FormalPara Robert Bering, Christiane Eichenberg (Hrsg.): Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise. Herausforderungen und Lösungsansätze für Psychotherapeuten und soziale Helfer. Stuttgart: Klett-Cotta, 2020, 243 S., 25,00 €

Christoph Schmidt-Lellek, Oberursel

In der gegenwärtigen globalen Krisensituation, ausgelöst durch die Corona-Pandemie, finden sich vielfältige publizistische Bemühungen, wie diese Krise verstanden werden kann, mit welchen gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen Auswirkungen zu rechnen ist und welche Zukunftsperspektiven sich daraus ergeben können. In dem soeben erst erschienenen Sammelband geht es um die Bewältigung der Krise selbst. Im Fokus stehen die Perspektiven von Psychotherapie und Psychotraumatologie: 21 Autor/innen, die alle in klinischen Institutionen tätig sind, beschreiben in ihren Beiträgen Möglichkeiten, wie Therapeut/innen ihre Patient/innen in dieser kollektiven Krisensituation begleiten und behandeln können. Da es noch kaum empirische Erkenntnisse über die psychosozialen Auswirkungen der Pandemie gibt, bietet der Sammelband Annäherungsversuche zum Verständnis der verschiedenen Belastungsquellen und Anregungen für wissenschaftliche Forschungszugänge und für die konkrete therapeutische Praxis.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert: I. allgemeine Grundlagen der pandemischen Stressbelastung, II. spezifische therapeutische Interventionen, u. a. mit Beiträgen zur Psychoinformation und zur Online-Psychotherapie, III. die besonders vulnerablen Zielgruppen, z. B. Alleinerziehende, Einsatzkräfte, Opfer häuslicher Gewalt und insbesondere ältere Menschen. Ausgangspunkt ist dabei ein „bio-psycho-soziales Modell der pandemischen Stressbelastung“ (S. 29). Darin werden vier Belastungsquellen definiert, denen in den Hilfemaßnahmen jeweils spezifisch zu begegnen ist: 1. COVID-19-Infektion und letale Bedrohung, 2. ökonomische Existenzangst, 3. Isolation, „social distancing“, 4. Befürchtungsdynamik. Die Herausgeber haben einen Fragebogen entwickelt (FACT-19, anzufordern unter: robert.bering@uni-koeln.de), der zum Erfassen der erlebten Stressbelastung in Diagnose-Gesprächen genutzt werden kann. Er geht über das diagnostische Klassifikationssystem des ICD hinaus, indem nicht nur das Individuum in den Blick genommen wird, sondern auch die Kontextfaktoren untersucht werden, „die den gesamten Lebenshintergrund eines Menschen repräsentieren und förderlich oder hemmend auf seine Funktionsfähigkeit einwirken“ (S. 44).

Beispielhaft sei auf das Kapitel von V. Beck über die möglichen Auswirkungen des „social distancing“ hingewiesen (S. 54 ff.). Dass soziale Isolation bzw. Einsamkeit ein hohes Gesundheitsrisiko darstellt, ist keine neue Erkenntnis (S. 59). Umso wichtiger ist es heute, „dass wir auch in der Auseinandersetzung mit dem Coronavirus nicht handlungsunfähig, sprachlos und beziehungslos werden. Diese Krise kann und darf uns nicht von anderen isolieren, separieren und trennen und zu einer Triebfeder von Einsamkeit werden“ (S. 60). Als Therapeut/innen, Ärzt/innen oder als Coaches müssen wir „die psychosozialen Effekte der Corona-Krise und das dadurch entstehende traumatisierende Potential ernstnehmen und dringend tragfähige und belastbare Strukturen und Optionen anbieten, diese Belastungen aufzufangen“ (ebd.).

Insgesamt bietet das Buch ein breitgefächertes Bild der aktuell begegnenden psychosozialen Problemkonstellationen und vielfältige Hinweise für die therapeutische und beraterische Praxis.

