1 Wahrnehmung – Interpretation – Handlung: Der Zugang der Positiven Psychologie

1.1 Nur was ich wahrnehme, ist meine Realität

Menschen nehmen gleiche Situationen unterschiedlich wahr und interpretieren diese Wahrnehmung auch unterschiedlich. Konstruktivisten wie Paul Watzlawick (1976) konnten diese Sichtweise auch einer breiten Öffentlichkeit verständlich machen. Später wurden auch Persönlichkeitskonzepte entwickelt, die aufzeigen, dass Wahrnehmungstendenzen und daraus folgende Denkmuster gut durch bestimmte Persönlichkeitseigenschaften erklärbar sind.

Der deutsche Professor Julius Kuhl etwa zeigt in seinem Modell der Lage- und Handlungsorientierung, dass lageorientierte Menschen nach Misserfolgen in der Reflexion so stark ins Grübeln verfallen können, dass sie nicht in der Lage sind, anstehende Aufgaben zu lösen (Kuhl und Beckmann 1994). Personen hingegen, die eine Handlungsorientierung aufweisen, reflektieren diese Ereignisse offenbar so, dass sie daraus Kraft und Gestaltungsideen für zukünftige Aufgaben generieren. Daraus ergeben sich praktische Konsequenzen: So wird sich ein lageorientierter Schuhverkäufer nach einer Kundenbeschwerde eher Selbstvorwürfe machen bzw. Schuldige identifizieren, während sich seine handlungsorientierte Kollegin in der gleichen Zeit bereits überlegt, was sie daraus lernen kann und beim nächsten Kundengespräch anders machen könnte.

Die unterschiedliche Reflexion beeinflusst in weiterer Folge, was wir wahrnehmen und wie wir diese Wahrnehmung interpretieren. Dass Menschen dadurch in einen Kreislauf von Wahrnehmung – Interpretation – Handlung kommen, beschreibt Watzlawick (1984) als „Selbsterfüllende Prophezeiung“. Diese psychologischen Modelle machen deutlich, dass die Art, wie wir über Vergangenes nachdenken, einen großen Einfluss auf unsere Wahrnehmung und unsere zukünftigen Handlungen hat.

1.2 Positive Psychologische Interventionen: Entwickeln, was bereits da ist

Die konstruktivistische Sichtweise zeigt sich auch in der Positiven Psychologie. Als Martin Seligman in seiner Eröffnungsrede als neugewählter Präsident der American Psychological Association zu einer systematischen Beforschung der Positiven Psychologie aufrief, nannte er sie plakativ eine „new science of human strengths“ (Seligman 1999, S. 560). Ausgehend von dieser Initiative entwickelte sich in den letzten beinahe 20 Jahren eine Strömung innerhalb der Psychologie, die ihren Fokus darauf legt, was Menschen allgemein stärkt, ihr Wohlbefinden steigert und das Leben lebenswerter macht.

Viele im Bereich Coaching, Supervision und Psychotherapie tätige Professionelle merken allerdings an, dass eine starke Ressourcenorientierung bereits vor Gründung der Positiven Psychologie relevanter Teil ihrer Arbeit war. Was ist dann also das Innovative an Positiven Psychologischen Interventionen? Die Antwort: Durch die Positive Psychologie werden diese Interventionen nun systematisch und mit wissenschaftlicher Exaktheit in Bezug auf ihre Wirkung erforscht und mit den Ergebnissen wiederum neue Methoden entwickelt. Evidenzbasiert ist daher das Schlagwort der Positiven Psychologie. Als Schwerpunkt dienen hier Methoden, die Menschen überwiegend in Alltagssituationen dabei unterstützten, alles, was im Hier und Jetzt vorhanden ist, selbstgesteuert zu erkennen, zu nützen und im Sinne ihres eigenen Aufblühens zu entwickeln. Im Sinne der konstruktivistischen Denkschulen geht es um ein Erkennen des eigenen Konstrukts und ein aktives Beeinflussen dieser Wahrnehmungs‑, Interpretations-, und Handlungsmuster mit dem Ziel, den eigenen Lebensverlauf positiv zu beeinflussen.

