstrakten Ethik der Aufklärung“ widersprechen, wie sie beispielsweise in Voltaires Diktum zum Ausdruck kam, nach welchem es nur eine Moral gebe, so „wie es nur eine Geometrie gibt“ (zit. in: Koselleck 1959, S. 173 u. Gehlen 2004d, S. 32).

Neben allen Aperçus und aphoristischen Zuspitzungen über die intellektuelle Lage durch Vergleiche mit dem niedergeworfenen und unter der Weltherrschaft Makedoniens stehenden Athen (etwa über den „Kosmopoliten“ Antisthenes, den Kyniker Xenon und die nachträglichen Spiegelungen dieser Diskursherrschaft der Philosophen im Werk des Diogenes Laertius) geht es systematisch in erster Linie um eine anthropologische Begründung der Ethik, das heißt um die erwähnte „Mehrheit moralischer Instanzen“ oder „Sozial-Regulationen“ (Gehlen 2004d, S. 32). Diese werden nicht evolutionär interpretiert, d. h. als Fortschritt von einer Nah-Ethik zu einer schließlich weltumspannenden Moralität, sondern als bis zu einer tragischen Ausgeliefertheit an diese Spannungsbeziehungen führen könnende Verpflichtungsgesinnung. Inzwischen findet sich auch bei Axel Honneth (2009) eine vorsichtig formulierte Zustimmung zu Gehlens Konzeption unterschiedlicher ethischer Quellen. Und wenn auch Triebregulierungen in unterschiedlichen Verpflichtungssystemen aufgehoben sein mögen, folgen sie nicht alle denselben „leibnahen“ Impulsen. Manche Moralen können als instinktnahe angenommen werden, andere ergeben sich aus den Notwendigkeiten bestimmter menschlicher Ordnungen. Immer jedoch sind sie kulturell geformt und zugleich auf unterschiedlichen Ebenen der Abstraktion angesiedelt, denn zwischen dem affektiven Eintreten für ein Familienmitglied oder eine vertraute Person und der Loyalität gegenüber dem Staat oder für die Ziele größerer Machtzusammenhänge, wie beispielsweise der Vereinten Nationen, ist die lebensweltliche Verankerung höchst unterschiedlich. Gehlen (2004d, S. 41–47) nimmt voneinander unabhängige Quellen ethischer Verpflichtungen an und hebt das „Ethos der Gegenseitigkeit“ dabei besonders hervor. Aus diesem Prinzip heraus bilden sich dann seit den frühesten Gesellschaften elaborierte institutionelle Formen, etwa der von Marcel Mauss (2007) beschriebene symbolische Tausch oder die komplizierten, am besten von Claude Lévi-Strauss (1993) erfassten und von Gehlen (1966, S. 357–422) in seinem Aufsatz „Die Sozialstrukturen primitiver Gesellschaften“ umfangreich rekonstruierten, Austauschregeln auf der Basis von Verwandtschafts- und Heiratsbeziehungen (vgl. auch Rehberg 2021a, S. 162–165).

Für Gehlen waren die Sozialregulationen in der konstitutionellen „Weltoffenheit“ des Menschen fundiert, wenn auch „Überdehnungen“ instinktiver Antriebe und vor allem deren produktive EntdifferenzierungFootnote 2 möglich sind. Als leibnahe erschienen ihm alle Mitleidsethiken, wie sie von Bernard de Mandeville oder Jean-Jacques Rousseau bis hin zu Arthur Schopenhauer konzipiert worden sind. Selbstverständlich gehört in den Umkreis der physiologisch begründeten Moralauffassungen auch die „Ethisierung des Ideals des Wohllebens“ – ein Ausdruck, den er dem Soziologen Götz Briefs entlehnte (zit. in: Gehlen 2004d, S. 56). Es ist dies auch der moralische Begründungskern des modernen Massenkonsumismus.

Der „Humanitarismus“ hat hingegen andere Quellen und fand seine gültige Formulierung vielleicht bereits in der griechischen Verfallszeit. Mit Arnold Toynbee verstand Gehlen (2004d, S. 78) diese Ethosform als Dekadenzerscheinung und vermutete einen Kontaktverlust mit der Geschichte. Des Weiteren ging er davon aus, dass es sich – wie schon Vilfredo Pareto (zit. in: Gehlen 2004d, S. 78) postuliert hatte – um eine neue säkularisierte Religion handele, die allerdings ihrerseits auf einer „Ausdehnung“ und „Entdifferenzierung des ursprünglichen Sippen-Ethos oder von Verhaltensregulationen innerhalb der Großfamilie“ basiere (ebd.).

Demgegenüber stand die Politik immer schon auf einer ethisch anderen Grundlage, forderte etwa auch Mao Zedong eine „klassenbedingte Liebe“, der gegenüber die humanitäre nur „abstrakt“ sei (ebd., S. 82).Footnote 3 Der Konflikt mit dem „Ethos des Staates“ (ebd., S. 99–118) liegt dann auf der Hand und fand in der Tragödie der Antigone, die eben auch eine des Königs Kreon war, seinen klassischen Ausdruck.

