1 Der Klimawandel im Zeitalter des Anthropozän

Vortrag auf dem 12. Kongress für psychodynamisches Coaching „Umbruch – Der Beitrag psychodynamischen Coachings zur nachhaltigen Transformation“ am 02.–03.06.2023 in Kassel.

Der Klimawandel und die ökologische Krise haben heute große gesellschaftliche Aufmerksamkeit gefunden, stellen sie doch eine globale Bedrohung dar, für die es im 21. Jahrhundert keinen Vergleich gibt. Nichts weniger als die Bewohnbarkeit der Erde steht zur Disposition, wenn die Erderwärmung nicht doch noch gestoppt werden kann. Die Zerstörungen der planetaren Ökologie haben inzwischen Schwellenwerte erreicht, bei denen unumkehrbare Umweltveränderungen bis hin zu einem Zusammenbruch des Erdsystems drohen. Wenn die sibirischen Permafrostböden auftauen und Methangase den Treibhauseffekt so weit zusätzlich anheizen, dass sich der Jet Stream verlegt und permanent Warmluft nach Grönland führt, dann wird ein ansteigender Meeresspiegel weltweit Küstenregionen versenken und zugleich eine Hitzezeit mit einer Erderwärmung um bis zu 4 Grad ausbrechen. Halbe Kontinente würden sich in ökologische und zivilisatorische Wüsten verwandeln. Globale Klimakonflikte, zusammenbrechende Ökonomien, soziale Entropien und zerfallende Staaten wären die Folge.

Aktuell sind wir mit einer wahren Kaskade bedrohlicher Nachrichten konfrontiert. Die Internationale Energieagentur berichtet, dass die Weltwirtschaft 2021 den stärksten Anstieg von CO2-Emissionen in der dokumentierten Geschichte der Menschheit verzeichnet hat. Hitzewellen mit Temperaturen bis zu 50 °C durchziehen den indischen Subkontinent und lassen in vielen Weltregionen die Böden verdorren und die Gefahr von Hungersnöten entstehen. Die Pole schmelzen mit bisher kaum vorstellbarer Geschwindigkeit, in der Arktis mit Temperaturen um 30 Grad über den saisonalen Durchschnittswerten, in einigen Teilen der Antarktis um bis zu 40 Grad. Und ein jüngster Bericht des Weltklimarats kommt zu dem Befund, dass die 1,5-Grad-Schwelle des Pariser Klimaabkommens, die eigentlich erst zum Jahrhundertende erreicht werden sollte, möglicherweise schon 2026 überschritten werden könnte.

Gleichzeitig kann man den Wirtschaftsnachrichten entnehmen, dass die großen Ölkonzerne wie Exxon, Total, Shell und BP weltweit Milliarden in neue Plattformen, Pipelines, Terminals und Bohrinseln fließen lassen, um Investitionen in die Förderung von geschätzt weiteren 116 Billionen Barrel Öl zu realisieren. Die großen Konzerne des fossilen Zeitalters scheinen vom Klimawandel völlig unbeeindruckt zu sein und gewillt, die Erde buchstäblich verbrennen zu lassen, solange, wie gerade im Augenblick, noch große Gewinne realisiert werden können.