FormalPara Franziska Lamott: Schlüsselerfahrungen. Supervision im therapeutischen Strafvollzug. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019, 86 S., 11,99 €

Johannes Philipps, Burglauer

Das Buch ist in der Buchreihe „Beraten in der Arbeitswelt“ erschienen, die sich in erster Linie an professionelle Beratende richtet. So beschäftigt sich die Autorin in diesem Buch mit dem Spannungsverhältnis verschiedener Professionen und mit strukturellen Gegebenheiten sowie archaischen Rollenbildern im Strafvollzug. Es werden konkret die Komplexität und die Herausforderungen von Supervision in diesem besonderen Arbeitsfeld dargestellt. Ziel des Strafvollzugs ist die Resozialisierung und Persönlichkeitsänderung bzw. -besserung der Insassen. Damit das gelingen kann, braucht es ein Zusammenspiel von Strafe und Therapie. Die Herausforderung besteht also im „Spannungsfeld von Strafrecht, Strafvollzugsrecht, Psychiatrie, Psychologie und Sozialpädagogik“ (S. 9), schwierigen Insassen sowie institutionsbedingt widersprüchlichen Arbeitsbedingungen. Der gesellschaftliche Auftrag an den Strafvollzug sieht auf der einen Seite die Strafe und Sicherung durch Strafvollzugsbeamte und Juristen und auf der anderen Seite Resozialisierung und Therapie durch Sozialarbeit und Psychologen bzw. Ärzte, Pfarrer oder Lehrer vor. Dadurch entsteht ein doppeltes Mandat von Kontrolle und Hilfe.

Im ersten Teil des Buches werden institutionsbedingte Strukturen und die Entwicklung des Strafvollzugs im Laufe der Zeit dargestellt. Es wird klar, welches Spannungsfeld durch die Organisationsprinzipien im Strafvollzug gegeben ist. So sind z. B. (in der Regel männliche) Vollzugsbeamte auf die Beurteilung der therapeutischen Leitung angewiesen, da sie als Beamte regelmäßigen Beurteilungen unterliegen. Das (mehrheitlich weibliche) therapeutische Personal hat größere Aufstiegschancen und häufiger die Möglichkeit zu Weiterbildungen. So entsteht Neid innerhalb des Teams, und Konflikte zwischen den Berufsgruppen, sowie zwischen Männern und Frauen verschärfen sich. Ängste und Schwächen werden oft verleugnet, und es kommt kaum zu konstruktiven Konfliktlösungen. Die Autorin konzentriert sich im Verlauf des Buches im Wesentlichen auf die Supervision in sozialtherapeutischen Abteilungen für schuldfähige Männer.

Im 2. Teil geht es dann um die konkrete praktische Arbeit. Hier werden Hintergründe erläutert und anhand von Praxisbeispielen veranschaulicht. Dabei wird auf die verschiedenen Dimensionen der Arbeit eingegangen, wie „Person, beruflicher Auftrag und Rolle, Organisation, Zusammenarbeit und Abgrenzung, Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Bezüge“ (S. 37). Es wird betont, dass unter diesen komplexen Voraussetzungen regelmäßige Supervision notwendig ist, um Handlungskompetenzen und Professionalität der Mitarbeiter zu verbessern. Der/die Supervisor/in muss sich dabei seiner/ihrer Übertragungen und Abwehrmechanismen bewusst sein, um sich nicht instrumentalisieren zu lassen und eine professionelle Haltung zu wahren. Auch die Mitarbeiter und die Supervisoren treten ein in das abgesperrte Gefüge und werden ein Teil davon. Dies wird deutlich, indem die Autorin beschreibt, wie auch ein Besucher kontrolliert wird und sich beim Betreten der Anstalt fühlt. Die Autorin führt aus, was die supervisorische Arbeit im Strafvollzug verlangt und vor welche Herausforderungen die Supervisoren gestellt sind.

Im letzten Teil wird spezifisch auf die Bedeutung von Teamsupervision eingegangen. Von den Mitarbeitern werde häufiger der Wunsch nach Fallsupervision geäußert, dies diene aber oft der Abwehr, eigene Teamkonflikte bearbeiten zu müssen. Damit die Supervision gelingen kann, müssen Ängste zur Sprache gebracht werden, es braucht klare Rahmenbedingungen, ein verbindliches Setting und ein verantwortungsvolles, konfliktfähiges Team. Wenn das gelingt, kann Supervision eine Entlastung für die Mitarbeiter schaffen, und persönliche Konflikte können als strukturell bedingt verstanden und aufgelöst werden. Vollzugsbeamte und Therapeuten haben unterschiedliche Rahmenbedingungen und einen unterschiedlichen Bezug zu den Insassen und nehmen diese unterschiedlich wahr.

