Shmuel N. Eisenstadt (1923–2010) hat, ausgehend von seinen frühen Untersuchungen zu sozialem Wandel (1963; 1966; 1979) und seinen umfangreichen historischen zivilisationsvergleichenden Studien zu den Achsenzeitkulturen (dt.: 1987; 1992), vor allem in den letzten Jahren seines Schaffens das Konzept der Multiple Modernities entwickelt. Dieses ist Konsequenz und Umsetzung eines langjährigen Forschungsprogramms, das methodologisch von einer sukzessiven Abgrenzung zu funktionalistischen Modernisierungstheorien sowie dem Anliegen einer kritischen Weiterführung des Weber’schen Programms einer komparativen Soziologie gekennzeichnet ist (Weil 2010, S. 453). Ins Zentrum der Analysen rückten zunehmend die unterschiedlichen und jeweils zivilisationsspezifischen Konfigurationen der Beziehungen zwischen Handeln, Sozialstruktur und Kultur sowie die Betonung der Bedeutung von Protestbewegungen und des charismatischen Potenzials von Eliten sowohl für die Erklärung dieser Strukturformen als auch des sozialen Wandels. Diese Perspektive ist schon in seinen frühen Arbeiten präsent, aber erst über „Die Antinomien der Moderne“ (1998) und insbesondere mit seinen Arbeiten zu den multiplen Modernen (2000; 2003; 2006; 2007; 2011) hat Eisenstadt dann „wie kaum ein anderer (…) im kreativen Anschluss an die klassische soziologische Tradition die Perspektive einer Dezentrierung okzidentaler Selbstbeschreibungen eröffnet.“ (Koenig 2005, S. 60)

Seinen systematischen Ausgangspunkt findet das Konzept der Multiple Modernities im Rückgriff auf eine ontologische Tiefendimension, nämlich der sozial und kulturell wirksamen Spannung zwischen transzendentaler und weltlicher Ordnung. Die Ausformulierung dieser Spannung in Form von Kosmologien ist ein konstitutives Merkmal aller frühen Achsenzivilisationen; deren spannungsimmanente heterodoxe Potenziale sind dann aber, zunächst in den großen politischen Revolutionen der europäischen und anschließend der amerikanischen Modernen, weiter ausbuchstabiert worden. Damit vertritt Eisenstadt die These, dass die kontinuierliche Bearbeitung dieser Spannung in historisch vielfältig vermittelter Form bis in gegenwärtige moderne soziale Strukturbildungen, institutionelle Formen und interpretative Deutungsmuster fortwirkt. Da ihm zufolge (2006, S. 160) die Prozesse auf der sozialstrukturellen, der institutionellen und der kulturell-symbolischen Ebene unabhängig voneinander verlaufen können, werden differente zivilisatorische Muster generiert. Mit dem Zivilisationsbegriff wird zugleich eine analytische Ebene eingezogen, die zwischen der Perspektive des methodologischen Nationalismus und der konvergenztheoretischen Perspektive einer Weltgesellschaft angesiedelt ist und den Zugriff auf soziokulturelle Phänomene und Eigenlogiken ermöglicht, die aus der Perspektive einer einzigen Moderne als nachrangig oder als transitorisch erscheinen mögen.

Das Konzept der Multiple Modernities geht in seiner Kernaussage mithin nicht von Variationen einer einzigen globalen Moderne aus, sondern von einer Vielzahl an Modernen, welche sich zeitlich nach und sowohl in Konfrontation als auch in Auseinandersetzung mit der ersten, europäischen Moderne (der „zweiten Achsenzeit“) in inner- und interzivilisatorischen Konstellationen mit institutionellen und kulturellen Besonderheiten herausgebildet haben, aber gleichwohl an den Kern der Kultur der (ersten) Moderne, deren „beispiellose ,Öffnung‘ und Ungewissheit“ (Eisenstadt 2007, S. 24) anknüpfen. Es geht Eisenstadt also in kulturübergreifender Perspektive um die Genese eigenständiger (axialer und nicht-axialer) Zivilisationsmuster, womit er sich explizit gegen die konvergenztheoretischen Annahmen der klassischen Modernisierungstheorien und auch einiger Globalisierungstheorien wendet. In ihrem handlungs- und konflikttheoretischen Design benennt die Theorie zudem auch einen Mechanismus sozialen Wandels, der von der Theoriearchitektur her Mikro- und Makroebene miteinander zu verknüpfen beansprucht und auf diese Weise sowohl simplifizierende klassische modernisierungstheoretische Annahmen eines am westlichen Entwicklungsweg orientierten universal gleichartig ablaufenden Prozesses als auch Vorstellungen von monokausalen Entwicklungslogiken unterläuft. Die multiplen Modernen stellen sich vielmehr als das zeitlich situierte Ergebnis eines mit historischen und zivilisatorischen Traditionen beladenen, gleichwohl aber offenen und konflikthaft verlaufenden Prozesses sozialen Wandels dar.