3 Ethische Spannungen als Tragödienmotiv?

Was nun hat diese einleuchtende Analyse eines ethischen Pluralismus mit der Tragödie zu tun? Der Zusammenhang mag verwundern – aber Gehlen selbst hat ihn explizit betont. Es ist jene Antigone, die zum Symbol für unauflösbare Gegensätze ethischer Verpflichtungen und moralischer Gesetze geworden ist. Ganz eindeutig wird das in der Entgegensetzung Gehlens von Humanitarismus und Staatsethos greifbar. Letzteres wird von dem konservativen Institutionentheoretiker in besonderer Weise als bedroht angesehen und deshalb hervorgehoben. Vielleicht bezeichnete man ihn aus diesem Grunde oft als „Rechtshegelianer“Footnote 4, wobei Gotthard Günther, sein damaliger Assistent in Leipzig, in einem Interview mit mir am 14.05.1983 sein Bedauern darüber zum Ausdruck brachte, dass Gehlen als begabtester Hegelianer seiner Generation sich mit der Philosophischen Anthropologie leider von der Hegel’schen denkerischen Höhe in die Ebene eines bloß „empirischen“ Philosophierens begeben habe. Damals habe Günther die „Theorie der Willensfreiheit“ von Gehlen (1980a) „wieder und wieder und wieder gelesen“ und für „unübertroffen in diesem Jahrhundert gehalten“. Demgegenüber sah er in dessen philosophisch-anthropologischen Schriften – etwa auch in „Urmensch und Spätkultur“ (Gehlen 2004a) – einen „Abstieg“.

Tatsächlich bejahte Gehlen (z. B. 1978e) die Syntheseleistung des Staates als entscheidende Größe der Schaffung und Garantie von Ordnung, sah in dessen Relativierung und aus seiner Sicht dessen Niedergang ein für ihn wirklich tragisches Ereignis. Noch 1970 weckte die Erinnerung an die Proklamation des Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles angesichts der kurzen Dauer des Kaiserreichs in ihm „nur bitterste und hoffnungslose Gedanken“. Wenigstens schrieb er einem rechts stehenden Studenten, der ihn für eine Zeitschrift um politischen Rat gebeten hatte, er sei „unfähig […], jungen Menschen etwas Wegweisendes zu sagen“Footnote 5, auch weil der Konservatismus keine erkennbare politische Option mehr sei, sondern nur noch Ausdruck persönlichen Anstandes; weder gab es für ihn ein Zurück, noch eine Idyllisierung: „mit einem Wort: es gibt keine konservative Ideologie oder Doktrin“ mehr, bekannte er 1974 Achim Mohler, „es gibt nur eine konservative Haltung mit konkreten Ausdrucksformen, z. B. nicht im ‚Spiegel‘ zu schreiben, Distanzierung von den Massenmedien usw. – und das ohne jedes Schielen nach Erfolg“ (zit. in: Rehberg 2013, S. 102).

Aus alledem sprach eine tiefe Resignation, die ihre Quelle schon angesichts der kriegerischen Niederlagen Deutschlands hatte, wie sich das in der dramatisierenden Deutung der Folgen der zweiten bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 in Bildern eines Vergleiches zeigt, der den historisch-politischen Hintergrund ethischer Konflikterfahrungen offen legen sollte (Gehlen 2004d, S. 3 ff.): Nach dem endgültigen Zusammenbruch des preußisch dominierten Deutschen Reiches durch die selbstzerstörerische Politik Adolf Hitlers sah Gehlen Deutschland nach 1945 in demselben Maße durch politische Ohnmacht und Maßstablosigkeit gekennzeichnet, wie Athen es nach dem Niedergang seiner Großmachtstellung im Jahre 404 v. Chr., also nach den Peloponnesischen Kriegen, gewesen sei. Es ist dies ein Gedanke, der einem Urteil Georges Sorels (1928, S. 255) nahesteht. In dieser historischen Situation hätten sich sowohl eine verharmlosende Anthropologie, als auch humanitaristische, an Glück und „Entpflichtung“ orientierte Ideale entwickelt, d. h. staats- und politikferne Moralen (Gehlen 2004d, S. 56 und 15; dazu kritisch Rehberg 1997 und Rehberg 1970, S. 40 sowie als Replik darauf Gehlen 1970, S. 22). In beiden Lagen seien auch die Machtansprüche der Intellektuellen an die Stelle des staatlichen Machthandelns getreten. Und in der bundesdeutschen Gegenwart erschienen ihm – ähnlich wie die Philosophen im unterlegenen Athen – die Linksintellektuellen als Einflussgruppe, die besonders in Fächern wie Theologie, Soziologie, Philosophie und Pädagogik zu finden seien (Gehlen 2004d, S. 108). Das war für ihn keine ironische Pointe der Geschichte, sondern erschien als wirkliche Tragik der deutschen Lage (vgl. Gehlen 1978, S. 415–424), jedoch in Zeiten einer Subjektivierung, welche die Tragödie nicht mehr ertragen kann.

In diesem Sinne stimmte Gehlen mit George Steiner (1962) auch darin überein, in der Moderne ein Ende der Tragödie zu vermuten. In dieser nämlich treffen Mächte aufeinander, die Charaktere freisetzen und sie in Geschicke verwickeln, sodass Hegel (1970, S. 501) sagen konnte, „das dramatisch Wirkende ist die Handlung als Handlung und nicht die von dem bestimmten Zweck“. Entscheidend ist, dass Handeln und dessen Darstellung im Drama eng mit der Katastrophe verbunden sind durch eine „innere Logik, mit der die Mächte aneinanderhängen und endlich ein ganzes Gewölbe einstürzt“ (Gehlen 1980b, S. 204). Um noch einmal auf Antigone zurückzukommen: Die Macht, welche diese Tochter des Ödipus ihrem Schicksal ausliefert, ist die Familie, genauer die Liebe zu ihrem Bruder Polyneikes, „aber nicht als Privatgefühl, sondern als Gewalt der Schicksale eines mythischen und hochedlen Geschlechts“ (ebd.). Dann stehen leidenschaftlich und gleichermaßen bewusstlos mächtige Personen gegeneinander und „werden in einem erleuchtenden Schicksal verbrannt“, wobei der Tod alle diese Verwirrungen reinige (ebd., S. 206).