Auch im Alltag der Menschen hat der Klimawandel seine Spuren hinterlassen. Themen wie der Autoverkehr, Flugreisen, Konsumverhalten, Tierhaltung, Fleischverzehr, die Beheizung von Häusern und der Energieverbrauch sind zu gesellschaftlichen Streitpunkten geworden. Vielfach werden in der Öffentlichkeit Debatten über die Richtigkeit eines nachhaltigen Lebensstils geführt und wie er im Einzelnen aussehen sollte. Da diese Themen – wie wir im Augenblick gerade wieder erleben – zwischen verschiedenen sozialen Milieus und Altersgruppen äußerst kontrovers und emotional hochgradig aufgeladen sind, nimmt es kein Wunder, dass diese gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um eine ökologisch verträgliche Lebensführung mit wechselseitigen Vorwürfen, mit Schuldzuweisungen und Schamgefühlen verbunden sind. Flugscham und Klimaschuld, Ekelfleisch und der peinliche Billigurlaub sind als öffentlich kommunizierte Bewertungen uns weithin bekannt. Fast scheint es, als rücke das Zeitalter des Anthropozän, das den Menschen, den anthropos, als einen bestimmenden geologischen Faktor betrachtet, vor allem als schuldiges Subjekt in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Aufmerksamkeit. Seit auf dem Weltklimagipfel in Rio de Janeiro 1992 erstmals konkrete Ziele einer nachhaltigen Umgestaltung alltäglicher Praktiken in Bereichen wie Mobilität, Konsum, Ernährung und Bekleidung formuliert worden sind, hat sich ein moralischer Diskurs etabliert, der eine Grundlage für zahlreiche Zuschreibungen von persönlicher Verantwortlichkeit für die Zukunft der Erde bildet.

2 Nachhaltige Entwicklung: Generationengerechtigkeit und „climate justice“

Diese „Responsibilisierung“, also die Verantwortungszuschreibung, wie die aktuelle Forschung dies nennt (Henkel et al. 2018), bezieht sich insbesondere auf den Maßstab des „ökologischen Fußabdrucks“, der in den 1990er-Jahren von den beiden Ökologen Mathis Wackernagel und William Rees (1997) als einflussreiches Instrument für die Ermittlung des Ressourcenverbrauchs von Individuen, Haushalten, Gemeinden, Regionen und Staaten entwickelt worden ist. Mittlerweile wird die Bemessung des ökologischen Fußabdrucks sowohl von der Umweltpolitik als auch in der Öffentlichkeit weltweit als Nachhaltigkeitsindikator verwendet. Da mit dem ökologischen Fußabdruck zugleich die Belastungsgrenzen des Erdsystems ins Verhältnis gesetzt werden, nimmt Nachhaltigkeit die Gestalt eines moralischen Imperativs an, der dem Schutz des Planeten und somit der Lebensgrundlagen aller dient. In der Folge werden Praktiken und Lebensstile als umweltfreundlich oder klimaschädlich, als nachhaltig oder verantwortungslos klassifiziert. Als beschämende Praktiken gelten etwa übermäßiger Fleischgenuss, exzessiver Wegwerfkonsum, All-Inclusive-Tourismus, Kreuzfahrten und Flugreisen. Ihnen werden vegetarische oder vegane Ernährung, Konsumverzicht, regionale Individualreisen und emissionsarme Mobilität gegenübergestellt.

Eine besonders starke moralische Wertigkeit erhält die Verantwortungszuschreibung durch ihre Verknüpfung mit Gerechtigkeitsfragen. Schon in der sogenannten Brundtland-Definition von „nachhaltiger Entwicklung“ wurde als normatives Leitbild formuliert, Gesellschaften so zu organisieren, dass sich gegenwärtiges Handeln nicht restriktiv auf die Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung künftiger Generationen auswirkt (Brundtland et al. 1987). Die hier angemahnte Generationengerechtigkeit wird im letzten Jahrzehnt verstärkt mit der Forderung nach globaler Gerechtigkeit und insbesondere nach Climate Justice verbunden. Klimaschädliche Verhaltensweisen und Konsumpraktiken gelten vor diesem Hintergrund als Ausdruck einer „imperialen Lebensweise“, was vielfältige Anknüpfungspunkte für Beschämungen und Schuldzuweisungen enthält, die in der Klimaforschung wie auch im öffentlichen Diskurs auf ganze Bevölkerungsgruppen adressiert worden sind.