Im Gegensatz zu den in den 1970er-Jahren entstandenen Modellen des Positiven Denkens, das plakativ gesprochen auch die Idee hatte, Negatives zu ignorieren, geht es in der Positiven Psychologie überwiegend um das Stärken von jenen positiven Aspekten, die bereits da sind, ohne dabei zu ignorieren, dass zu einem gesunden Leben auch negative Emotionen gehören. Die zweite Welle der Positiven Psychologie zeigt in diesem Zusammenhang klar auf, dass eine einseitige Fokussierung und Überbewertung auf das vermeintlich Positive sogar negative Auswirkungen haben kann (Held 2004; Ivtzan et al. 2015; Wong 2011). Wood et al. (2016) beschreiben die „dunkle Seite der Dankbarkeit“ und machen deutlich, dass die im vorliegenden Beitrag beschriebene Technik in bestimmten Situationen sogar einen ungünstigen Effekt haben kann. Besonders im klinischen Bereich können Methoden der Positiven Psychologie kontraindiziert sein, wenn Menschen (derzeit) keinen Zugang zu positiven Wahrnehmungen haben. Wird das Erleben von positiven Emotionen gar als Marker für ein lohnenswertes Leben genommen, kann das depressive Symptome hervorrufen oder verstärken (Ford et al. 2014). Der Mediziner und Begründer des Happiness India Projects, Sandip Roy, bringt es auf den Punkt: „By the way: Positive Psychology is not positivity!“ (Roy 2017). Auf Seiten der Berater/innen kann daher ein Halbwissen über Positive Psychologie, die Unkenntnis der aktuellen wissenschaftlichen Forschung in diesem Bereich und eine Interpretation nach eigenem Ermessen für Klient/innen ziemlich gefährlich sein.

1.3 Positive Rückschau: Ein einfaches Tool zeigt Wirkung!

Die Positive Psychologie ergänzt die fundierte und wichtige Forschung in der klinischen Psychologie nun mit dem Schwerpunkt auf Menschen, die Seligman et al. (2004) als „relatively untroubled“ (S. 1379) beschreiben. Damit sind Menschen gemeint, die keine klinisch diagnostizierbare Leidenssituation aufweisen und dennoch von den Methoden der Psychologie profitieren wollen. Im Sinne dieser Ergänzung stellt die Positive Psychologie die Frage, wie zufriedene und glückliche Menschen Ereignisse reflektieren bzw. auf Erlebtes zurückblicken und wie sich diese Rückschau auf zukünftige Wahrnehmungen, Interpretationen und Handlungen auswirkt. Der daraus resultierende Schritt ist die Entwicklung von Methoden und deren evidenzbasierte Evaluierung, um daraus abzuleiten, was Menschen sinnvoll und wirkungsvoll in ihr Leben integrieren können. Positiv Psychologische Interventionen sollen daher „einfach, alltagstauglich und wirksam sein“ (Blickhan 2015, S. 291). Der in Kanada tätige und in der Positiven Psychologie verankerte Wissenschaftler Tayyab Rashid bezeichnet Positive Psychologische Interventionen als ein „Umlernen der Aufmerksamkeit und Erinnerung“ (Rashid 2009, S. 463) und macht damit deutlich, dass Veränderung selten in der gewohnten Komfortzone passiert.