Die Verblendung und Hybris in tragische Konflikte verstrickter Personen wird von Gehlen in einen Gegensatz gestellt zur Reflektiertheit oder „verlorenen Unschuld“ in der Moderne, die eben „keinen Boden für Schicksale“ mehr bereithalte (Gehlen 1980b, S. 207). Jedenfalls könne „das Hochdramatische und Hochtragische […] nur [noch] Inhalt der Kunst sein, denn [ganz im Gegensatz zum trivialisierten Alltagsgebrauch des Wortes „tragisch“] habe die Wirklichkeit keinen Boden mehr für das explizit Tragische“ (ebd., S. 211). Zusammenfassend heißt das: In einer „vollkommenen Tragödie […] muß der von den Mächten Überwältigte dennoch in Freiheit seinen Untergang auf sich nehmen“ (ebd., S. 213).

Wiederum war es George Steiner, der in seiner Darstellung des Todes der Tragödie meinte, dass wir angesichts solcher unausweichlichen Schicksale „mit einem Gefühl grausamer und dennoch natürlicher Verheerung“ zurückblieben, was Gehlen (1978d, S. 40) aufnahm und hinzufügte, „dass in dieses Gefühl eine bewundernde Bejahung eingeht, so wie bei allen großen tragischen Stoffen“. Dann werde die Rückkehr zum Alltag schwierig, weshalb etwa auch die Massenkunst zögere, sich auf die Tragödie einzulassen (vgl. auch Gehlen 2016a, S. 405 und Gehlen 2016b, S. 454 f. und 458), zumal Steiner richtig bemerkt habe, dass sie „in ihrem Kern wohl undemokratisch“ sei, überdies auch „antichristlich“, denn in diesem Glauben gebe es einen tiefsitzenden Erlösungsoptimismus, der „sich mit so zerreißenden Lösungen nicht gerne einlässt“ (ebd.). Friedrich Hölderlin bezeichnete dies als das „Tödlich-Faktische“ (Gehlen 2016b, S. 40 f. und Hölderlin 1923, S. 257 f.). So stelle sich die Massenkultur gegen das „eigentlich Phantastische“, also das Tragische, welches der zweidimensionalen Gut-Böse-Moral gegenüber störend wirke, zumal solche Kulturangebote heute nicht mehr anstrengen und „keine Denkprobleme aufwerfen“ dürften (Gehlen 1978d, S. 41).

4 Pluralistische Ethik versus polemische Zeitkritik

Gehlens pluralistische Ethik erweist sich als fruchtbare Analyse der Konflikterzeugung gerade durch einander entgegenstehende und moralisch gleichermaßen geforderte Positionen. Aber diese erhellenden anthropologisch-soziologischen Überlegungen wurden in dem Buch „Moral und Hypermoral“ überlagert durch einen damals aktuellen politischen Impetus, mit dem der Autor auf die ihn schockierenden „1968er“-Ereignisse und zudem noch auf Willy Brandts (1969, S. 20) Versprechen „Mehr Demokratie wagen“ reagiert hat. Damit wandte Gehlen (2004d, S. 50) sich auch gegen den Humanitarismus (und wie er ganz zutreffend bemerkte, eine damit verbundene, oftmals nebulöse und rein gefühlsmäßig bleibende „Fern-Ethik“), beides Ausdruck eines Lebensprinzips, das – vor allem von der Linken verursacht – unaufhaltsamen Geltungsverlust staatlicher Ordnungen befördere.

Gehlens Fixierung auf ein Staatsethos unter – in diesem Zusammenhang wenigstens – Ausblendung von anderen institutionellen Formen der Ordnung hatte Helmut Schelsky (Brief Schelskys an Gehlen v. 17.06.1970 [MN]) in sehr scharfer Weise seinem einstmaligen Lehrer und Freund vorgeworfen. Übrigens gab es zwischen beiden eine Kontroverse über die Stabilisierung institutioneller Ordnungen in der Moderne schon seit 1946. Während Gehlen die Institutionen vor jeder fundamentalen Kritik schützen wollte und sie am liebsten als „einwandsimmun“ gesehen hätte, fand Schelsky durchaus richtig, dass Institutionen auch durch offene und kritische Debatten stabilisiert werden können und dass sie durch Kritik eben nicht dem Untergang geweiht seien. Dabei wurden beider unterschiedliche theoretische Positionen für lange Zeit in einer durch Kooperation neutralisierten Sphäre ausgetragen und konnten zurücktreten durch ihre persönliche Nähe zueinander. Das jedoch änderte sich radikal durch Schelskys Beurteilung der letzten Monographie Gehlens, „Moral und Hypermoral“, welche bereits von Jürgen Habermas (1970) als das Werk eines „aus dem Tritt geratenen Rechtsintellektuellen“ abqualifiziert worden war (Rehberg 2021b). So kam es 1970 nach vielleicht 30jähriger wirklicher Freundschaft zu einem von Gehlen kompromisslos vollzogenen Abbruch der Beziehungen mit Schelsky (vgl. Rehberg 2017, S. 219–242).