Zum Schluss stellt die Autorin drei grundlegende Fragen, die offen bleiben und die Grenzen der supervisorischen Arbeit im therapeutischen Strafvollzug deutlich machen. Sie macht aber auch klar, welches große Potential in dieser Arbeit sowohl für die Mitarbeiter und die Organisation als auch für den/die Supervisor/in selbst steckt, da die Strukturen in einem Gefängnis auch exemplarisch Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse sind und somit auch auf Problematiken von Institutionen und Organisationen im Allgemeinen hinweisen und übertragen werden können.

Der Titel „Schlüsselerfahrungen“ ist von der Autorin sehr treffend gewählt, das wird beim Lesen deutlich. Es werden Erfahrungen und Möglichkeiten aufgezeigt, wie Ressourcen der Inhaftierten geweckt werden können und somit Türen zurück in die Gesellschaft geöffnet werden. Das soll letzten Endes das Ziel der therapeutischen Arbeit im Strafvollzug sein. Die Mitarbeiter sind durch die Strukturen und durch die Auseinandersetzung mit gewalttätigen und abstoßenden Klienten beeinflusst; sie müssen sich mit den damit verbundenen eigenen Gefühlen und Assoziationen sowie mit Gewaltdynamiken innerhalb des Teams und der Organisation, mit dem Druck der Institution und den organisatorischen und konzeptionellen Widersprüchen sowie mit der gesellschaftlichen Entwertung dieses Arbeitsfeldes auseinandersetzen. Es wird nachvollziehbar, mit welchen paradoxen und ambivalenten Gefühlen sich die Mitarbeiter, aber auch der/die Supervisor/in auseinandersetzen müssen und welche Gefahren damit verbunden sind für die professionelle Arbeit. „Im Idealfall schafft Supervision Räume, um diese Belastungen […] wahrzunehmen, auszuhalten und zu balancieren“ (S. 78).

Der Autorin ist es gelungen, in kurzen, gut verständlichen Kapiteln bestimmte Themen kompakt darzustellen. Am Ende jeden Kapitels steht eine kurze Zusammenfassung, die die besonders relevanten Aspekte für Supervision hervorhebt und dem Leser die Möglichkeit bietet, den Inhalt des Kapitels komprimiert zu erfassen. Das spannungsreiche Arbeitsfeld wird schlüssig dargestellt und durch konkrete Fallbeispiele veranschaulicht. Durch verschiedene Interessensgruppen wie Besucher, Insasse, Vollzugsbeamter, Therapeut, Psychiater, Sozialpädagoge etc. entsteht eine Dynamik, die es zu durchschauen gilt, um damit verbundene Übertragungen und Abwehrmechanismen aufzudecken und zu bearbeiten. Dabei wird sowohl Bezug auf die historische Entwicklung der Forschung, aber vor allem auch auf den aktuellen Stand der Wissenschaft genommen. Die Lektüre des Buches gibt Einblicke in dieses spannungsgeladene Arbeitsfeld und kann dabei unterstützen, die eigene Arbeit zu reflektieren und die professionelle Haltung zu hinterfragen. Sie kann aber auch Anregungen geben für Supervision außerhalb des Strafvollzugs. Somit ist dieses Buch empfehlenswert für alle, die sich in dieses Arbeitsfeld begeben möchten oder bereits darin arbeiten, aber auch für Supervisoren, die nicht im Strafvollzug tätig sind.