3 Scham und Schuld im Klimadiskurs

So ist mittlerweile ein eigenes Genre der publizistischen Mittelschichtsverachtung entstanden. Insbesondere den urbanen und akademisch gebildeten Mittelschichten wird vorgehalten, ein gutes Leben auf Kosten anderer zu führen und sich zugleich in moralischer Überheblichkeit zu gefallen. In Umweltfragen, für die sich diese Mittelschichten doch etwa in ihren Parteipräferenzen so stark engagieren, sollen sie einer reinen Prätention folgen, hinter der sich im Wesentlichen Öko-Bigotterie und die bekannten Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit verbergen (vgl. etwa Blühdorn et al. 2020). Bei den öffentlichen Beschämungsversuchen solcher Inkonsistenzen wird an klischeehaften Bildern aus dem Album der üblichen Vorurteile gerade dann nicht gespart, wenn sie etwa die Klimabewegung der jüngeren Generation betreffen. Und so kann man auch in der deutschen Qualitätspresse lesen, wie „Fridays for Future“ ein „Klima-Aktivismus im Jetset-Modus“ angekreidet wird und jungen Mitstreitern der „Letzten Generation“ eine Flugreise nach Bali.

Wenn Schuld und Scham dazu verwendet werden, inkonsistentes, bigottes oder auch faktisch umweltschädliches Verhalten in Misskredit zu bringen, hat dies freilich auch Nebenfolgen. Unterschiedliche Lebensrealitäten und Wertorientierungen werden an einem einheitlichen Maßstab bemessen, womit ökologisch verträgliche Verhaltensweisen zwangsläufig eine Vorbildfunktion erhalten, die auch zur „ökologischen Distinktion“ der eigenen moralischen Überlegenheit einladen kann. Was man selbst aus ökologischen Gründen bevorzugt und auch tatsächlich zu praktizieren vermag, sollten andere Sozialgruppen unbeschadet ihrer jeweiligen Lebenswirklichkeiten ebenfalls tun, wollen sie nicht mit einem Makel behaftet sein. Hiergegen regt sich mitunter ein medial verstärkter Unwillen, der sich als Kritik an Moralaposteln und einer vermeintlichen „grünen Verbotspolitik“ artikuliert. Dieser Unwille wird insbesondere von rechtspopulistischen Bewegungen, Parteien und Regierungen geschürt, um ihre eigene klimaschädliche Politik als Verteidigung von Bürgerrechten auszugeben.

4 Die Fehlschlüsse des „ökologischen Fußabdrucks“

Der moralische Diskurs, der sich zu alledem etabliert hat, ist nicht voraussetzungslos. Damit er die Grundlage für Zuschreibungen von persönlicher Verantwortung und für die Individualisierung komplexer ökologischer Probleme bilden kann, bedarf er eines wissensbasierten Fundaments und einer methodischen Operationalisierung. Zu den operativen Techniken, welche die Verantwortungszuschreibung im öffentlichen Diskurs erst mit einer unbestreitbaren Evidenz ausstatten, gehört zentral eben jenes Messinstrument des ökologischen Fußabdrucks, das ich bereits erwähnt hatte. Der Ecological Footprint ermöglicht ein individuelles Feedback auf die ökologischen Auswirkungen des jeweiligen Verhaltens und bietet sich an, in der persönlichen Lebensführung als eine regulierende Instanz der eigenen Umweltverträglichkeit angeeignet zu werden.

Beim ökologischen Fußabdruck werden in der Regel sechs Domänen unterschieden, in denen die jeweiligen Konsummuster und Lebensstile ausschlagegebend für das Ausmaß der Umweltbelastung von Personen und Haushalten sind: Ernährung, Wohnen, Mobilität, Konsumgüter, Freizeit und DienstleistungenFootnote 2. Doch so einflussreich die Maßeinheit des ökologischen Fußabdrucks für die Bewertung von Lebensstilen heute ist, so eindeutig weist die Konstruktionsweise dieses Messinstruments mehr als nur ein folgenreiches Bias auf. Erklärtermaßen wird dem ökologischen Fußabdruck in der Umweltpolitik deswegen so viel Gewicht beigemessen, weil man sich von einem Übergang zu einem kohlenstoffarmen Konsumstil relativ schnell positive Auswirkungen auf den Klimaschutz verspricht, ohne dass dafür ein ökologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft erforderlich wäre. Da die Konsumsphäre, so heißt es, vergleichsweise wenig in die bestehenden Infrastrukturen eingebunden sei, könnten sich ökologische Umstellungen des Konsums relativ schnell auf die CO2-Bilanz auswirken. Die strukturell in Wirtschaft, Technologie und Institutionen verankerten Emissionsursachen bleiben dabei ausgespart. Mit anderen Worten, wir haben es hier mit einem Messinstrument der Individualisierung ökologischer Schäden zu tun, als dessen Vorzug ausgerechnet das Absehen von umweltschädlichen Versorgungseinrichtungen und Infrastrukturen begriffen wird.

