Mit der Frage, in welcher Weise sich Körper und Geist mit der Umwelt verschränken und ob und wie diese Dimension Teil der Reflexion sein kann und sollte, schließt der Beitrag ab.
Die leiblich gespürte Verunsicherung durch gesellschaftliche Ereignisse, Sorgen wegen Corona, der amerikanischen Wahlen, Klimakrise u. a. verdichten sich über die Person hinaus zu Atmosphären. Atmosphäre lässt sich als übergreifendes räumliches Geschehen, als psychische Verfassung einer Gruppe oder einer Gesellschaft verstehen, die nicht mehr einem einzelnen Subjekt zuzuschreiben ist, jedoch subjektiv erlebt wird und als atmosphärische Umgebung wieder zurückwirkt.
Auch wenn sich der Anteil an Fachberatung, Reflexion und Handlungsvorbereitung in den Formaten Supervision, Coaching und Organisationsberatung unterschiedlich gewichtet, ist Reflexion für alle Formate ein wichtiger Modus. Im Format Supervision wird Reflexion als zentrales Merkmal beschrieben. Die Orientierung an humanistischen Werten und am Gemeinwohl gelten als leitende ethische Werte für das Beratungshandeln und das kollegiale Miteinander im Berufsverband DGSv (ethische Leitlinien der DGSv). Dieser Anspruch gerät zunehmend in Gefahr. Die dominante Zeitstruktur der Gegenwart und das damit verbundene Lebensgefühl vieler Menschen in westlich geprägten Gesellschaften lassen sich mit dem Begriff der Beschleunigung (Rosa) auf den Punkt bringen. Die inhärente Steigerungsdynamik des Beschleunigungsprozess hat das Potenzial, „soziale Störungen zu erzeugen, die menschliches Leiden und Unzufriedenheit hervorrufen“ (Rosa 2013, S. 66).
In westlichen Zivilisationen ist die historisch und kulturell gewachsene Vorstellung von Zeit als linear ausgerichteter, kontinuierlicher, fortschreitender Prozess selbstverständlich. Diese tendenziell ungebremsten linearen Prozesse geraten in eine Beschleunigungsdynamik, die kaum Hemmung erfahren und in Beratungen immer häufiger thematisiert werden. Wir erschaffen uns eine Lebens- und Arbeitsumgebung, die nicht nur unsere Lebensgrundlagen ausbeuten und zerstören, sondern unseren seelischen und körperlichen Rhythmen und der Notwendigkeit zur Regeneration und Gesundheit zuwiderlaufen und uns überfordern. Im linearen Zeitverständnis „gibt es kein Ziel, dem die Zeit zustrebt, an dem man zur Ruhe kommt. Alles bewegt sich vorwärts, so auch unser Leben. Wir laufen immer weiter voran, kommen aber nicht wirklich an“ (Fuchs 2019, S. 39 f.). Dies führt zu der Frage, wie lange sich eigenleibliche Rhythmen ignorieren, anpassen und optimieren lassen.
Die Zeitlichkeit des Lebendigen dagegen ist eine zyklische Zeit, die immer wieder in der Gegenwart ankommt. Die regelmäßig wiederkehrenden Prozesse von Aktivität und Entspannung, Wachheit und Schlaf, Essen und soziale Zuwendung geraten in Widerspruch zu der linearen Dynamik in einem wachstumsorientierten Wirtschaftssystem, wenn die zyklischen Prozesse missachtet werden. Unser Leib ist konservativ und „antiquiert“ (Anders 2018 [1956]), und die Eigenzeiten des Leibes können nicht ohne Schaden beschleunigt, kompensiert und optimiert werden. „Zyklische und lineare Zeit stehen in Spannung zueinander, und vielfältige kollektive und individuelle Pathologien gehen auf eine Entkopplung der linearen Dynamik von den Lebensprozessen zurück, insbesondere auf eine Beschleunigung und Entrhythmisierung der sozialen und individuellen Zeitabläufe“ (Fuchs 2020, S. 315).
Die Bedingungen des Lebendigen, die Rahmenbedingungen der menschlichen Existenz setzen der ungebremsten Dynamik deutliche Grenzen. Immer häufiger sind die Menschen und zu beratenden Systeme gar nicht in der Verfassung, komplex nachzudenken. Das betrifft besonders Führungs- und Fachkräfte mit viel Verantwortung und hoher Entscheidungsdichte. Der Arbeitsdruck und die beruflichen Anforderungen führen zu einem Stresserleben, das physiologisch mit einer eingeschränkten Reflexions- und Denkfähigkeit und mit abnehmender Selbstbestimmung im Sinne der exzentrischen Positionalität (Plessner 1982) einhergeht.
Supervision, Coaching und Organisationsberatung konzipieren sich mittlerweile zwischen den Polen von Anpassung und Gestaltung. Wenn die Funktionalität sehr im Vordergrund steht und die leitenden Vorannahmen dieser Dynamik nicht mitreflektiert werden, kann Beratung nur Anpassungsleistungen vollbringen. Die Überforderung der Subjekte wird dann individualisiert, Gesundheit wird zur persönlichen Angelegenheit, und Beratung wird der Ort, an dem Resilienz gefördert, Ressourcen entwickelt und Überlastungssymptomen vorgebeugt werden soll. Für Berater/innen stellt sich dann die Frage, ob sie ihre Beratungen an die skizzierten Rahmenbedingungen anpassen, die VUKA-Welt als nicht zu ändernde Umwelt akzeptieren und in das Selbstverständnis und Tempo zustimmend einsteigen.