FormalPara Ullrich Beumer: Spätzünder oder Frühstarter? Männliche Existenzgründungen in der zweiten Lebenshälfte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019, 331 S., 40,00 €

Gerd Deckers, Calw

Unter welchen Bedingungen gehen Männer im Alter 50 plus neue Wege? Der Autor untersucht in seiner Studie drei Forschungsfragen im Hinblick auf Existenzgründungen männlicher ehemaliger Führungskräfte in der zweiten Lebenshälfte. Sein wissenschaftliches Interesse zielt dabei auf Antworten zur Motivkonstellation, zum zeitlichen Verlauf und zu Gelingensbedingungen. Einleitend werden das Selbstständig-Werden im reifen Erwachsenenalter betrachtet und die drei Forschungsfragen formuliert. Es folgen in Kap. 2 Begriffsklärungen zu Selbstständigkeit, Entrepreneurship sowie eine erste Annäherung an den älteren Existenzgründer. Im 3. Kapitel erörtert Beumer den demographischen Wandel (Verringerte Geburtenrate, Verlängerte Lebenserwartung) und den Einfluss auf Ältere. Es folgt im 4. Kapitel eine Einordung in den Kontext von Sozialisation, Lebenslauf und Karriereentwicklung. Das 5. Kapitel beschreibt das Design der Untersuchung sowie die Grundlagen und Hypothesen. Im 6. Kapitel werden die Ergebnisse präsentiert, die Forschungsfragen beantwortet sowie psychosoziale Funktionen der Existenzgründung und deren Dimension erörtert. Eine Modellbildung, typologische Verdichtung und ein Ausblick auf Forschungsperspektiven erfolgen in Kap. 7. Und das 8. Kapitel schließt das Buch mit einem Fazit zum älteren Existenzgründer ab.

Beumer zeigt, dass im Zuge des demographischen Wandels die traditionelle Einteilung der Generationen in Junge, Erwachsene und Alte so keinen Bestand mehr haben kann. Die Phasen traditioneller Erwerbstätigkeit und Verrentung erfahren zunehmend eine Entkopplung durch eine Generation der „jungen Alten“ zwischen 50 und 65, unter denen es leistungsfähige und leistungsbereite Menschen gibt. Sie könnten ihre Berufsbiografie abschließen, wollen es jedoch nicht und entscheiden sich stattdessen für eine selbstständige Tätigkeit. So betrachtet kann die Entscheidung für eine Existenzgründung im Alter 50+ als ein „Frühstart“ betrachtet werden, die gesellschaftliche, demographische Veränderungen vorwegnimmt. Der Autor widmet sich anschließend der Frage, ob die Existenzgründung durch Ältere nicht auch ein Aufarbeiten oder Nachholen von Konflikten des Erwachsenenalters oder früherer Lebensphasen sein kann. Im Gegensatz und in Ergänzung zu aktuellen Studien richtet er den Blick auf die Lebensbiografie und die Einbeziehung psychoanalytischer Aspekte der Entwicklung im reifen Erwachsenenalter. So gesehen könnte eine Existenzgründung auch als „Spätstart“ betrachtet werden und z. B. Anlass sein für das innerliche Nachholen nicht aufgearbeiteter Ereignisse und Prozesse.

Forschungsgegenstand der vorliegenden Studie sind männliche ehemalige Führungskräfte aus der zweiten Reihe ihrer Organisation jenseits der 50, die mehr oder weniger freiwillig aus einer gehobenen Position ausscheiden und denen die Entscheidung zu diesem Schritt mit Ausscheidens- und Abfindungsregelungen erleichtert wurde. Zum Zeitpunkt der Forschungsarbeit befinden sich diese mithin privilegierten Gründer in den frühen Jahren ihrer Existenzgründung.