Auch die Ursachen und das jeweilige Ausmaß ökologischer Schäden werden durch diese Art der Vermessung individualistisch verzerrt. Wer jemals mit einem der zahlreichen Internettools seinen eigenen ökologischen Fußabdruck errechnet hat, weiß, dass jede einzelne Flugreise dafür sorgt, dass sich der Fußabdruck in eine orthopädische Übergröße verwandelt. Insgesamt jedoch trägt der weltweite Passagierflugverkehr allenfalls 3 bis 4 % zu den Treibhausgasemissionen bei. Selbst den so reisefreudigen Deutschen werden in ihren durchschnittlichen CO2-Bilanzen nur 6 % ihrer Treibhausgase durch Flugreisen in Rechnung gestellt. Doch während der viel beschworene Mallorca-Urlaub für die öffentliche Flugscham herhalten muss, sind es tatsächlich nur etwa 5 % der deutschen Bevölkerung, die – zumeist geschäftlich – überdurchschnittlich häufig fliegen und damit den Durchschnittswert des CO2-Ausstoßes beim Flugverkehr insgesamt anwachsen lassen.Footnote 3 Aus England liegen Daten vor, wonach ein Fünftel aller Flüge auf nur 1 % der Briten zurückzuführen ist, und ein schwedischer Tourismusforscher von der Universität Lund hat errechnet, dass Superreiche wie etwa Bill Gates durch Fliegen bis zu 10.000mal so viel CO2 freisetzen wie eine europäische DurchschnittspersonFootnote 4.

Eine weitere Schieflage ergibt sich in sozialstruktureller Hinsicht. Implizit geht die Bemessung des privaten Konsums im ökologischen Fußabdruck von einem Modus der Wahl in den Details der jeweiligen Lebensführung aus, was für verschiedene Sozialmilieus aber nicht in gleicher Weise der Fall ist. In der Ökonomie und im Ethos der oberen Mittelschichten herrscht eine gewisse Gewähltheit des Konsumstils vor, der anderen Sozialschichten fremd ist. Dabei versprechen ökologische Produkte und ein grüner Lebensstil sozialen Abstand nicht dadurch, dass sie etwa exklusive Güter oder Luxus für sich reklamieren. Sie repräsentieren vielmehr ein besonderes Wissen, dessen immaterieller Wert zu einem neuen Statussymbol geronnen ist und sich über eine kulturelle Präferenz für Nachhaltigkeit definiert. Da sich dieses Wissen zugleich als moralisch überlegen wahrnimmt, ist der ökologische Lebensstil weitgehend immun gegen Kritik und wenig sensibel dafür, wie stark er mittlerweile selbst Teil einer neuen Ungleichheitsordnung geworden ist (vgl. Neckel 2020).

Demgegenüber folgen die Konsummuster unterer Einkommensschichten einer anderen Logik. Hier versteht man die (stark begrenzte) Wahlfreiheit des Konsums als Belohnung für die Duldung der vielen Zwänge, die man im Alltag hinnehmen muss. Konsum gilt als das kleine eigene Reich der privaten Freiheit, in dem man etwas entscheiden kann, während man ansonsten nicht viel zu sagen hat. Der Kauf und Verbrauch von Konsumgütern hat kompensatorische Funktionen und richtet sich nach den Möglichkeiten. Pierre Bourdieu (1982) hat dies in seinen Sozialstudien einmal als „Notwendigkeitsgeschmack“ beschrieben, der Soziologe Andreas Reckwitz (2017, S. 350 ff.) in neuerer Zeit als eine Kultur des „Sich-Durchschlagens“ angesichts der vielen Widrigkeiten, die im Alltag zu bewältigen sind.

