Endlich wieder Forschung und Diskurs in Interaktion unter Präsenzbedingungen: Lange genug haben pandemiebedingte Einschränkungen zwischenmenschliche Interaktionen deutlich begrenzt oder ganz verhindert. Wie passend, dann zum Thema „Rekonstruktion professioneller Beratungsinteraktionen im Fokus“ die Jahrestagung des Netzwerks für Rekonstruktive Soziale Arbeit an der Hochschule Mittweida zu veranstalten. Interaktion, als grundlegender Aspekt professionellen Beratungshandelns und aus Sicht empirisch-qualitativer Forschung ein eher noch unterbelichteter Bereich integrativer Beratungsforschung, machten die Organisatoren Prof. Stefan Busse und Promovend Markus Lohse zum Gegenstand. Insgesamt 21 Referent:innen, darunter zahlreiche ausgewiesene Forscher:innen und Nachwuchswissenschaftler:innen, folgten dem Aufruf, um ihre rekonstruktiven Forschungsprojekte zu interaktiven Beratungsgeschehen vorzustellen und dazu in Austausch zu gehen.

Stefan Busse begann seine Keynote mit einem grundlegenden Abriss zum Beratungsverständnis sowie den damit verknüpften allgemeinen Zielen und Kompetenzen von Beratung. Verschiedene Zugänge dienten als roter Faden vier moderierter Themenblöcke (TB): 1) Beratung als interaktive Herstellung von Praxis, 2) die Beratungsinteraktion im Kontext von Macht und (Un‑)Gleichheit, 3) komplexe Settings sowie 4) Strukturdilemmata in der Beratung als professionstheoretische Beobachtungen.

Ina Pick (Universität Basel) stellte in ihrem Beitrag „Beraten in Interaktion: Gesprächslinguistische Ergebnisse“ eine an empirischem Material entwickelte und erprobte Matrix vor. Spannend war ihre Beobachtung, dass in der Sozialen Arbeit durchaus eine starke Vorstrukturierung mentaler Prozesse der Ratsuchenden zu verzeichnen sei. Bettina Schreyögg (Apollon Hochschule Bremen) befasste sich mit Emotionsarbeit als Gegenstand professioneller Beratungsinteraktion. Basierend auf Analysen von Coachinggesprächen fragt sie nach spezifischen Komponenten der Didaktik in der Arbeit mit und an Emotionen. Die Intention des Vortrags von Nina Erdmann (Technische Hochschule Köln) war, „… herausfinden, was die Komplexität bedingt“. Mit Alena Schmier präsentierte sie anhand eines narrationsanalytischen Zugangs zu Interviewtranskriptauszügen, wie Wissensstrukturen von Fachkräften in der Beratung sichtbar werden. Gezeigt wurde, dass Paarbeziehung in den Hilfen zur Erziehung – wenngleich selten im Fokus – oft den Hilfeverlauf deutlich beeinflussen.

„Digitale Rekonstruktion der Lehre von Beratung“, wurde von Claudia Streblow-Poser (Fachhochschule Dortmund) thematisiert. Im Fokus ihrer Überlegungen stand die Vermittlung von Beratungskompetenzen in der digitalen Lehre. Mit Studierenden wurden Videodaten von Beratungssituationen erhoben und im Lehrveranstaltungssetting analysiert und zu Übungszwecken verwendet. Tim Middendorf (SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen) gab einen Einblick in seine Arbeit „Beratungsinteraktion als asymmetrische Handlungspraxis“ am Beispiel der studienintegrierten Supervision (TB 1). Danach beschrieb Caroline Tittel (TU Darmstadt) mit einer „Entscheidungstheorie und Künstliche Intelligenz in der beruflichen Beratung“ neue Perspektiven auf den Beratungsprozess und damit zur Professionalisierung von Beratung. Marlene Wicker (Hochschule der Bundesagentur für Arbeit/Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) diskutierte die Effekte von Priming auf die berufliche Selbstwirksamkeitserwartung älterer Arbeitsloser. Monika Althoff (IU Internationale Hochschule) ging es darum, zur fortwährenden Professionalisierung von Beratung beizutragen (TB 2). Hier gilt es aus ihrer Sicht, „Beratung als Macht und Gegenmacht“ zu verstehen, zu rekonstruieren und so dem Fachdiskurs für Reflexion zugänglich zu machen. Mit der „Rekonstruktion intersektionalitätsbewusster Beratungsansätze in der kommunalen Praxis“ befasste sich Julia Cholewa (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) in ihrer Dissertation. Sie gab Einblicke in ihren Mixed-Methods-Ansatz zur Beobachtung und Analyse der Interaktion zwischen Integrationsbeauftragten und ihren Klient:innen. Sarah Schirmer (Universität Siegen) thematisierte mit Blick auf Beratungssituationen zu Arbeitslosengeld II die besondere Herausforderung einer professionellen Beratungspraxis, indem sie die indirekte Anwesenheit des Jobcenters als sogenannten „diffusen dritten Akteur“ rekonstruierte. Markus Lohse (TU Dresden/Hochschule Mittweida) lud zum „doing science“ in eine Forschungswerkstatt zur interaktiven Herstellung von Beratungsergebnissen ein. Nach einer Skizzierung seines methodischen Zugangs zu natürlichen Gesprächsdaten von Einzelsupervisionssitzungen bestand die Aufgabe der Teilnehmenden darin, anhand von Transkriptionsauszügen einer Expert:in und einer Noviz:in die Erzeugung von Einsichts- und Erkenntnismomenten (Wissen) spontan zu rekonstruieren. Ziel war es (ohne Kenntnis des Expertisegrades) Fundstellen zu identifizieren, die auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten im professionellen Beratungshandeln hinweisen. Ursula Unterkofler (Hochschule München) und Rebekka Streck (Evangelische Hochschule Berlin) gewährten einen Einblick in ihre Untersuchungen zur Beziehungsgestaltung anhand der „Grounded Theory Methodologie“. Im Zuge dessen bekamen auch die Teilnehmenden der Forschungswerkstatt die Möglichkeit, interaktiv Beobachtungsprotokolle hinsichtlich einer spezifischen Fragestellung rund um niedrigschwellige Soziale Arbeit auf Basis des Ansatzes „Doing Social Work“ zu untersuchen.