Mit der Erhebungsmethode der biografisch-narrativen Interviews ist Beumer als wissenschaftlich geschulter Berater, Coach und Supervisor grundlegend vertraut, ebenso mit dem mehrstufigen Auswertungsprozess der qualitativen Daten durch den sozialwissenschaftlichen Ansatz der Grounded Theory und das psychoanalytische Verfahren der Tiefenhermeneutik. Daher ist der Verweis auf Kosten, Zeit und Personalaufwand verständlich, scheint jedoch in diesem Kontext bedauerlich. So wäre es interessant gewesen, sowohl die Anzahl der Probanden (10 Personen) die Häufigkeit und Länge der Interviews entsprechend zu erhöhen oder zu intensivieren. Die Beschränkung auf das männliche Geschlecht ist in ihrer Begründung zum Teil nachvollziehbar. Allerdings ist die Motivationslage zur Existenzgründung von Frauen im Alter von 50 plus noch nicht erforscht und somit die Begründung zum Ausschluss von Frauen aus dieser Studie nicht ganz stichhaltig. Positiv hervorzuheben ist die Form der Präsentation der Forschungsergebnisse. So werden immer wieder Originalpassagen aus den Interviews zitiert, die es dem Leser leicht machen, sich in die Person des Interviewten einzufühlen – fast als hätte man selbst zuhören dürfen.

Trotz der geringen Anzahl der untersuchten Biografien erfolgt eine nachvollziehbare Typologisierung der Existenzgründungen im Alter 50 plus: (1) Die reparative Dimension: Ein erster Typus sind ältere Existenzgründer, die Unerledigtes aus ihrer (Berufs‑) Biografie aufarbeiten, somit eine Reparatur im Sinne der Selbstheilung leisten. (2) Die protektive Dimension: Ein zweiter Typus ist der Gründer, der in seiner Organisation Zurücksetzung, Kränkung seines Größenselbst und narzisstische Ängste erfahren hat und die Existenzgründung als Angstabwehr nutzt, z. B. auch vor dem Altwerden und dem Ausscheiden aus der Berufstätigkeit. (3) Die innovative Dimension: Sie bezieht sich v. a. auf die aktive Gestaltung der eigenen Lebensgeschichte und weniger auf die Entwicklung einer neuen Geschäftsidee. Die Beschreibung des dritten Typus scheint das Paradebeispiel zu sein, wie eine späte Existenzgründung gelingen kann. Dabei scheinen die von Beumer hier mit dem positiven Begriff „Gelingensbedingungen“ beschriebenen Ressourcen eine entscheidende Rolle zu spielen.

Mein Fazit fällt sehr persönlich aus, da ich in einigen Monaten Teil der beschriebenen Gruppe sein werde, die hier untersucht wurde. Aus eigener Erfahrung möchte ich unterstreichen, dass ich die mit diesem Buch einhergehende Inspiration, Erdung und zum Teil Desillusionierung als sehr wertvoll empfinde, gleichermaßen de-konstruierend wie konstruktiv, insbesondere wenn der Schritt in die Selbstständigkeit in diesem Alter angedacht, in der Familie und im Freundeskreis besprochen, jedoch noch nicht vollzogen wurde. Gewollt oder ungewollt bringt der Autor in seinem Werk insbesondere diesen Lesern nahe, die eigenen Ressourcen zu reflektieren und realistisch einzuschätzen.

Wie Beumer anmerkt, ist die Existenzgründung Älterer ein kritisches Lebensereignis, das als Phase mit psychischer und biografischer Relevanz zu wenig Beratungsangebote erfährt. Hier werden Coaches und Supervisoren eine dankbare und interessierte Klientel finden. Damit mag man gut beraten durch späte Existenzgründung zum Frühstarter oder Spätzünder werden, oder aber angeregt durch dieses Buch sein Selbstkonzept darin sehen, die eigene berufliche Karriere abzuschließen. Und jenseits von Berufsbiografie oder Existenzgründung nach neuem Sinn und Zielen für das eigene Leben im Alter zu suchen – und so neue Wege zu gehen.

FormalPara Eric Frey (Hrsg.): Psychologie des Guten und Bösen. Licht- und Schattenfiguren der Menschheitsgeschichte – Biografien wissenschaftlich beleuchtet. Berlin: Springer, 2019, 467 S., 27,99 €

Klaus Pumberger, Wien

Warum gibt es das Böse in der Welt, das uns zur Verzweiflung treibt? Und warum andererseits das Gute, das die Welt zum Positiven verändert? Der vorliegende Band nähert sich dem Phänomen von Gut und Böse in Gestalt von 28 ganz konkreten, bekannten Personen der Menschheitsgeschichte (plus die Organisation des Islamischen Staates und anderer radikaler Organisationen) und versucht zu erklären: Warum gehören sie zu den Bösen oder Guten? Was hat sie geprägt? Was bedeutet dies für unsere heutige Zeit?