Konsum- und Lebensstile, die sich im ökologischen Fußabdruck vermessen lassen, sind daher auch nicht vorrangig Ergebnisse bestimmter „Einstellungen“, wie es in der Öffentlichkeit vorwiegend interpretiert wird. Die entsprechende Schlussfolgerung lautet dann häufig, dass ökologisch bedenkliche Praktiken Indikatoren bedenklicher Sozialmilieus sind, während vorzeigbarer Nachhaltigkeitskonsum die entsprechenden Sozialschichten adelt. Praktiken der Lebensführung gründen indes in materiellen Verhältnissen, in habituellen Mustern, in Konsumstandards und eben jenen Infrastrukturen, die der ökologische Fußabdruck als Bewertungsinstanz weitgehend außer Acht lässt.

Und schließlich finden im Maßstab des ökologischen Fußabdrucks die Nachhaltigkeitsinteressen der unteren Schichten, der Industriearbeiterschaft oder des Dienstleistungsproletariats keinen Platz. Bezeichnenderweise stellt „Arbeit“ keine Domäne dar, die der ökologische Fußabdruck für nachhaltigkeitsrelevant erachtet – möglicherweise, weil Arbeit kaum ohne ihre „Infrastrukturen“ zu bewerten ist. Jenseits der akademisch gebildeten Mittelschichten sind Beschäftigte häufig mit Belastungen am Arbeitsplatz, Gesundheitsgefährdungen im Job und umweltschädlichen Auswirkungen von Produktionsstätten und Betrieben konfrontiert. Ökologische Interessen wurzeln auch in den Produktionsbedingungen der Erwerbstätigkeit sowie im schlechteren Zustand ärmerer Wohnquartiere. Sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind durchschnittlich stärker von Umweltproblemen betroffen als sozial Bessergestellte. Sie verfügen meist auch nicht über das Einkommen und die Wissensbestände, die es braucht, um solche Belastungen zu vermeiden. So verwundert es nicht, dass in Haushalten mit einem monatlichen Nettoeinkommen von unter 2000 € die Umweltqualität vor Ort in der Regel besonders schlecht ist.

Das Feedback-System des ökologischen Fußabdrucks berücksichtigt all diese gesellschaftlichen Gesichtspunkte jedoch nicht. Wie vielfach in der öffentlichen Diskussion wird die Eindämmung des Klimawandels vor allem als individuelle Aufgabe jedes Einzelnen begriffen. Unzählig die Aufrufe, ein verantwortlicher Konsument zu sein, der die Rettung der Erde zu seinem persönlichen Anliegen macht. Ohne Frage müssen sich viele alltägliche Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Routinen ändern, die heute noch auf einem schonungslosen Umgang mit der Umwelt beruhen. Jeder ökologische Umbau bedarf zu seiner Realisierung der Verankerung in den Alltagswelten der Menschen. Die Frage ist nur, wie das möglichst nachhaltig und schnell erreicht werden kann, verbleibt uns doch nur noch ein knappes Jahrzehnt, um die dringlichsten Schritte bei der Eindämmung der Klimakrise zu vollziehen.

5 Ziele der Klimapolitik – die ökologische und die soziale Frage

Schauen wir uns in diesem Zusammenhang die offiziellen Ziele der deutschen Klimapolitik an, wie sie im Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 vereinbart worden sind. Laut Bundesumweltamt erzeugt jede in Deutschland lebende Person einen ökologischen Fußabdruck von etwa 11 t CO2-Äquivalenten, fast doppelt so viel wie im globalen Durchschnitt. Um die Pariser Klimaziele zu erreichen, müssten die CO2-Emissionen in Deutschland auf 3 t pro Kopf bis 2030 sinken. Allein in diesem Jahrzehnt ergäbe sich daraus in der Treibhausgasbilanz jedes Einzelnen eine notwendige Reduktion um mehr als 70 %.