Berater/innen sind gut vertraut mit der individuellen und sozialen Reflexion von parafunktionalen Glaubenssätzen und Vorannahmen von Einzelnen und Gruppen und kennen die handlungsleitende Kraft von Glaubenssätzen und Überzeugungen aus der täglichen Praxis. Was wir als einzelne Berater/innen, als Beratungsfirmen, Professionsgemeinschaften und Berufsverbände seltener in den Blick nehmen, sind die leitenden ökonomischen und politischen Glaubenssätze und Überzeugungen, die latent und unhinterfragt in die Beratung (und die Gesellschaft) wirken. Wenn VUKA oder Arbeitswelt 4.0 als unveränderliche Rahmenbedingungen der arbeitsweltlichen Beratung von vielen Berater/innen akzeptiert und integriert werden, stellt sich die Frage, warum dieses Wettbewerbsparadigma höher bewertet wird als Gesundheit und Nachhaltigkeit. Die Alternative dazu sehe ich in der Orientierung an den UN-Nachhaltigkeitszielen 2030, den WHO-Salutogenese-Kriterien für gute Arbeit oder in der Gemeinwohlverpflichtung als DGSv-Mitglied.
Wenn die leiblichen Ressourcen so eindeutige Hinweise geben und die Eigenzeiten des Lebendigen als Gegenprinzip der linearen Dynamik Grenzen setzen, dann sollten diese Widersprüche als Kernkonflikt (Schwarz 1990) guter Arbeit ein Teil der Reflexion sein, die über die Auftrags- und Auswertungsgespräche mit den Vorgesetzten, OE- und PE-Abteilungen in die Organisation verbunden werden. Reflexive Beratungen sind zirkulär angelegt und folgen idealerweise zyklischen Rhythmen. Es sind Besinnungs‑, Begegnungs- und Gegenwartsorte, die sich von den linearen, beschleunigten Prozessen absetzen. Im Verständnis einer verkörperten Perspektive von zirkulären wechselseitigen Beeinflussungen durch und zur Umwelt wird das Ausloten der Handlungsmöglichkeiten und der Einflussnahme Teil der Beratung. Eine „abstinente“ Haltung ist dann allerdings schwer durchzuhalten, wenn man eine „parteiliche“ Nähe für die Qualität, die Aufgabe der Organisation, den Organisationszweck, das Gemeinwohl und die Gesundheit von Mitarbeiter/innen einnimmt. „Die Qualität der Konvivialität umfasst Verbundenheit in einer Leichtigkeit des Miteinanderseins, wo jeder so sein kann und akzeptiert wird, wie er ist, und so eine ‚Konvivialität der Verschiedenheit‘ möglich wird, wo ein Raum der Sicherheit und Vertrautheit gegeben ist, eine gewisse Intimität integrer Zwischenleiblichkeit, in der man ohne Furcht vor Bedrohung, Beschämung, Beschädigung, ohne Intimidierung zusammen sitzen, beieinander sein kann, weil die Andersheit unter dem Schutz der von allen gewünschten, gewollten und gewahrten Gerechtigkeit steht, und jeder in Freiheit (parrhesiastisch) sagen kann, was er für wahr und richtig hält“ (Petzold 2007, S. 399).
Eine solche Vorstellung von Respekt, Dialog und „moralischer Intimität“, wie Bieri (2013) diese feine soziale Achtsamkeit nennt, die die Bedürfnisse der anderen in die Aufmerksamkeit und das Handeln mit einbezieht, sollte das Leitbild für Reflexion bleiben, auch wenn es sich selten in dem oben beschriebenen Maße herstellen lässt. Je mehr sich von dieser Atmosphäre und integrer Zwischenleiblichkeit einstellen kann, desto komplexer und anspruchsvoller kann berufliche Reflexion werden. Es lohnt sich, Zeit und Rahmenbedingungen für solche Reflexionsräume zu schaffen, um schnelle Lösungen für komplexe Probleme, zu schnelles gewohnheitsmäßiges Handeln, das Ignorieren eigener somatischer Marker bei unstimmigen Entscheidungen zu vermeiden.
Die Beschäftigung mit der Verkörperungsperspektive macht deutlich, dass die vermeintlichen Polaritäten von Körperhaben und Leibsein, von Anpassung und Gestaltung, von Ergebenheit und Selbstbestimmung, Technologieentwicklung und -kritik und von linearer Beschleunigung und Verlangsamung keine unauflösbaren Widersprüche sind. Es geht um verschiedene Rhythmen, Logiken und Eigenzeiten, die dem technologischen Fortschritt, unserem Wirtschaftssystem und dem lebendigen Leben innewohnen, und um eine Balance in dieser Dialektik. Die meisten Veröffentlichungen fokussieren die Körper-Geist-Verbindung und die Kopplung zur Umwelt in Bezug zur intersubjektiven und räumlichen Dimension. Die Verkörperungsperspektive legt die gleichwertige Betrachtung der wechselseitigen Beeinflussungen auch mit gesellschaftlichen Atmosphären nahe.