Der Herausgeber Dieter Frey, Professor für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München, und die 28 Autor/innen der einzelnen Kapitel zu den jeweiligen Personen – alle Masterstudent/innen ebendort, deren Arbeiten sich ebenfalls durch ein hohes Niveau an Analyse und Reflexion auszeichnen – sind sich bewusst, „dass keine Person nur gute oder nur schlechte Seiten hat. (…) Alle Personen wurden einer Kategorie zugeordnet, weil wir den Eindruck hatten, dass ihr Verhalten eher Ausdruck des Guten bzw. des Bösen ist“ (S. 2). Abschließend resümieren sie, „wie vielfältig das Gute und das Böse jeweils sein kann. (…) Es gibt niemals nur einen Weg, der in die eine oder in die andere Richtung führt. Es sind immer verschiedene Lebensumstände, Situationen und Familieneinflüsse, die bei diesen Menschen zu ihren Taten geführt haben. Daher ist es sehr schwierig, (…) eindeutige und allgemeingültige Antworten zu geben Aber reiner Zufall ist es womöglich auch nicht (…)“ (S. 440).

Die Antworten auf die oben angeführten Fragen werden dabei aus wissenschaftlicher Sicht und dabei vor allem aus der Sozialpsychologie abgeleitet. Die einzelnen Biografien werden verschiedenen Thesen und Unterdisziplinen der Sozialpsychologie gegenübergestellt. Dadurch werden die Biografien nicht langatmig geschildert, sie sind nicht einfach eine Wiederholung von den bereits zahlreich vorhandenen Biografien. Vielmehr erhalten die einzelnen Personen, alle betrachtet mit dem demselben Fokus, eine neue Anschaulichkeit, die deshalb auch von einem jüngeren Lesepublikum gut nachvollzogen werden kann. Einzelne Persönlichkeiten werden uns auf diese neue Art auch wieder nähergebracht, auch wenn ihr Leben schon längere Zeit zurückliegt (z. B. Abraham Lincoln, Albert Schweitzer).

Hervorzuheben ist die sehr gelungene Beschreibung von Josef Stalin und die daraus abgeleitete Darstellung seiner Schreckensherrschaft. Folgende psychologische Theorien, Modelle und Konzepte (S. 228–232) bilden in den Augen des Autors die Grundlage dafür:

  • Terror als Kontrollausbau: Die Säuberungen dienten „der Befreiung Stalins von seinen persönlichen ‚Feinden‘. (…) So kann Stalins Terror (…) als Ausdruck eines Bedürfnisses nach Kontrolle verstanden werden.“

  • Paranoia: „Was Stalins Leben wohl am meisten prägte, war sein zwanghaft erscheinendes Misstrauen und sein Argwohn selbst engen Vertrauten gegenüber, (…) deren Motive er häufig als böswillig auslegte. (…) Die Paranoia verstärkte sein Streben nach absoluter Macht und Kontrolle erheblich, und seine Säuberungen arteten dadurch über den rein machtpolitischen Nutzen hinaus.“

  • Antisoziale Tendenzen: Stalin „kannte kaum Skrupel und Erbarmen und ließ menschlichem Leid gegenüber offensichtlich Gleichgültigkeit walten. Seinen eigenen Worten zufolge sei mit dem Tod seiner ersten Ehefrau ‚das letzte warme Gefühl für die Menschen in ihm gestorben‘“.