In der Toolbox der Positiven Psychologie finden sich bereits zahlreiche Klassiker, deren Wirkung fundiert erforscht wurde, wobei die Bezeichnung der Interventionen nicht immer einheitlich ist. Eine der Interventionen, die im deutschsprachigen Raum oft als positiver Tagesrückblick bezeichnet wird (im Englischen meist als Three Good Things oder Count Your Blessings), besteht darin, eine Woche lang jeden Abend positive Momente des Tages bewusst zu reflektieren. Dabei werden z. B. über einen bestimmten Zeitraum jeden Abend drei Dinge aufgeschrieben, die an diesem Tag gut waren (Seligman et al. 2004). Peterson (2006) postuliert, dass auch die Frage nach dem „Warum“ gestellt werden sollte, da so intensiver über das positiv Erlebte nachgedacht werde. Die Forschung zeigt eindeutig, dass diese Mini-Intervention bei psychisch gesunden Menschen die Lebenszufriedenheit erhöht, depressive Symptome senkt und diese Wirkung auch noch nach 6 Monaten nachweisbar ist (Seligman et al. 2005; Gander et al. 2013). Fallweise konnte nur der Effekt auf die Lebenszufriedenheit gezeigt werden, jedoch nicht die Wirkung auf depressive Symptome (Mongrain und Anselmo-Matthews 2012). Die fundamentale Bedeutung dieser Intervention wird noch deutlicher, wenn sie mit der Broaden-and-Build-Theorie (Fredrickson 1998) verknüpft wird. Diese beschreibt, dass positive Emotionen die Wahrnehmung erweitern (broaden) und es dadurch zu einem Aufbau von Ressourcen kommt (build). Diese wechselseitige Beeinflussung löst somit eine Aufwärtsspirale aus. Diese Annahmen wurden in zahlreichen Studien bestätigt (z. B. Fredrickson und Joiner 2002; Denovan und Macaskill 2016). Ein positiver Tagesrückblick ist eine Möglichkeit, diese Aufwärtsspirale in Gang zu setzen.

Eine ähnliche Methode wie der positive Tagesrückblick ist das Dankbarkeits-Tagebuch. Dabei wird in Tagebuchform regelmäßig niedergeschrieben, wofür man im Leben dankbar ist (Emmons 2016). Übungen zur Dankbarkeit gibt es in der Positiven Psychologie in großer Zahl (Blickhan 2015, S. 80), und der Zusammenhang zwischen Dankbarkeit und positiven Emotionen ist empirisch eindeutig belegt (Emmons und McCullough 2003; Seligman 2002; Tsang et al. 2014). Eine spannende Variante der positiven Tagesrückschau haben Gander et al. (2016) entwickelt. Sie stellen in ihrer Interventionsstudie Fragen, die sich an dem in der Positiven Psychologie populären PERMA-Modell (Seligman 2011) orientieren. Die fünf Buchstaben sind als Akronym zu verstehen: P (Positive Emotionen), E (Engagement), R (Relationships), M (Meaning) und A (Accomplishment), und beschreiben in diesem Modell die Voraussetzungen, die es braucht, damit Menschen aufblühen. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass sich diese Intervention deutlich auf das emotionale Wohlbefinden der Teilnehmer/innen auswirkt.

Zusammenfassend zeigt sich also, dass diese relativ einfachen Aufgaben, die letztendlich auf eine spezifische Reflexion des eigenen Erlebens abzielen, eine positive, nachhaltige und messbare Wirkung bei Menschen zeigen.

2 Wie erleben Menschen die positive Rückschau?

2.1 Die Studie

Die Wirkung der verschiedenen Varianten der positiven Rückschau wurde, wie beschrieben, mehrfach belegt. Die (überwiegend quantitative) bisherige Forschung zu diesem Thema gibt jedoch wenig Einblick, wie Coachees, Supervisand/innen, Seminarteilnehmer/innen usw. diese Übungen erleben, welche Erkenntnisgewinne sie dabei haben, welche Denkprozesse angestoßen werden, aber auch auf welche Schwierigkeiten sie bei diesen Aufgaben stoßen.