Mit dieser Konzeptualisierung hat Eisenstadt eine neuerliche grundsätzliche Diskussion der „klassischen Fragen“ zur Genese und Entwicklungsdynamik der Moderne(n) im nunmehr globalen Kontext ausgelöst. Diese hat ihren Niederschlag in vielen Themenbereichen und Disziplinen gefunden – in der Historischen Soziologie und Zivilisationstheorie; in der Religionssoziologie; in den rezenten postkolonialen Studien und nicht zuletzt auch in der neueren Globalgeschichte. Die Aufnahme ist dabei durchaus kontrovers ausgefallen.

Während einige Autoren (z. B. Arnason 2003; Inglis 2010; Knöbl 2010, S. 88 ff.; Spohn 2010; Preyer 2011, S. 219 ff.) in Auseinandersetzung mit und auch in Abgrenzung von konkurrierenden theoretischen Strömungen primär versuchen, die Fruchtbarkeit des zivilisationstheoretischen Konzepts der Multiple Modernities für theoretische und methodologische Fragestellungen und dessen Anwendbarkeit auf empirische Phänomene und Prozesse aufzuzeigen sowie Präzisierungen des Begriffsapparats und der Theoriearchitektur vorgeschlagen haben, gibt es aber auch eine Reihe kritischer Stellungnahmen und grundsätzlicher Einwände (siehe z. B. Koenig 2011, S. 705 f.; Schmidt 2006, 2008, 2010a, b; Schwinn 2009, S. 463 ff.). So wird bemängelt, dass Eisenstadt keine elaborierte Theorie der Modernisierung und Globalisierung vorgelegt hat und letztlich doch von einem singulären Ursprung der Moderne ausgeht; das Verhältnis von Konvergenz und Differenz unzureichend diskutiert wird; er primär typologisierend arbeitet, eine detailliertere Aufarbeitung interzivilisatorischer Begegnungen ausständig sei; die These der Bedeutsamkeit einer achsenzivilisatorischen Erbschaft für die Ausbildung multipler Modernen strittig ist; sein Zugang generell als kulturlastig zu kritisieren wäre, usf.

So zutreffend manche Kritikpunkte auch sein mögen, so bleibt doch festzuhalten, dass auch anders ansetzende Analysen zu Moderne, Modernität, Modernisierung, Globalisierung, Weltsystem (um nur einige mehr oder minder ausdifferenzierte theoretische Konzepte zur Charakterisierung und Erklärung von langfristigen gesellschaftlichen Transformationsprozessen auf nationaler, regionaler und globaler Ebene zu nennen) ihrerseits die monierten Grundprobleme bisher nur unzureichend zu lösen vermochten. Auch ihnen kann Reduktionismus und Vereinseitigung i. S. von Ökonomismus oder Kulturalismus vorgeworfen werden (überblicksweise Schwinn 2009). Die Gefahr eines solchen Bias wird häufig noch verschärft durch eine mangelhafte historische und geographische Tiefendimensionierung der Modelle, und das sowohl in synchroner als auch in diachroner Perspektive. Die aus Sicht der Historischen Soziologie unhintergehbare Aufeinanderbezogenheit und wissenschaftslogische Einheit von Soziologie und Geschichte, wie sie sich im Satz von Norman Gottwald „history without sociology is blind, sociology without history is empty“ (zit. nach Goudsblom 1996, S. 30) widerspiegelt, ist in vielen Ansätzen defizitär gelöst.

Nun ist der Tatbestand der mangelhaften Soziologisierung der Geschichte und der mangelhaften Historisierung der Soziologie als solcher nicht neu, aber er hat in der Diskussion um die Moderne wiederum an Aktualität gewonnen. Dazu beigetragen haben sicherlich, neben dem zivilisationstheoretischen Impetus, den die Eisenstadt’sche Historische Soziologie eingebracht hat, auch rezente postkoloniale Ansätze und Debattenbeiträge sowie außereuropäische Modernediskurse (Comaroff und Comaroff 2012; Kerner 2012; Schelkshorn und Abdeljelil 2012), die die klassische, in aller Regel westzentrierte Perspektive auf die Moderne kritisch hinterfragen.

Während die Historische Soziologie seit den 1970er-Jahren international an Bedeutung gewonnen hat, ist sie im deutschsprachigen Raum, trotz der historischen Ausrichtung der klassischen deutschen Soziologie, zweifelsohne nicht besonders außenwirksam aufgestellt (Spohn 1998, S. 289 ff.). Umso interessanter erscheint es daher zu erkunden, welche Resonanz der international intensiv diskutierte Ansatz von Shmuel N. Eisenstadt (Arjomand und Tiryakian 2004; Ben-Rafael und Sternberg 2005; Yair und Gazit 2010; Rosati und Stoeckl 2012; Arjomand und Reis 2013) mit seiner „universalhistorisch vergleichenden Konzeptualisierung unterschiedlicher institutionell-kultureller Entwicklungsbahnen von traditionellen zu modernen Gesellschaften“ (Spohn 1998, S. 302) im deutschsprachigen soziologischen Diskurs findet. Dieses Themenheft soll dazu einen Beitrag wie auch einen Anstoß für eine vertiefende Auseinandersetzung mit seinem Konzept liefern.