5 Zur überraschenden Aktualität der Gehlen’schen Gesellschaftsbeobachtung in Zeiten moralischer Sensibilisierung und gleichzeitiger moralisierender Hysterie

Heute mag es überraschen, dass Arnold Gehlen bereits 1957 in seinem ‚Bestseller‘ „Die Seele im technischen Zeitalter“ (Gehlen 2004c) Konstellationen vorausgesehen hat, die heute kaum mehr verwundern:

Diese Verflechtung von Information, Meinung und Unterhaltung wird hier hervorgehoben, weil man sich klarmachen soll, wie dicht die Erfahrung zweiter Hand uns einhüllt. Denn auf diesen Wegen kommt auch der moralische Mensch in Bewegung, wenn auch vielleicht nicht in seinen tiefsten Schichten. Die sofort verfügbaren, leicht auslösbaren Gefühle, die von den Impulsen der Medien in uns hochgejagt werden, sind abwehrende, also in erster Linie Entrüstung oder Angst. Das sind zwei nicht sehr eindrucksvolle, aber immerhin stellungnehmende, also moralnahe Affekte. Sie laufen glatt ab und fordern wenig geistigen Einsatz, weniger zum Beispiel als die Neugierde oder die echte Kritik, wenn es sie je geben sollte; immerhin aber hat man dann auf die dargebotene Erfahrung zweiter Hand reagiert, und zwar in der Form, die sachlich allein möglich ist: handlungslos, aber emotional. Und diese Affektseite der Sekundärerfahrung wirkt ihrerseits auf die Formulierung des Informations- oder Meinungsimpulses zurück, der griffig und klar geschnitten sein muß, um sich eindeutig auszuwirken. Da im Moralischen Eindeutigkeit soviel bedeutet wie eine Ja-Nein-Entscheidung, so entspricht dieser die Schwarz-Weiß-Zeichnung der Anstöße, die nun selber eine Primitivisierung mit sich führt. (Gehlen 2004c, S. 208)

„Die bewußte Persönlichkeit verschwindet, Kritik und Kontrolle werden abgebaut, man wird enthemmt, die Zugänglichkeit für Suggestionen steigt. Man verliert das Gefühl der Verantwortung, umgekehrt werden die Affekte leichter auslösbar und übersteigert. In der Masse verlieren die Dummen, Ungebildeten und Neidischen – wie er [Gustave Le Bon] sagt – das Gefühl ihrer Nichtigkeit und Ohnmacht […], sie sind von der Phantasie bestimmt, sie sind ansprechbar für das Legendäre und Wunderbare. Ein religionsähnlicher Gefühlsüberschwang macht sie fähig zu heroischen Anstrengungen, aber auch geneigt zu Fanatismus und Unduldsamkeit“ (Gehlen 2004c, S. 239).

Auf den geistigen Gebieten äußert sich diese Abspannung in doppelter Form, nämlich entweder als Dogmatismus und Hang zur Rechthaberei, oder umgekehrt als Kritiklosigkeit und Leichtgläubigkeit (Gehlen 2004c, S. 429).

Das waren konservative Beobachtungen aus den 1950er-Jahren, die sich als treffend für die augenblickliche politische Situation und wie ein Kommentar zu den (Un‑)Sozialen Medien erweisen. Seit den 1990er-Jahren bekamen rechtspopulistische Bewegungen durch aggressiv-vereinfachende Bilder einer fundamentalen Bedrohung der eigenen Lebenswelten Auftrieb in vielen Ländern (nicht nur) Europas. Dadurch wurden für lange Zeit latent gebliebene Ängste und Vorurteile sicht- und hörbar und mit einem neuen Aktionspotential verbunden.Footnote 6 Längst zuvor schon waren die nun ins öffentliche Bewusstsein gehobenen Abwertungs- und Abwehrhaltungen gegenüber den politischen Entscheidungsprozeduren und transnationalen Bindungen in Teilen der Bevölkerung durch Umfragen ermittelt worden. Dabei soll nicht ausgeblendet werden, dass viele der demoskopischen Kategorisierungen (z. B. „rassistisch“, „islamophob“, „fremdenfeindlich“, „frauenfeindlich“, „homophob“ etc.) durchaus beunruhigen, zugleich aber auch wissenschaftliche Artefakte sind, also verknappte Zusammenfassungen von unterschiedlich quantifizierbaren Antwortangeboten.

Ehe die beunruhigenden neuesten politischen Tendenzen diskutiert werden, soll danach gefragt werden, wie es überhaupt weltweit um die demokratischen Regierungssysteme nach dem Ende der kriegerischen Schrecken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht. Ohne eine solche Vergleichsperspektive werden Urteile und Prognosen der politischen Entwicklungen allzu sehr nur vom (keineswegs unbegründeten) aktuellen Erschrecken angesichts neuester Autoritarismen gespeist.

So erinnere man sich beispielsweise daran, dass von den 1950er-Jahren bis in die 1990er-Jahre weite Teile des südamerikanischen Kontinents von Militärdiktaturen beherrscht waren, bei deren Etablierung die USA eine entscheidende Rolle spielten, weil sie – vergleichbar der Sowjetunion und ihrer Intervention in Afghanistan in den Jahren 1979 bis 1989 sowie im Zweiten Tschetschenienkrieg der Jahre 1999–2009 – in der von ihnen beherrschten Hemisphäre das Machtmonopol besaßen.

