Zusammenfassung
Über vom NS-Regime als „Berufsverbrecher“ etikettierte und in Konzentrationslager deportierte Menschen wurde jahrzehntelang geschwiegen, wenn sie nicht mit den sogenannten Kapos der Konzentrationslager identifiziert und damit in die Nähe der SS-Verbrechen gerückt wurden. Anhand von narrativ-biografischen Interviews untersuchen wir die Frage, wie die erlebte und erzählte Geschichte von „Berufsverbrechern“ des KZ Mauthausen in Familien in Österreich weitergegeben wird und welche intergenerationalen Erinnerungsstrukturen sich ausgestalten. In einer Fallrekonstruktion, die historische Aspekte mit einer Sequenzanalyse zweier Interviews mit einer Angehörigen der dritten Generation verknüpft, analysieren wir im vorliegenden Beitrag, dass in der episodenhaften Erzählweise in sozialer Interaktion Narrative und Kohärenz verhandelt werden. Zentrales latentes Thema ist die „Opferwürdigkeit“. Der Beitrag verortet sich in einer historisch verfahrenden prozessorientierten Soziologie, die das Nachleben der Verfolgungsgeschichte von „Berufsverbrechern“ in den Narrationen und Biografien von Nachkommen unter den Bedingungen eines gesellschaftlichen Täterverdachts rekonstruiert.
Abstract
For decades, people who were labelled as “Berufsverbrecher” (“professional criminals”) and sent to concentration camps by the Nazi regime, have been either shrouded in silence or identified with the so-called Kapos (prisoner functionaries) in the concentration camps and associated with SS crimes. Based on narrative-biographical interviews, we look at how the experienced and narrated history of prisoners in Mauthausen who were labelled as “Berufsverbrecher” has been handed down in families in Austria, and draw conclusions concerning the formation of intergenerational memory structures. In a case reconstruction linking a historical perspective with a sequential analysis of two interviews with a female member of the third generation, we analyse the interviewee’s episodic style as a reflection of the way in which narratives and coherence are negotiated in social interaction in the interviews. The central latent theme is “victim worthiness”. This paper fits into a branch of sociology interested in reconstructing historical processes. It examines the process through which the persecution of “Berufsverbrecher” lives on in the narrations and biographies of descendants, in a society taking Nazi victims as perpetrators.
Notes
Wir verwenden in diesem Artikel die männliche Schreibweise „Berufsverbrecher“, die als Teil des NS-Vokabulars Inbegriff von (Sozial‑)Rassismus und Patriarchat ist und in Bezug auf das KZ Mauthausen beinahe ausschließlich auf Männer angewandt wurde.
In den vergangenen fünf Jahren wurden insgesamt 3427 Personensuchanfragen an die KZ-Gedenkstätte Mauthausen gerichtet. Die 101 (2,9 %) auf als „Berufsverbrecher“ Bezeichnete bezogenen Anfragen entsprechen deren Anteil innerhalb der „Häftlingsgesellschaft“ des KZ Mauthausen – von namentlich bekannten 167.522 Deportierten waren 4234 (2,5 %) „Berufsverbrecher“.
Vgl. dazu Deutscher Bundestag, Drucksache 19/7736, 19. Wahlperiode, 13. Februar 2019 (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/077/1907736.pdf, 6. Mai 2019), sowie Deutscher Bundestag Drucksache 19/8955, 19. Wahlperiode, 3. April 2019 (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/089/1908955.pdf, 6. Mai 2019).
Petition von Frank Nonnenmacher, Julia Hörath, Sylvia Köchl, Andreas Kranebitter, Dagmar Lieske, 18. April 2018 (www.change.org/p/deutscher-bundestag-anerkennung-von-asozialen-und-berufsverbrechern-als-opfer-des-nationalsozialismus, 6. Mai 2019). Am 13. Februar 2020 wurden „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“ vom Deutschen Bundestag offiziell als NS-Opfer anerkannt.
Erhard Grundl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), Plenarprotokoll Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, 4. April 2019, S. 11043 (http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19092.pdf#P.11043, 6. Mai 2019).
Die Namen der InterviewpartnerInnen und ihrer Familienmitglieder sind anonymisiert.
Ohne Autor: „Aus dem Gerichtssaal. Die bösen Zweiundzwanzig“, Neues Wiener Tagblatt, 31. Jänner 1940, S. 6.