Fasst man die Erreichung dieser Ziele als individuelle Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger auf, gerät Klimaschutz sofort an seine gesellschaftlichen und auch an seine stofflichen Grenzen. Weder Verzicht und Askese noch die Umstellung auf nachhaltigen Konsum können realistischerweise solche Minderungen in der persönlichen Öko-Bilanz erbringen. Bereits eine Studentin, die ein geringes Einkommen hat und wenig konsumiert, mit mehreren Mitbewohnerinnen auf engem Raum lebt, kein Auto besitzt, das Fahrrad oder den öffentlichen Nahverkehr nutzt und keine Flugreisen unternimmt, kommt heute auf etwa 5,5 t CO2 im Jahr und liegt damit um fast das Doppelte über dem besagten CO2-Budget. Selbst eine vegane Ernährung würde ihr nicht zu einem klimafreundlichen Leben verhelfen, fallen doch auch für die pflanzlich basierte Ernährungsweise bereits 1,2 t CO2 pro Jahr an, womit sie schon mehr als ein Drittel ihres persönlichen CO2-Budgets von 3 t verbrauchte.

Energiewirtschaft, Industrieproduktion, Verkehr, Landwirtschaft und Gebäude setzen hingegen fast 90 % aller Treibhausgasemissionen in Deutschland frei (Abb. 1). Zusammengenommen gehen dadurch etwa 83 % an CO2-Äquivalenten auf energiebedingte fossile Emissionen zurück. Angesichts dessen stellt sich das rein individuelle Bemühen um ökologische Nachhaltigkeit als weitgehend vergebliche Anstrengung heraus, weil es von den existierenden Infrastrukturen schlichtweg nicht zugelassen wird.

Abb. 1
figure 1

Kohlendioxid-Emissionen nach Sektoren in Deutschland 2019. (Quelle: Bundesumweltamt)

Auch täuschen individuelle Durchschnittswerte der Umweltbelastung darüber hinweg, dass die Emissionen tatsächlich sozial höchst ungleich verteilt sind. Während die ärmeren 50 % der deutschen Einkommensklassen mit etwa 6 t pro Jahr ungefähr so viel CO2 emittieren wie die eben angeführte ökologisch bewusste Studentin, beträgt der Ausstoß von Treibhausgasen bei den wohlhabendsten 10 % mit fast 33 t pro Jahr mehr als fünfmal so viel, beim reichsten 1 % mit 104 t mehr als das 17fache, um sich dann bei den Allerreichsten um das Hundertfache zu steigern (vgl. Neckel 2023 und Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Pro-Kopf-Emissionen nach Einkommensklassen in Deutschland 2021. (Grafik: Lalon Sander, Quelle: World Inequality Database 2022)

Auch tragen die ärmeren zwei Drittel der deutschen Bevölkerung am meisten zur Einsparung von CO2 bei. Zwischen 1991 und 2019 sind die Emissionen in Deutschland um mehr als ein Drittel gesunken, hauptsächlich durch eine erhöhte Energieeffizienz. Doch während die ärmeren zwei Drittel der Bevölkerung ihre Emissionen um mehr als 34 % reduzierten, sparte das reichere Drittel nur unterdurchschnittlich ein und legten die reichsten 10 % beim CO2-Ausstoß sogar um bis zu 10 % zu.

Ökologische Verzichtsforderung ohne jede soziale Differenzierung nehmen also gerade jene breiten Bevölkerungsgruppen in Haft, die deutlich geringer zu den Treibhausgasemissionen beitragen und wesentlich mehr an CO2 in den letzten Jahrzehnten eingespart haben. Damit wird auch in Ländern wie Deutschland der Klimawandel zu einem Gerechtigkeitsproblem, an dem sich soziale Konflikte um die faire Verteilung von Lasten entzünden.