Zur Beurteilung der Lage muss die Seltenheit demokratischer Systeme ins Bewusstsein gehoben werden: Wenn man etwa danach fragt, wie viele Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen „demokratisch“ sind, ergibt sich – zumindest nach dem Demokratieindex der Zeitschrift The Economist – für das Jahr 2020 folgendes Bild: 75 der erfassten Staaten wurden als „Demokratien“ bewertet, davon 23 als „vollständige“ (= 13,8 % der Länder und 8,4 % der Weltbevölkerung); 52 Staaten galten als „unvollständige“ Demokratien (= 31,1 % der Länder und 41 % der Weltbevölkerung); 35 Staaten wurden „Hybridregime“ genannt (= 21 % der Länder und 15 % der Weltbevölkerung) und schließlich gab es 57 „autoritäre“ Regime (= 34,1 % der Länder und 35,6 % der Weltbevölkerung). Vergleicht man das mit dem Jahr 2018, so zeigt sich eine leichte Verbesserung bei den „vollständigen Demokratien“ (wobei die Zahl der autoritären Regime stabil blieb), weil zu diesen bis 2020 drei weitere hinzugekommen waren, das ist ein Zuwachs von 4,5 auf 8,4 % der Weltbevölkerung (https://www.eiu.com/n/). Da kann man im Weltmaßstab von einer Dominanz demokratischer Staaten wahrlich nicht sprechen (Rehberg 2021c, S. 23 f.).

Demgegenüber ist der erkennbare Rechtsruck in vielen der hochindustrialisierten Länder unübersehbar, zuerst in Frankreich seit dem größten Erfolg des Front National, als dessen Gründer, Jean-Marie Le Pen, 2002 in die Stichwahl um die französische Präsidentschaft kam (wie auch seine Tochter Marine Le Pen im Jahre 2017). Italien folgte in den 1990er-Jahren, also seit der wiederholten Wahl Silvio Berlusconis zum Ministerpräsidenten durch die Regierungsbeteiligung nicht nur der Alleanza Nazionale von Gianfranco Fini, welche 1995 aus dem neofaschistischen Movimento Sociale Italiano hervorgegangen war, und der populistischen Lega Nord. Zuerst konnte man das noch als nationale, zum Teil regionale Besonderheiten – etwa den Erfolg des italienischen ‚Mini-Trump‘ Berlusconi als bloße Variante einer volkstümlichen Staatsfeindschaft – ansehen. Inzwischen jedoch zwangen der Brexit-Schock (vgl. Strohschneider 2016) und mehr noch der 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, der sich als Anti-Politiker stilisiert hatte und sich als ein solcher in seiner Amtsführung sowie seinem Abgang nach verlorener Wahl auch erwiesen hat, die demokratischen Kräfte zur Selbstreflexion. Einerseits trugen diese Konflikte durchaus zu einer Politisierung vieler Menschen bei. Andererseits verschärften sich gegenseitige Anfeindungen und stereotype Verurteilungen mit Drohszenarien auf beiden Seiten.

In allen internationalen Bewegungen – etwa auch der Studentenrevolte der 1968er-Jahre, dem Auftreten der ATTAC-Aktivistinnen und -Aktivisten, der Occupy-Bewegung oder der neuen Jugendbewegung „Fridays for Future“ – entwickelten sich Formen des Protestes, die über einzelne Staaten und Gesellschaften weit hinaus wirksam wurden. Das streben auch rechtspopulistische Gruppierungen an, sind darin wegen ihrer nationalistischen Tendenzen jedoch weniger erfolgreich.

Unübersehbar sind einige Charakteristika der rechtspopulistischen Auftritte, die an Friedrich Nietzsches (1980, S. 270) – der es wohl wissen musste – ‚Psychologie des Ressentiments‘ erinnern. Dessen klarsichtig-boshafte Beschreibungen einer „Vergiftung an Leib und Seele“ durch eine unterdrückte und deshalb „imaginäre Rache“ zeigt den Zusammenhang von Verbitterung und latenter Gewaltsamkeit (vgl. auch Scheler 1972). Auch in der bald schon widerlegten These von einem dem Zusammenbruch der sowjetischen Hegemonie und der zweigeteilten Welt folgen sollenden „Ende der Geschichte“ hatte Francis Fukuyama (1992, S. 307–320) die ambivalenten Folgen einer Sehnsucht nach AnerkennungFootnote 7 im Falle ihrer Verweigerung als „Aufstieg und Fall von Thymos“ beschrieben. Daran anknüpfend leitete Peter Sloterdijk (2006, S. 283) daraus in breiter Auswalzung dieses Themas unterschiedliche Trägergruppen einer Zornbereitschaft ab, nämlich einerseits die „verlorenen Verlierer“ der Abgehängten, an denen die „vormaligen Revolutionäre, Reformer, Weltveränderer und Klassenerlöser“ inzwischen jedes Interesse verloren hätten, und andererseits die Irrelevanz der „Überflüssigen“ (vgl. zu diesem Begriff auch: Engels 1973 und Bude 2008). Das führe zu einem weit verbreiteten „Zorn“ (vielleicht zumeist nur zu bloßer Wut), der „nicht zur Einsicht [führt], und [den] die Einsicht nicht findet“, weil die „Empörung […] keine Weltidee mehr vorzuweisen“ habe (ebd.).