In seinem das Heft eröffnenden Beitrag nimmt Thomas Schwinn den mit dem Konzept der Multiple Modernities erneut angefachten Diskurs um Moderne und Modernität zum Anlass, das klassische soziologische Grundkoordinatensystem zur Bestimmung der Moderne auf den Prüfstand zu stellen. Die Erörterung tradierter Differenzierungslinien wie z. B. Tradition – Moderne, Universalien – Vielfalt der Erscheinungsformen und aktueller theoretischer Beiträge etwa im Neomodernismus oder in der postkolonialen Soziologie zeigt die Probleme auf, neue Orientierungsstandards in der Diskussion um die Moderne zu gewinnen. Aus Sicht des Autors befinden wir uns derzeit in einer begrifflichen und theoretischen Suchbewegung nach einer problemadäquaten Konzeptualisierung von Einheit und Vielfalt der Moderne.

Marian Burchardt und Monika Wohlrab-Sahr nähern sich aus religionssoziologischer Perspektive dem Eisenstadt’schen Konzept an. Sie suchen eine Forschungslücke der auf ihm aufbauenden Theoriebildung zu schließen und die Vielfalt zivilisatorischer Prägungen um die Dimension Religion/Säkularität zu erweitern. Die von ihnen an anderer Stelle konzeptualisierte systematische Verknüpfung von Multiple Modernities mit aus dem kulturhistorischen Vergleich gewonnenen Idealtypen von Multiple Secularities wird kurz vorgestellt und hier auf das Beispiel der indischen Zivilisation bezogen. Die Herausbildung der spezifisch indischen Variante des Säkularismus erschließt sich in einer Rekon-struktion der durch die große Diversität des Landes geprägten Auseinandersetzungen mit und zwischen den religiösen Bewegungen.

Der Beitrag von Manuela Boatcă setzt an der Kritik am Konzept der Multiple Modernities an. Diese zielt insbesondere auf den kulturalistischen Bias ab und stellt das historische Primat der westeuropäischen Moderne in Frage: Eisenstadt setze letztere als endogen entstandenen Bezugspunkt globaler Geschichte unter Verkennung der strukturell-relationalen globalen Verbundenheit von Gesellschaften und Zivilisationen, die durch Machtbeziehungen und Kolonialismus gekennzeichnet sind. Als alternative Zugänge werden von der Autorin die postkolonialen Konzepte der verwobenen Modernen sowie der Dekolonialitätsansatz in Abgrenzung zum Multiple-Modernities-Konzept erörtert, um sich abschließend der Frage zuzuwenden, welche erkenntnistheoretischen Postulate sich für eine globale Soziologie aufstellen lassen.

Auch der Beitrag von Verena Gebhart und Martin Steinlechner nimmt seinen Ausgangspunkt in der kritischen Aufarbeitung des Eisenstadt’schen Konzepts der Multiple Modernities. Die Autoren konstatieren eine kulturlastige Argumentation, die zur Vernachlässigung von strukturellen und universalistischen globalen Tendenzen führe. Die den Wandel im Zeitalter der Globalisierung kennzeichnende Gleichzeitigkeit von Universalem und Partikularem, von Einheit und Vielfalt, das kontingente Zusammenspiel von strukturellen, institutionellen und kulturellen Momenten möchten sie mit Hilfe der Foucault’schen Dispositivanalyse neu denken, was die Autoren zur Skizzierung einer ,Matrix der Moderne‘ führt. Diese Denkfigur soll die häufig einseitige Auflösung der Dichotomie von Vielfalt und Einheit überwinden.

Scheinbar am Rande der Diskussion um Eisenstadts Neufassung der Modernisierungstheorie bewegt sich der Beitrag von Christel Gärtner, die diese für die historische Generationensoziologie nutzen möchte. Sie plädiert für eine systematische Verbindung von Eisenstadts Verständnis von Jugend- und Studentenbewegungen als Protestbewegungen im Hinblick auf die durch sie bewirkten Strukturveränderungen und Mannheims Generationenansatz. Stellt man die Rolle von Protestbewegungen in Eisenstadts Erklärung sozialen Wandels in Rechnung, so beschäftigt freilich auch sie sich mit einem für unsere Fragestellung nach den Chancen und Grenzen des Konzepts der Multiple Modernities bedeutsamen Problem, zumal sie die Veränderung von deren Stellenwert im Werk von Eisenstadt rekonstruiert.