Zusammenfassung
Ausgehend von der Videoaufzeichnung der „Punk Prayer“-Aktion der russischen Performance- und Aktionsgruppe Pussy Riot sowie von unterschiedlichen Theorieansätzen geht dieser Beitrag der Frage nach: Was ist Protest, wie lässt er sich von anderen sozialen Phänomenen unterscheiden, und welche Rolle spielen die bildbasierten Vermittlungs- und Verbreitungsmedien für die Protestkommunikation? Es werden die wichtigsten Merkmale der Protestkommunikation anhand ihrer Problemlagen ausgearbeitet und die Bewältigungsmechanismen, die besondere Bedeutung der Massenmedien sowie die Wichtigkeit visueller Formung der Protestkommunikation aufgezeigt.
Abstract
This contribution examines the relevance of mass media for protest and especially of the visualisation of protest communication. Central questions are: What is a Protest and how could it be distinguished from other social phenomena? The goal of the article is to show the main challenges, the most important coping strategies and key characteristics of protest communication. The analytical outcome of this article is based on the interpretation of “A Punk Prayer” Video by the Russian band Pussy Riot as well as sociological theories of social systems and knowledge.
Notes
Mit „Putin kaputt!?“ gelingt Mischa Gabowitsch (2013) eine sehr gut informierte Darstellung politischer Verhältnisse im Umfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Russland 2011/12, mit einem besonderen Fokus auf die Demonstrationen, die oppositionellen Protestbewegungen und den Fall Pussy Riot. Seine Erklärung zielt auf die Kontextualisierung des Falles in innenpolitischen Zusammenhängen.
Die Interpretation des Videos erfolgt im Sinne der wissenssoziologischen Videohermeneutik, deren zentrales Verfahren die Sequenzanalyse darstellt (Raab 2008). Die feinanalytische Auslegung des Materials versucht unterschiedliche Sinnebenen deutend zu verstehen und gliedert dabei das Datum in Handlungen vor der Kamera, Kamerahandlungen und Nachbearbeitungstechniken (Joller et al. 2016). Der Versuch des Beitrags gilt der Bildung eines Idealtypus, über die Analyse des Einzelfalles hinaus, wobei vornehmlich die Prinzipien der Grounded Theory als wegleitend beachtet wurden (Glaser und Strauss 1998).
Unter dem Establishing Shot wird die erste Einstellung oder die einführende Sequenz verstanden, welche, meist in der Totale, den Ort des Geschehens aufzeigt. So fangen beispielsweise Übertragungen der Fussballspiele mit den Luftaufnahmen des Stadions an. Im Fall des „Punk Prayers“ wird jedoch die Christ-Erlöser-Kathedrale als abschließendes, letztes Bild des Videos gezeigt.
Im Sinne Stuart Halls ließe sich die Protestaktion unter dem Aspekt der „Enttotalisierung“ bzw. „Dekodierung“ des „hegemonialen Kodes“ sowie der darauf folgenden „Re-Totalisierung“ derselben seitens der Akteurinnen im Sinne einer „oppositionellen Lesart“ (Hall 2004, S. 80) thematisieren.
Unter dem Motto „We are all Pussy Riot!“ versammelte die Musikerin Peaches die Sympathisantinnen und Sympathisanten der Band zu einer der unzähligen Solidaritätsaktionen für die Freilassung der verhafteten Mitglieder.
Die gängige Erscheinungsform massenmedial tradierter Protestereignisse fokussiert öffentliche Räume bzw. Plätze, auf denen etwas passiert: Spaziergänge, Krawalle, Sitzblockaden o. ä. Das Dargebotene wird dabei mit den Darstellungsroutinen der Massenmedien überfrachtet (vgl. Abb. 1). Die Selbstdarstellung der Protestgemeinschaft in den sozialen Medien zeichnet sich andererseits dadurch aus, dass unzählige Videos, Fotos etc. in den Umlauf kommen.
Der Misserfolg der Occupy-Bewegung lässt sich sicherlich zum Teil mit der unzureichenden Konturierung des Gegners erklären.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte bei einem offiziellen Besuch in Moskau und in der Gegenwart Putins ihr Unverständnis für die Verhaftungen der Bandmitglieder und sagte dabei schamfrei das Wort „Pussy“ in die Kameras der Öffentlich-Rechtlichen Medien. Es stellt sich die Frage, ob überhaupt andere Kontexte vorstellbar sind, welche die Verwendung dieses Wortes seitens eines politischen Medienprofis in der Öffentlichkeit erlauben?
Soeffner (2008, 2010a) betont in seinen Analysen die Fähigkeit der symbolischen Vermittlung, unterschiedliche, zum Teil konträre Bedeutungsschichten aufzunehmen und sie als Einheit erscheinen zu lassen. Dies ist für die Protestkommunikation ein überaus wichtiger Aspekt, da sie gerade wegen fehlender Strukturen, schwacher Institutionalisierung und sehr stark ausgeprägter Ereignishaftigkeit nicht vom Konsens aller Mitglieder und potentieller Anhänger ausgehen kann.
Ferdinand Sutterlüty definiert die 2012 in englischen und französischen Vorstädten stattgefundenen „Riots“ als „normativ motivierte Erscheinungen“ und „moralische Eskalationen“ (Sutterlüty 2013, S. 17).
Bei seiner Analyse fokussiert Soeffner insbesondere relativ repetitive Strukturen und Rahmen der Proteste, wenn er sie als „Rituale des Antiritualismus“ (Soeffner 1995) definiert.
Rucht stellt eine signifikante Zunahme der gewaltsamen und „kreativen“ Protestformen in den letzten 50 Jahren fest (Rucht 2015, S. 281).
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Stanisavljevic, M. Widerständige Kommunikation – Protest im Spannungsfeld von Massenmedien und Ästhetik. Österreich Z Soziol 41, 123–148 (2016). https://doi.org/10.1007/s11614-016-0194-x
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