Der Akt des Landgerichts Wien liegt heute im Wiener Stadt- und Landesarchiv. Signaturen werden aus Gründen der Anonymisierung nicht zitiert. Grammatikalische und orthografische Fehler finden sich im Original.
Gesetz vom 24. Mai 1885 („Gesetz, womit strafrechtliche Bestimmungen in Betreff der Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalten getroffen werden“), RGBl. 89.
Eine Erwähnung dieser Drohung findet sich in den Akten in mehreren Fällen.
Kriminalpolizeistelle Wien: Anordnung der polizeilichen Vorbeugungshaft, Stamm-Zl. I C‑2750, Wien, 17. Oktober 1938, Archiv der Gedenkstätte Flossenbürg (AGFl) S.27.0226_2455__ITS_109924.
Bei allen Interviewten handelt es sich um die Ersten in der Familie, die mit der Recherche über die deportierten Familienmitglieder begonnen haben.
Diese Episoden umfassen Inhalte des familialen Dialogs ihres Großvaters Johann Wagner, ihres Großvaters väterlicherseits, ihrer Mutter, ihres Onkels und ihres Sohnes. Wer welche Episoden vermittelt hat, ist anhand der Erzählung von Sabine Pichler häufig nicht zuordenbar.
An anderer Stelle wird sie konkreter und meint: „Er hat immer in einer so einer seitlich kauernden Position geschlafen und hat nie aufgehört in der Position … oder dass er in der Nacht einfach ahm mmm, dass da in dass er in der Nacht natürlich Anfälle hatte oder solche Sachen ja, oder, a lange aufgestanden ist und salutiert hat ah, ww automatisch und solche Sachen = ja.“.
Die vielen wiedergegebenen Episoden ihres Großvaters verweisen auch darauf, dass er seine Privilegiertheit gegenüber anderen Leidenden reflektiert und vermittelt hat.
Mitten im ersten Interview durchbricht Sabine Pichler die Rollenverteilung des Interviews durch eine weitgehende Frage an Andreas Kranebitter: „Aber ich glaub, das sind halt einfach nur so Episoden, weil der muss es ja, er muss ja gewohnt gewesen sein, diesen, den Tod ununterbrochen und diese Brutalität […] die haben’s einfach immer nur, gehaut und prügelt und, //mhm//ja, aber was erzählt Ihre Familie?“.
Diese Abwehrstrategie äußerte sich auch darin, dass Johann Wagners Wunsch, gemeinsam mit der Familie die KZ-Gedenkstätte Mauthausen aufzusuchen, nicht entsprochen wurde. Erst nach seinem Tod besuchen Sabine Pichler und ihre Mutter die Gedenkstätte. An anderer Stelle erzählt sie: „Ich hab dann eh der Mutti gesagt: ‚Nichts, Mama, von dem, was, ah, was, was er erzählt hat, hat nicht gestimmt‘.“.
Sabine Pichler ist mit diesem Täterverdacht immer wieder konfrontiert, zuletzt, wie sie im Interview erzählt, als wir sie für das zweite Interview kontaktieren. Als Sabine Pichler den Anruf ihren anwesenden Bekannten erklärt, meint eine Freundin: „‚Na, ist ja a Wunder, dass der des über‘,– also wieso da der so überlebt hat, so quasi, wer weiß, was der gemacht hat da, also drinnen, a‑ aber das erleb ich a‑ oft, ja.“.
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Danksagung
Für Hinweise danken wir Brigitte Halbmayr, Nicole Hofmann, Katharina Kniefacz, Ingo Pohn-Lauggas, Christoph Reinprecht, Margarita Wolf, den beiden anonymen GutachterInnen und den Fördergebern.
Förderung
Das Projekt Stigmatisierte Familienvergangenheiten: lntergenerationale Erinnerungsprozesse und Narrative von Nachkommen von „Berufsverbrechern“ (Leitung: Andreas Kranebitter, Maria Pohn-Lauggas, Mitarbeit: Elisabeth Mayer, Margarita Wolf) wird vom Zukunftsfonds der Republik Österreich (Projektnummer P18-3115), vom Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus sowie von der KZ-Gedenkstätte Mauthausen gefördert.
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Kranebitter, A., Mayer, E. & Pohn-Lauggas, M. Von Taugenichtsen und No-Gos. Narrative in den familialen Erinnerungen stigmatisierter NS-Opfer. Österreich Z Soziol 45, 315–336 (2020). https://doi.org/10.1007/s11614-020-00420-1
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