  • Narzissmus: Als einziges das Säuglingsalter überlebende Kind der Familie, von seiner Mutter verehrt, von seinem Vater misshandelt, entwickelte Stalin „früh ein gebieterisches Selbstbewusstsein.“ Auch in seinem späteren Leben als politischer Führer hatte „er ein übersteigertes Selbstwertgefühl, das von der Wahrnehmung eigener Großartigkeit, Genialität und Einzigartigkeit geprägt war. (…) Misserfolge lagen Stalins Meinung nach an der Unfähigkeit anderer, dem Treiben von Verschwörern oder beidem, nie aber an ihm. Diese als selbstwertdienliche Attribution bezeichnete Verzerrung erlaubte es Stalin nicht nur, einen hohen Selbstwert zu bewahren, sondern dürfte ihn in seinem harten Kurs gegen diese ‚Verschwörer‘ sogar noch bestärkt haben.“

  • Modelllernen am Vater: Die häusliche Gewalt von Stalins Vater war auffallend brutal. „Während Stalin von seiner Mutter große Zuneigung erfuhr, misshandelte der als aufbrausender Trinker beschriebene Vater seinen Sohn regelmäßig. (…) ‚Die unverdienten, grausamen Züchtigungen machten den Jungen hart und herzlos, wie der Vater war‘. (…) Ein Kind, das vom Vater Gewalt erfährt, damit es gehorsam ist, lernt, dass Gewalt ein Mittel ist, sich Gehorsam zu verschaffen.“

  • Sozialisation: „Stalin wurde in eine Gesellschaft geboren, in der Gewalt nicht nur ein Mittel war, um alltägliche Auseinandersetzungen zu lösen, sondern auch ein gebräuchliches Mittel der Politik.“

Immer wieder weisen die Autor/innen auf einschneidende, prägende Erlebnisse im Leben der dargestellten Persönlichkeiten hin, ebenso auf deren positives Meistern kritischer Lebensereignisse, die ihre Resilienz stark gefördert haben, eine zentrale Voraussetzungen für deren Wirkung. So etwa bei Abraham Lincoln und dessen erstmaliges Erleben von Sklaverei als 19-Jähriger in New Orleans (S. 43), der unmittelbare Kontakt, das ständige Erforschen der Lebensumstände in den Elendsvierteln von Buenos Aires bei Jorge Mario Bergoglio (Papst Franziskus) (S. 117) oder die Verhaftung des Bruders von Sophie Scholl (S. 161). Ein weiterer Aspekt taucht ebenso bei mehreren Persönlichkeiten auf: die Fähigkeit, Visionen vermitteln zu können, so etwa bei Nelson Mandela (S. 75/76) oder bei Mahatma Ghandi (S. 96).

Kritisch anzumerken gilt es, dass bei manchen Persönlichkeiten in der Literatur eine breitere Auswahl hätte vorgenommen werden können (z. B. bei Adolf Hitler oder Papst Franziskus). Einzelne Wertungen im persönlichen Bereich sind zumindest gewagt – so etwa bei Willy Brandt: „(Seine) berüchtigten Affären stehen im Widerspruch zu seiner intakten Vorstellung von Gerechtigkeit und Moral“ (S. 63) – oder sind in Bezug auf politische Systeme bzw. Organisationen einfach so nicht haltbar: „Der Nationalsozialismus war vor allem eine charismatische und weniger eine ideologische Bewegung“ (S. 214). Ebenso scheint mir im Zusammenhang mit der Biografie von Adolf Eichmann es mehr als deplatziert zu sein, wenn die Autorin fragt: „Wie können wir sicher sein, dass wir in seiner Situation anders gehandelt hätten?“ (S. 299). Sicherlich hatten die Lebensumstände von Eichmann etwas Banales an sich; aber heute wissen wir, dass er immer, auch nach 1945, ein verbissener, rassistischer Antisemit war, dass er bewusst in seinem Leben Entscheidungen getroffen hat, die ihn die Karriereleiter im NS-Staat hat hochsteigen lassen.

Mein Resümee: Der vorliegende Band kann allen Personen, die in Erziehung, Führung, Beratung (Coaching) oder Politik tätig sind, als Inspiration dienen. Ebenso Studierenden und Dozierenden, die sich in Ausbildung und Lehre mit Werten und der Frage nach Gut und Böse auseinandersetzen. Darüber hinaus ist er so aufgebaut und in einer leicht verständlichen Sprache abgefasst, dass er auch ein interessiertes, nicht-akademisches Publikum ansprechen kann. Die Autor/innen werden ihrem eigenen Anspruch, im Vorwort dargelegt, voll und ganz gerecht: „Das vorliegende Werk ist weder abstrakt noch trocken.“