In einer solchen Konstellation käme es für die Klimapolitik darauf an, „relative Mehrheiten“ und große Bevölkerungsgruppen für den ökologischen Umbau zu gewinnen. Politische Blockaden drohen jedoch insbesondere dort, wo Klimaschutz und ökologische Belange in soziale Interessen verstrickt sind, die auf ihre Berücksichtigung nicht lange warten können. Solange die Kosten für einen ökologischen Umbau hauptsächlich den unteren und mittleren Einkommensschichten aufgebürdet werden, sind sie kaum für Klimaschutz zu gewinnen. Mehrheiten für eine sozial-ökologische Transformation lassen sich nur erreichen, wenn die durchschnittlichen Haushalte und alle Haushalte darunter materiell und sozialpolitisch keinen Schaden nehmen und in ihren Lebenschancen von einer Politik des Gemeinwohls und der ökologischen Vorsorge profitieren. Dies erfordert eine ökologische Politik der Umverteilung – nicht nur „von oben nach unten“, sondern auch von privat zu öffentlich, um für die Herausforderungen der entscheidenden nächsten Jahre gewappnet zu sein.

Soll eine Klimakatastrophe noch abgewendet werden, wird man daher die soziale und die ökologische Frage gemeinsam in Angriff nehmen müssen. Ohne Auflösung von sozialen und kulturellen Frontstellungen wird der Klimakrise nicht beizukommen sein. Gegenwärtig spielen sich jedoch zahlreiche Konflikte zwischen sozialen Milieus um materielle Ressourcen, um Lebenschancen und Lebensstile und deren öffentliche Anerkennung ab. Nachhaltigkeit trat zu lange als eine moralische Aufforderung auf, zu der man sich individuell zu verhalten habe. Kostspieliger grüner Konsum, allgemeine Verzichtsappelle und das Vademecum eines vorbildlichen ökologischen Lebensstils ziehen zahlreiche soziale Abstoßungseffekte nach sich und bringen Milieus gegeneinander auf, die zur Lösung der dringendsten Umweltprobleme eigentlich gesellschaftlicher Allianzen bedürften. Dem Aufbruch in die Klimaneutralität steht das Beharren auf gewohnten Konsummustern ebenso im Wege wie der Individualismus einer grünen Selbstverwirklichung oder ein neoliberales Freiheitsverständnis, das sich auf Nutzenmaximierung und die private Willkürfreiheit beschränkt. Es braucht eine neue gemeinsame Politik, die allen eine Chance einräumt, teilhaben zu können am dringend erforderlichen ökologischen Wandel, ohne sich dafür in Identitätskämpfe verstricken zu müssen.

6 Nachhaltigkeit als kollektives Gut nachhaltiger Infrastrukturen

Durch die unterschiedslose Zurechnung von Umweltschäden auf den Einzelnen werden die Ursachen ökologischer Schäden jedoch individualistisch verzerrt, die sozialstrukturellen Einflussfaktoren ausgeblendet, die Notwendigkeit eines schnellen strukturellen Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft von der politischen Agenda verdrängt. Nachhaltigkeit verdünnt sich zur Attitude eines besonderen ökologischen Lebensstils mit moralischen Extraprofiten. Verwandelt sich Klimaschutz in eine eigenverantwortliche Aufgabe der Person, wird er von der öffentlichen in die private Sphäre verschoben. Hier aber, im privaten Bereich, unterliegen die Bemühungen um eine ökologische Lebensführung einem selbstinduzierten Scheitern.

In der Umweltpolitik wird dem individuellen ökologischen Fußabdruck jedoch gerade deswegen so viel Gewicht beigemessen, weil er die Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht nimmt, während es doch die Regierungen sind, die den ökologischen Wandel entschlossen einleiten sollten. So hat etwa kürzlich der Bundesfinanzminister in einer Talkshow die Auffassung vertreten, dass nicht etwa die Verkehrspolitik der Regierung die Klimaziele verfehlt habe, sondern die Bürgerinnen und Bürger, die auf ihre Mobilität nicht verzichten wollten. Der private Konsum- und Lebensstil wird so von den materiellen Infrastrukturen der Gesellschaft getrennt, die ihn doch erst ermöglichen können. All dies lenkt davon ab, dass in kurzer Zeit die großen Systeme von Energieversorgung, Industrieproduktion, Verkehr, Gebäude- und Landwirtschaft klimagerecht umgebaut werden müssen, wovon dann auch die CO2-Bilanz aller Einzelnen profitiert.