Die tägliche Beratungspraxis (der Autor dieses Artikels ist selbst seit 19 Jahren als Coach & Supervisor tätig) zeigt allerdings, dass Aufgaben, die im Coaching und in der Supervision oder auch in Seminaren gegeben werden, individuell ganz unterschiedlich erlebt und umgesetzt werden. Daraus ergibt sich, dass die selbst gemachten Erfahrungen (auf Seiten des/der professionellen Berater/in) mit verschiedenen Methoden nicht dieselben sind, die unsere Klient/innen damit machen. Forschung, die diese unterschiedlichen Prozesse und Erkenntnisse bei der Anwendung einer Methode sichtbar macht, hilft daher, Einsatzmöglichkeiten und potentielle Erfahrungen der Klient/innen einzuschätzen. Der Fokus der vorliegenden Studie ist daher eine Analyse, wie Übende der Methode diese positive Tagesrückschau erleben und welche Erkenntnisse und weiteren Prozesse dabei ausgelöst werden.

2.2 Stichprobe und Methode „4-Evening-Questions“

Die Studie wurde von Mai 2015 bis März 2017 mit Seminarteilnehmer/innen sowie Coaching- und Supervisionsklient/innen durchgeführt. Insgesamt nahmen 93 Personen an dieser Studie teil, davon haben 74 die Übung bis zur Abschlussreflexion durchgeführt und konnten somit in die Auswertung einfließen (51 weiblich, 23 männlich). Die Aufgabenstellung war dabei für alle gleich: Die Probanden sollten sich über einen Zeitraum von zwei Wochen am Abend jeweils zehn Minuten Zeit nehmen, um anhand von vier Leitfragen den Tag zu reflektieren und die Gedanken niederzuschreiben. Jeweils ein Tag pro Woche durfte pausiert werden. Die Teilnehmer/innen wurden explizit darauf aufmerksam gemacht, nicht große Erlebnisse zu suchen, sondern Mikro-Momente. Sie sollten entspannt an die Sache herangehen, ohne den Druck, jeden Tag eine Menge an Notizen zu machen, sondern den Gedanken anhand der Leitfragen freien Lauf zu lassen. Um keine selbsterfüllende Prophezeiung im Sinne des erwünschten Studienergebnisses auszulösen, wurden die Teilnehmer/innen an dieser Stelle noch nicht über den konkreten Sinn dieser Übung bzw. über bisherige Studienergebnisse dazu informiert.

In Vorerhebungen wurden dazu verschiedene einzelne Fragen, deren Inhalte einen starken Bezug zur Positiven Psychologie haben, formuliert und ausprobiert. Dabei stellte sich heraus, dass manche Fragen leichter, andere schwieriger zu beantworten waren, die schwierigen jedoch oft den größten Erkenntnisgewinn auslösten. Um einerseits für die Übenden einen schnellen Erfolg zu ermöglichen (Quick-Wins) und andererseits die schwierigeren, aber erkenntnisreichen Reflexionsfragen zu integrieren, wurden zwei leichtere Fragen (1 und 3) und zwei schwierigere Fragen (2 und 4) kombiniert und diese Technik den Studienteilnehmer/innen als „4-Evening-Questions“ vorgestellt:

  1. 1.

    Was hat mir heute Freude bereitet? Diese Frage schließt an die bereits beschriebene Methode der Three good things an.

  2. 2.

    Wo habe ich mich heute lebendig gefühlt? Die Positive Psychologie arbeitet mit dem Modell der Charakterstärken (Peterson und Seligman 2004). In diesem Modell wird postuliert, dass die Möglichkeit, diese Stärken auch auszuleben, eine der Grundlagen für das persönliche Wohlbefinden ist. Menschen fühlen sich dann lebendig, wenn sie ihre Stärken ausleben können. Somit kann ein „sich lebendig fühlen“ ein Hinweis auf eine Stärke sein. Die Erfahrung zeigt aber auch, dass es nicht ausschließlich positive Momente sein müssen, in denen wir uns lebendig fühlen. Menschen suchen manchmal bewusst psychisch oder körperlich anstrengende Herausforderungen, die durchaus auch mit unangenehmen Erlebnissen einhergehen können. Daher ist diese Frage ein guter Pfad, um mögliche dahinterliegende Bedürfnisse und Stärken zu erkennen.