Zorn mag noch auf Handlungsmotiven und Argumenten beruhen, mag aus der Lethargie des passiven Hinnehmens befreien, während die Wut als bloße Entladung angestauter Unzufriedenheiten fungiert.Footnote 8 So kam es 2010 zum spöttischen Begriff der „Wutbürger“, welche ihrerseits mit verächtlichem Gestus von „Gutmenschen“ als jenen zu sprechen belieben, welche aus ihrer Sicht in übertriebener Weise altruistischen Motiven folgen, dabei jedoch auch jene angreifend, welche political correctness einfordern (und tatsächlich werden mit dieser zivilisierenden Reflexivität allzu oft tabuisierende Wortvermeidungen mit der Erledigung des Problems verwechselt). Jedenfalls handelt es sich um gegenseitig erklärte Feindsetzungen. Aber man sollte – vor allem mit Blick auf die Sozialen Medien – doch unterscheiden zwischen scharfer Kritik an gegnerischen Positionen auf der einen und einer alle Maßstäbe einer Diskursethik einreißen könnenden Emotionalität, wie sie sich (augenblicklich) in den rechtsgerichteten Ausdrucksformen von Angst und Hass manifestiert, auf der anderen Seite.Footnote 9

Dann dominieren Übertreibungsformeln und Bedrohungsszenarien, welche ‚unhaltbare Zustände‘ (gerade in den „reichen Gesellschaften“) behaupten und unterschiedliche Formen einer Anti-Politik, wie sie sich in vielen, gegen jeweilige Establishment-Gruppen gerichteten Wahlerfolgen in den letzten zwanzig Jahren zunehmend zeigten. Ganz anders klang es, als Ulrich Beck (1993, S. 154–203) im Gleichklang mit Anthony Giddens und im Zusammenhang mit der Entstehung sozialer Bewegungen nach „1968“ noch optimistisch von einer Epoche der „reflexiven Moderne“ und einer durch die Prozesse der Individualisierung und Globalisierung von Risiken entstehenden, die etablierten Machtpositionen produktiv unterlaufenden und dadurch bereichernden Subpolitik sprach. Heute ist das nicht mehr unbesehen als eine ergänzende Politik der Demokratisierung von unten zu verstehen, sondern längst als radikale Infragestellung der gerne als „politische Klasse“ verächtlich gemachten Akteure des parlamentarischen Systems.Footnote 10

Wenn das eine Charakterisierung anti- oder wie man heute modisch gerne sagt: „post-politischer“ (und noch neuer: „post-faktischer“) Gefühlslagen ist, so wäre daran zu erinnern, dass die zugespitzte Negation des Andersdenkenden wie auch „des Fremden“ sehr wohl eine bedenkliche Tradition hat. Ich denke dabei an Carl Schmitts (2018, bes. S. 26–28) Bestimmung „des Politischen“ durch die Unterscheidung von „Freund und Feind“ (wobei der erste Typus bei ihm unbehandelt blieb). Definitionsmerkmal ist dabei eine bis zur Ausmerzung gehen könnende Beziehungs-Intensität, deren Anfang schon in der Stigmatisierung des als bedrohlich Erscheinenden liegen mag. Alle totalitären und autoritären Regime beruhen auf dieser Fehlauffassung des Politischen. Und es ist keineswegs eine sentimentale oder substanzlos-idealisierende Antwort darauf, wenn Hannah Arendt (1960, S. 148) mit Anleihen bei einer aristotelischen Wertontologie „Politik“ strikt von aller Okkupation der Macht unterschied: Diese sei auf spezifisch politische Formen des Zusammenseins derjenigen gegründet, die sich untereinander besprechen, um dann in Übereinstimmung miteinander handeln zu können. Der Mensch als zoon politikon ist möglich nur durch Sprache und diese schließt – wie in Jürgen Habermas’ Diskursethik – das Zuhören und das Zulassen der Gegenrede notwendig ein.