Wirksamer und sozial gerechter ist es daher, Nachhaltigkeit als ein kollektives Gut nachhaltiger Infrastrukturen zu organisieren, deren Funktionen ökologisch verträglich gestaltet werden und deren Nutzung prinzipiell allen Bürgerinnen und Bürgern offensteht (vgl. Neckel 2022). Dann bedürfte es keines grünen Konsums als marktgetriebener Distinktionsstrategie und auch keiner öffentlichen Erziehungsprogramme zwecks Verinnerlichung von Verzicht. In seinem Urteil zum Klimaschutz vom März 2021 hat das Bundesverfassungsgericht solche Strukturveränderungen angemahnt. Sie können nur durch eine staatliche Ordnungspolitik durchgesetzt werden, die materielle Infrastrukturen als öffentliche Güter zur Verfügung stellt, wo privatwirtschaftliche Interessen der Sache des Klimaschutzes entgegenstehen. Die Dekarbonisierung der Industrie verlangt zudem eine politische Mengensteuerung der Treibhausgasemissionen, damit die globale Erwärmung zumindest bei 2 °C noch aufgehalten werden kann. Energieversorgung, Produktion und Verkehr bedürfen daher klarer klimapolitischer Leitlinien, die schon kurzfristig obligatorisch werden müssen. Soll Nachhaltigkeit in diesem Jahrzehnt nicht zum sozialen Sprengsatz werden, braucht es schließlich eine sozial-ökologische Gesellschaftsreform, die Lasten gerecht verteilt, Lebenschancen für die Verlierer am Ende des fossilen Zeitalters eröffnet und Obergrenzen bei besonders klimaschädlichen Gütern des gehobenen Wohlstandskonsums und bei der Herstellung von Wegwerfprodukten durchsetzt.

Gefragt ist mit anderen Worten ein tiefgreifender Umbau der gesellschaftlichen Grundversorgung und ihrer materiellen Infrastrukturen, um die existenziellen Risiken, die der Klimawandel für die Allgemeinheit darstellt, noch abwenden oder zumindest eingrenzen zu können. Dass dem Staat beim Schutz vor solchen Risiken eine besondere Verantwortung zukommt, ist historisch betrachtet nichts Neues. Auch in zurückliegenden Zeiten – zuletzt aufgrund der Corona-Pandemie – wurden staatliche Instanzen in die Pflicht genommen, wenn es galt, kollektiven Gefährdungen der gesamten Bevölkerung möglichst wirkungsvoll zu begegnen.

Der „Ruf nach dem Staat“ und nach einer entschlossenen sozial-ökologischen Ordnungspolitik spricht die Einzelnen und insbesondere wohlhabende Sozialgruppen nicht von jeder eigenen Verantwortung für den Klimaschutz frei. Die vordringliche Aufgabe ist es jedoch, die materiellen Voraussetzungen zu schaffen, unter denen sich die Konsumgewohnheiten, Alltagsroutinen und Bedürfnispräferenzen großer Bevölkerungsgruppen tatsächlich ökologisch verändern lassen. Ändern sich die praktischen Rahmenbedingungen des alltäglichen Handelns, wird dieses Handeln selbst in Bewegung gesetzt. Das Individuum muss nicht erst zu einem besseren Menschen erzogen werden, bevor es das ökologisch Richtige tut. Es tut es, indem es neue Möglichkeiten nutzt und sich dadurch auch selbst verändert. Veränderungen der Verhältnisse verändern auch das Verhalten. Sich für diese Veränderungen persönlich stark zu machen, als Bürgerin und Bürger bei der Gestaltung der Politik, in Unternehmen, Organisationen und in der lokalen Nachbarschaft – dies scheint mir der beste Weg zu sein, im Zeitalter des Anthropozäns nicht schuldig werden zu müssen.