  3. 3.

    Wofür und wem kann ich heute dankbar sein? Diese Frage schließt an das bereits beschriebene Dankbarkeitstagebuch an.

  4. 4.

    Welche Stärken konnte ich heute ausleben? Die Positive Psychologie und auch deren Teilbereiche, wie Positive Leadership, fokussiert Stärken (Ebner 2016). Und dennoch setzen viele Menschen an ihren Schwächen an, um diese auszumerzen oder darüber zu jammern. Fragt man Menschen nach ihren Stärken, ist das Ergebnis oft in Summe weitaus kleiner, als wenn Menschen ihre Schwächen beschreiben sollen. Biswas-Diener (2010) nennt als Grund dafür beispielsweise, dass unsere Vorfahren eher überlebt haben, wenn sie vorsichtig waren, und dass somit unsere genetische Ausstattung eher problemorientiert ist. Weiter führt Biswas-Diener an, dass soziale Normen die Kommunikation der eigenen Stärken als Selbstlob und somit negativ bewerten. Dies kann zur Folge haben, dass eigene Stärken oft gar nicht bewusst sind, weil viele Menschen überwiegend erst dann Feedback erhalten, wenn etwas nicht funktioniert hat. Dadurch werden Schwächen eher wahrgenommen als Stärken, die in einer positiven Feedbackkultur mehr verdeutlicht werden. Die Frage zielt daher darauf ab, eigene Stärken zu erkennen bzw. ihren unbewussten täglichen Einsatz ins Bewusstsein zu rücken.

2.3 Auswertedesign

Im Anschluss an die Übung wurden die Teilnehmer/innen gebeten, anhand der folgenden drei Leitfragen ihre Erfahrungen schriftlich zu reflektieren:

  1. 1.

    Wie war die Übung für mich?

  2. 2.

    Was hat sich verändert/was mache ich anders?

  3. 3.

    Wie waren die Erfahrungen mit den einzelnen Fragen?

Dazu wurden die Studienteilnehmer/innen instruiert, diese Fragen als „Chat mit sich selbst“ zu beantworten. Das bedeutet, dass sie sich an den Computer setzen sollten, die Leitfragen aufschreiben und dann alles niederschreiben, was dazu an Gedanken kommt, ohne auf einen roten Faden, auf Widersprüche oder auf die Rechtschreibung zu achten. Die Fragen waren bewusst sehr allgemein formuliert, um ein möglichst breites Spektrum an Reflexion zu ermöglichen. Ähnliche Methoden werden beispielsweise bei der Kern-Peripherie-Analyse verwendet. Dabei werden spontane Assoziationen zu Begriffen erhoben um Einstellungen aufzuspüren, ohne die Antworten sozial erwünscht zu verzerren (siehe z. B. Ebner 2009). Die Teilnehmer/innen konnten ihre Reflexion in einem Zeitraum zwischen 3 Wochen und 3 Monaten nach der Durchführung der Übung protokollieren.

Die schriftlichen Reflexionen wurden anschließend mittels Qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring (1985) ausgewertet. Dabei wurden durch zwei Rater induktiv Kategorien gebildet und alle Erfahrungen der Teilnehmer/innen diesen Kategorien sinngemäß zugeordnet.