6 Tendenzen der Entpolitisierung

Dieser demokratische Diskussions- und Aushandlungsprozess findet in den parlamentarischen Systemen trotz aller auch dort beobachtbaren Aufgeregtheit oder des nicht selten fraktionsbestimmten Nicht-Hinhörens auf andere Meinungen doch in vergleichsweise hohem Maße statt. Auch sind die für eine solche Form diskursiv begründeter Politik notwendigen Kompromissfindungen in parlamentarischen Demokratien in der Mehrheit eindrucksvoll sachbezogen. Aber es gibt gerade aus dieser Versachlichung heraus auch neue Gefährdungen des offenen diskursiven Prinzips, nämlich durch eine Herrschaft der „Sachzwänge“. Es war Arnold Gehlen (2004a, S. 438, 1978c, S. 117 f., 1978f, S. 271), der das mit deutlicher Verächtlichkeit für den Politikalltag der machtlosen Bundesrepublik formuliert hat. Helmut Schelsky (1965) sah in den 1960er-Jahren die daraus sich ergebende Unabwendbarkeit eines „technischen Staates“ als zentraler Organisation von Expertenentscheidungen, durch welche (also keineswegs durch Revolution) sogar die Herrschaft von Menschen über Menschen aufgehoben werde. Dabei sah er durchaus, dass diese expertokratischen und „technischen“ Entscheidungsfindungen, „ohne antidemokratisch zu sein, der Demokratie ihre Substanz“ doch entziehen und das „Volk im Sinne des Ursprungs der politischen Herrschaftsgewalt“ durchaus „zu einem Objekt der Staatstechniken“ machen könne. Somit sei auch die Gefahr einer „Entpolitisierung“ und „Entdemokratisierung“ längst aktuell, wobei Schelsky noch nicht an die grenzenlose Produktion vollständig faktenfreier „Informationen“ dachte, sondern nur an die Zunahme von Erfahrungen aus „zweiter Hand“ (Gehlen 2004b, S. 51–56) und eine durchdringende „Überinformation“ (Schelsky 1965, S. 459 f.). Es war also diese Beschreibung durchaus mit der Wahrnehmung von Ambivalenzen verbunden, wenngleich die Entwicklung zu administrativ-technischen Entscheidungen als schicksalhaft angesehen wurde. In den 1970er-Jahren galt dieser „technokratische Konservatismus“ als ausgesprochen reaktionär (Kühnl 1972), während sich heute weit über die „Alternativlosigkeits“-Bekundungen der Bundeskanzlerin Angela Merkel hinaus in jeder Partei die Bestärkung dieses Prinzips findet. Jedenfalls wurde die sechzehn Jahre lang regiert habende Kanzlerin als sozusagen unpolitische ‚Notarin‘ von allen geliebt, weil sie die Menschen mit Politik verschonte. Das änderte sich mit dem angesichts der Zahlen von Asylsuchenden mutigen, allerdings ebenfalls unbestimmt bleibenden Satz vom 31. August 2015 („Deutschland ist ein starkes Land […] Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“). Das machte sie erstmals angreifbar, weil sie eben eine wirklich politische Entscheidung angekündigt hatte. So wurde sie auch zum bevorzugten Hassobjekt etwa der kurzfristig sehr erfolgreichen Dresdner PEGIDA-„Spaziergänger“ (vgl. Rehberg et al. 2016).

Mögen es früher konservativer Elitismus oder die totalitären Massenbewegungen gewesen sein, durch welche die demokratischen Partizipationsmöglichkeiten bedroht, manipulativ verbogen oder vernichtet wurden, so sind es heute die bürokratischen Sacherledigungsapparaturen und die an die Bevölkerung oft nicht zurückgekoppelten politischen Leistungssysteme wie das der Europäischen Union, die solche Befürchtungen begründen (Greven und Pauly 2000). Das erinnert durchaus an Max Webers (1984, S. 464) Rede von dem „Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft […], in welche vielleicht dereinst Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden“.

Dagegen haben aggressive, die Problemlagen simplifizierende Gegenreaktionen als Aufschrei derer, deren Lebenslagen und Situationsdeutungen oft genug ignoriert werden, bereits zu einer erkennbaren Transformation der politischen Kultur geführt. So vermochte die Bereitwilligkeit des Glaubens an fake news bei gleichzeitiger Verächtlichmachung des seriösen Journalismus als „Lügenpresse“ inzwischen Volksentscheide und Wahlen zu beeinflussen. Gehlen (2004c, S. 74) hatte das spöttisch vorausgesehen, als er schrieb:

Der Sport wird ein Asyl nationaler Ressentiments, mit dem hohen Grade seiner Kommerzialisierung dringen Fanatismus, Übelnehmerei, Winkelzüge und Pressestrategie in ihn ein, und immer wieder kommt es zu übellaunigen Exzessen. Umgekehrt verliert die Politik das Pathos unserer Großväter und Väter, sie bekommt etwas Unterhaltsames, und sehr bald werden die Massen die Wahlen zu einer Art von nationalen Endrunden machen.

7 Wiederentdeckung der Hypermoral

In dieser Atmosphäre wurde das Wort „Hypermoral“, wie Gehlen es in seiner Kritik an den politischen Verhältnissen 1969 lanciert hatte, erneut wirkungsmächtig, weil in vielen Diskursen darin eine passende Metapher für die heutigen Zustände gefunden wurde. Am ausführlichsten hat Alexander Grau (2017) diesen Begriff analysiert, den Gehlen zum Leitmotiv seiner letzten Monographie gemacht hatte. Damit hat sich gedankenreich auch Romain Leick (2016) in seinem SPIEGEL-Essay „Reich der Lüge“ befasst.Footnote 11 Dieser meinte, Gehlen habe durchaus die Gefahren eines starken Staates und möglichen Machtmissbrauches sehr wohl gesehen. Die „industriell-bürokratische Gesellschaft“ führe angesichts der Versorgungsansprüche der Bevölkerung zu einer „stationären Subventionsordnung“, welche die Legitimität des Staates in Frage stelle. So wird der Staat zu einem „pouvoir neutre“, zum „parteienüberlegenen Schiedsrichter und Garanten des Gemeinwohls“. Dafür ist die Formel berühmt geworden, die Ernst Forsthoff und Arnold Gehlen (2004d, S. 103) mit einem verächtlichen Gestus gegenüber dem Sozialstaat verwendet haben, dass nämlich der „Leviathan ist zur Milchkuh geworden“ sei. Deshalb nehme die „utopische Verve, die ideologische Aufladung des Politischen“ ab, denn „die Reserven an Enthusiasmus und Indignation sind erschöpft, die Arenastimmung der Wahlen ist vorbei“.

In jüngster Zeit gibt es – neben der bleibenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gehlen – eine zweifache Wiederentdeckung. Zum einen gibt es eine Revitalisierung des Begriffs „Hypermoral“ angesichts eines sich in den (un-)sozialen Medien bis zum Hass steigernden Radikalismus auf der einen Seite und einer nicht selten selbstgefälligen Moralisierung auf der anderen Seite.