Weitere Vorträge standen im Zeichen professionstheoretischer Beobachtungen. Stefan Busse (Hochschule Mittweida) ging es in TB 3 um „Triadische Herausforderungen in komplexen Beratungssettings“. Anhand einer in Auszügen vorgestellten Rekonstruktion einer supervisorischen Fallgeschichte als spezifische Textsorte für rekonstruktive Forschung regte er zur Diskussion im Plenum an. Julia Hille (Universität Magdeburg) thematisierte den „Einfluss eines Mehrpersonensettings auf die Beratungsinteraktion – Adressat:innen-Konstruktionen in systemischer Paarberatung“. Hans-Peter Griewatz (Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen) schloss mit einer theoretischen Annäherung an eine Verortung von „Supervision zwischen Anspruch und Wirklichkeit“.

Schließlich wurde sich in TB 4 mit professionstheoretischen Beobachtungen (Teil 2) befasst. Erik Weber und Ole Landsberg (Philipps-Universität Marburg) eröffneten eine weitere diskursrelevante Perspektive für die Soziale Arbeit mit Blick auf Teilhabeberatung für Menschen mit Behinderung und die Notwendigkeit rehistorisierender Beratung. Jens Vogler (Hochschule Fulda) fokussierte auf „Beratende Tätigkeit in migrationsbezogenen Kontexten Sozialer Arbeit“. Untersuchungsgegenstand waren die Arbeitsbeziehung, deren Widersprüche zwischen dem professionellen Anspruch Sozialer Arbeit und ihrer Beratungspraxis sowie be- und entstehende Machtverhältnisse. Volker Jörn Walpuski (Universität Bielefeld) thematisierte in seinem Vortrag die Pole von manageriell-funktionalisierender und professionsethischer Beratung. Vor dem empirischen Hintergrund eines mehrjährigen Supervisionsprozesses gerieten Wissensgenerierung, verschiedene Settingeinflüsse sowie unterschiedliche Beratungsansätze und deren Wirkung in den Blick.

In einer abschließenden Podiumsdiskussion der Moderator:innen wurden subjektive Eindrücke, Highlights und neue Erkenntnisse geteilt. Nina Erdmann (TB 4) fragte, wie im Forschungsprozess wahrgenommene Dilemmata noch intensiver thematisiert werden können, ohne bestimmte Personengruppen durch Forschung weiter zu stigmatisieren oder die bestehenden dilemmatischen Verhältnisse kleinzureden. Stefan Busse ergänzte, dass sich hier in gewisser Weise ein Meta-Dilemma zum Umgang mit Dilemmata als wichtiger Aspekt für die Professionalisierung von Beratung herausstellt. Christin Schörmann (TB 1) berichtete, dass ein unterschiedliches Verständnis von Rekonstruktion des Beratungshandelns zur Diskussion anregte, doch das Erzeugen bzw. Reflektieren von Irritationen mache einen wissenschaftlichen Prozess aus. Michael Appel (TB 2) beschrieb, dass eine Metaperspektive zur Beratungsinteraktion im Kontext von Macht und (Un‑)Gleichheit sowie eine intersektionale Perspektive eingenommen und die Anwaltsfunktion von Berater:innen für ihre Ratsuchenden thematisiert wurden. Maria Schmidt (TB 3) stellte als wesentliche Erkenntnis heraus, dass bei Beratungen immer die triadischen Verhältnisse von Ratsuchenden zu den Personen, die in den Fall involviert sind, als triadische Herausforderung für die Berater:innen beachtet werden sollten. Markus Lohse fand die im Rahmen seines Dissertationsprojekts bisher herausgearbeiteten Ergebnisse auch in einer interdisziplinär zusammengesetzten Gruppe von Professionals bestätigt. Die vergleichende Spontanrekonstruktion von zwei Einzelsupervisionssitzungen ergab, dass eine Entscheidung hinsichtlich eines „professionelleren“ Beratungshandelns nicht eindeutig möglich war bzw. unentschieden blieb. Schließlich berichtete Ursula Unterkofler aus ihrer Forschungswerkstatt gemeinsam mit Rebekka Streck, dass in einem von Diskontinuität geprägten Arbeitsfeld wie der akzeptanzorientierten Drogenarbeit zuerst einmal Kontinuitäten im Aushandlungsprozess von Professionellen und Adressat:innen hergestellt werden müssen, damit Beratung als solche stattfinden kann. Macht und die Herstellung sowie Aufrechterhaltung einer Beziehung zwischen den Beteiligten im Beratungsprozess spielen eine große Rolle. Übergreifend stellte sie fest, dass tendenziell eher die Professionsperspektive beforscht werde, da es nach wie vor eine große Herausforderung zu sein scheint, an die Klient:innenperspektive aus erster Hand heranzukommen. Sie fordert mit Blick auf das Gelingen von Beratung, dass sich zukünftig noch intensiver mit dem Verhältnis zwischen Rekonstruktion und Normativität auseinandergesetzt werden müsse.