Die Academy of Management hat eine Kategorie, die sie ‚scholar-practitioner‘ nennen. Sie haben mich in dieses Land-zwischen-den-Welten aufgenommen, zwischen reiner Forschung und reiner Praxis“ – so Edgar Schein in einem Interview 2019 zu seiner eigenen Bedeutung für das Feld der Organisationsberatung. In beiden Welten gilt er als Koryphäe, Wegbereiter und Referenzpunkt eines humanistischen Verständnisses von Veränderung.

Edgar Schein wurde 1928 als Sohn ungarisch-deutscher Eltern in Zürich geboren. Mit 6 Jahren musste er die Stadt verlassen und landete mit Zwischenstationen in Odessa und Prag schließlich in Chicago. Zum Studium ging er nach Stanford und promovierte anschließend in Harvard. Schein wurde maßgeblich durch namhafte Forscher jener Zeit geprägt, darunter Carl Rogers, Erving Goffman, Talcott Parsons und Douglas McGregor. Er war von 1964 bis zu seiner Emeritierung 1990 Professor für Organisationspsychologie und Management an der Sloan School of Management des MIT in Cambridge, MA. Zugleich verließ Edgar Schein mit großer Lust den akademischen Elfenbeinturm und begab sich in die Praxis der Beratung. Er betrachtete sich selbst dabei stets als Lernenden, der sein eigenes Unwissen als großen Schatz begriff.

Das Vermächtnis von Edgar Schein umfasst 176 Bücher und Fachartikel. Er gilt als Vorreiter eines modernen Verständnisses von Organisationskultur, Unternehmensentwicklung, mitarbeitenden-orientierter Führung sowie motiv-basierter Berufsentwicklung. Vielen Coaching-Klient:innen konnte mittels seines Konzepts der „Karriere-Anker“ geholfen werden, die eigene Erwerbsbiographie besser zu verstehen. In Führungsschulungen ist das 3‑Ebenen-Modell der Organisationskultur (Artefakte, herausgestellte Werte, grundlegende Annahmen und Werte) fester Bestandteil des Lehrplans. Und kaum eine Ausbildung in Organisationsentwicklung kommt an der Unterscheidung zwischen Experten- und Prozessberatung vorbei.

Sein größtes Geschenk an die Welt war jedoch die Betonung einer tragfähigen, vertrauensbasierten Beziehung für jedwede Entwicklung, sei es von Berater:in zu Klient:in, Führungskraft zu Mitarbeitenden oder Forschenden zu Beforschten. Was sich Jahrzehnte später in empirischen Untersuchungen zu Wirkfaktoren in Therapie, Coaching, Organisationsentwicklung und Beratung wiederholt zeigen sollte, war für Edgar Schein tragende Säule seiner Philosophie: Die Beziehung ist der Schlüssel zur Veränderung. „Wie entwickelt sich aus dem ersten Gespräch allmählich eine Beziehung, in der die beiden Parteien einander zuhören, verstehen und ihre wechselseitigen Bedürfnisse erfüllen?“ Zugewandtheit, Neugierde, Akzeptanz und Verantwortungsübernahme sind der Schlüssel, nachzulesen in seinem epochalen Werk „Process Consultation Revisited: Building the Helping Relationship“ (deutsch: Prozessberatung für die Organisation der Zukunft – Der Aufbau einer helfenden Beziehung).

Im eingangs zitierten Interview fordert er Berater:innen auf, selbst auch mehr Sichtbarkeit herzustellen: „Die Praktiker müssen mehr schreiben. Sie müssen ihre Fälle und Erkenntnisse weitergeben, um zu sehen, ob es eine Verbindung zu dem gibt, was die Akademiker zu wissen glauben, und wie diese Verbindung zustande kommt. Dieser Wissensfundus wird einen Unterschied machen. Die Aufgabe liegt also bei Ihnen und mir.

Am 26. Januar 2023 starb Edgar Scheid am Ende eines ganz normalen Arbeitstages im Alter von 94 Jahren.