So wird Gehlen auch in einem unmittelbar politischen Kontext von Autoren der „Neuen Rechten“ aufgegriffen. Deren Position erscheint als „ideologisches Scharnier zwischen Neokonservatismus und Rechtsextremismus“, gerade weil die Protagonisten sich von der „alten“ Rechten, besonders der NPD, abzusetzen suchen, indem sie zuerst von der französischen Nouvelle Droite inspiriert wurden. Die „Identitären“ schmücken sich – wie besonders Götz Kubitschek – mit einer von der „Konservativen Revolution“ geborgten Intellektualität, vor allem immer mit Ernst Jünger, Carl Schmitt und eben auch Arnold Gehlen, der im „Antaios-Kalender 2021 – Vordenker“ sogar als erster Autor präsentiert wird.

Was Gehlens konservatives Weltbild allerdings von dem der Neuen Rechten unterscheidet, ist dessen grundlegende Ordnungstheorie samt einer Rechtfertigung der Institutionen, deren zunehmende Auflösung er ja gerade als Tragödie erlebte, weshalb er auf die Frage eines Bekannten, wie es ihm gehe, geantwortet haben soll, er bereite sich auf den Untergang vor, während es den Identitären und anderen auf die „konservative Revolution“ der 1920er-Jahre zurückgreifenden Gruppierungen im Gegenteil darum geht, die bestehende Ordnung zu zerstören. Bei allen Versuchen eines Rückgriffs auf konservative Positionen zeigt sich durchgängig, dass diese anti-linken populistischen Bewegungen in keiner Weise Nachfolger etwa von Edmund Burke oder auch Arnold Gehlen sind.

Solche Tendenzen stärken die Bürokratie, die mit ihrer „Verteidigung der Institution der Beamtenschaft auch ihre eigenen Interessen vertritt, was die übrige Gesellschaft übelnimmt“. Je mehr der Staat „den Charakter eines Verwaltungsstaates, eines Fürsorge- und Versorgungsstaates annimmt“, desto eingeschränkter würden auch die Chancen zu einer Selbstverwaltung von unten. Dann führe der subalterne Handlungstypus zur „Flucht in das Organisatorische, in den Schematismus, in die Pedanterie und Scheu vor Verantwortung“. Zugleich sei ein „Grad der rationalen Einstellung und der bloßen Sachorientierung“ erreicht worden, „der einem Fichte, einem Hegel als schlechthin zynisch gegolten hätte“. Dem könnte man zustimmen, wenngleich Gehlen in seiner polemischen Streitschrift aus dem Jahre 1969 die nicht unwichtige Seite der Gefahr, die auch im staatlichen Handeln möglich ist, unerwähnt gelassen hätte, wie ihm das auch Schelsky zurecht vorwarf (vgl. dazu auch: Gehlen 1970, S. 22; Rehberg 1970, S. 32). Wenn man etwa die Zunahme zumindest autoritärer Herrschaft in jüngster Zeit betrachtet, ist das kein Nebenthema.

Aber auch die andere Seite einer Auflösung staatlicher Autorität kann tiefe Krisen auslösen. Entgegen der in der „Frankfurter Schule“, besonders von Theodor W. Adorno, vertretenen prinzipiellen Skepsis institutionellen Ordnungen gegenüber hat dessen ehemaliger Assistent und einflussreicher Politikwissenschaftler Claus Offe (1996, S. 271; Rehberg 1996) angesichts des Zusammenbruchs staatlicher Strukturen, etwa in der Selbstauflösung des von Josip Broz Tito zusammengeschweißten Ex-Jugoslawien, die Notwendigkeit starker Institutionen durchaus betont, denn es gebe dort nur noch „Ruinen der Staatlichkeit“.

Insgesamt kann gesagt werden, dass Arnold Gehlen als höchst origineller Verteidiger institutioneller Stabilisierungsformen – entsprechend seiner Prognose, dass die Menschheit bereits in einer „posthistoire“ lebe – zunehmend den Bedeutungsverlust von Institutionen beklagt hat. Auch, wenn man dieser Zeitdiagnose nicht zustimmt, sind Formen der Bestreitung und Schwächung für lange Zeit zentraler Institutionen durchaus zu beobachten. Dabei spielt der weltweite Einfluss digitaler Medien eine wichtige Rolle, wenngleich das nicht schlechthin mit der Auflösung traditioneller Ordnungsmuster gleichzusetzen ist. Vielmehr kann man in den neuen Formen der Kommunikation und somit auch der Kritik mit Jean-François Lyotard eine noch nie dagewesene Möglichkeit produktiver Kritik an den Institutionen sehen. Man denke an die zuvor geschilderte Kontroverse zwischen Helmut Schelsky und Arnold Gehlen darüber, ob Kritik notwendig ein Instrument der Zerstörung von Institutionen sei oder eine Form der sie stärkenden Selbstreflexion. Obwohl ich die Position Schelskys teile, hat Gehlen doch früh die Entfesselung destruktiver Meinungsfluten prognostiziert. Selbstverständlich genügt es nicht, deren Folgen allein aus dem – wenn oft auch treffsicheren – Argumentationsrepertoire und dem Pathos der Tragödie eines Theoretikers abzuleiten, der diese Prognosen im Jahre 1957 publiziert hat.