2.4 Ergebnisse: Auswertung der Leitfragen

2.4.1 Leitfrage 1: Wie war die Übung für mich?

Insgesamt beschrieb die Hälfte der Teilnehmer/innen die Übung explizit als Bereicherung mit Zuschreibungen wie „toll“, „schön“, „hilfreich“; 39 % gaben an, dass diese Aufgabe für sie schwierig, ungewohnt bzw. herausfordernd war. Nur 5 % konnten mit der Übung nichts anfangen. Interessant ist, dass einige Probanden angaben, sie hätten die Übung gemeinsam mit seinem/ihrem Partner/in durchgeführt, was das Durchhalten und die Freude an der Übung positiv beeinflusst habe. Interessant ist auch, dass rund ein Viertel angab, am Anfang Schwierigkeiten damit gehabt zu haben, diese Übung durchzuführen bzw. die nötige Zeit dafür aufzubringen. Das ist insofern bemerkenswert, als diese Übung, über zwei Wochen durchgeführt, insgesamt nur einen Zeitaufwand von rund zwei Coachingeinheiten in Anspruch nimmt. Um die Schwierigkeiten zu umgehen, wurden von dieser Teilgruppe verschiedene hilfreiche Bewältigungsstrategien ausprobiert: den Wecker stellen, das Tagebuch neben das Bett legen oder die Reflexion am nächsten Morgen nachholen.

Letztlich berichtete rund ein Drittel, dass es mit fortschreitender Dauer der Übung einfacher wurde und schneller ging, diese Fragen zu beantworten. Besonders spannend ist, dass ein großer Teil der Studienteilnehmer/innen nach einiger Zeit bereits während des Tages begann, bewusst auf Dinge zu achten, die am Abend aufgeschrieben werden können. Situationen werden unmittelbar und in der Gegenwart nach dem „Gefühl des Lebendig-Seins gescannt“, wie einige Personen schreiben, oder danach, ob sie etwas Freudiges enthielten, und ob man in diese Situationen für etwas Bestimmtes dankbar sein konnte oder gerade eine seiner Stärken einsetzt. Erwartungsgemäß fiel es einem Teil (20 %) schwer, an ereignislosen oder weniger schön erlebten Tagen die Übung durchzuführen. 23 % sagten, dass sie die Übung als schönen Abschluss des Tages erlebten.

2.4.2 Leitfrage 2: Was hat sich verändert, was mache ich anders?

Der Großteil der Studienteilnehmer/innen bemerkte, dass sie durch die Übung bewusster wahrnehmen und erleben, weniger übersehen sowie aufmerksamer, achtsamer und wertschätzender mit sich selbst umgehen. Die Probanden gaben an, dass sie alles genauer wahrnehmen, mehr reflektieren und die Dinge nicht mehr für selbstverständlich nehmen. „Das macht nicht per se alles sofort besser, aber es verändert den Blick und hierdurch letztlich auch die Bewertung“, lautet zum Beispiel ein Resümee. Nur 15 % der Teilnehmer/innen gaben anfangs an, keine Änderungen bemerkt zu haben. Spannend ist jedoch, dass alle bis auf drei von diesen Teilnehmer/innen in ihrer Reflexion später dennoch von Veränderungen berichten, z. B. von einem bewussteren Erleben von wertvollen Aspekten im eigenen Leben.

Beobachtungen, die von mehreren gemacht wurden, waren eine rückwirkende Veränderung der Bewertung von schlechten Tagen. Die Erkenntnis war, dass sie zwar dominante negative Elemente beinhalteten, diese aber nur einen Teil des Tages ausmachten und der Rest durchaus positiv sein kann. In eine ähnliche Richtung sind die Aussagen von 16 % der teilnehmenden Personen zu interpretieren, dass sie achtsamer den negativen Emotionen gegenüber wurden und dass über die Reflexion der positiven Erfahrungen eine Neu- bzw. Umbewertung des Tages erfolgte. Als Grund für diese Veränderungen wurde angegeben, dass sich der Wahrnehmungsfokus auf Positives verschiebe, was über die besagten Personen hinaus von 41 % der teilnehmenden Personen berichtet wurde. 49 % der Teilnehmer/innen gaben an, mehr auf Kleinigkeiten zu achten und diese mehr zu schätzen bzw. deren Wert zu erkennen (z. B. Lächeln der Leute, Grün der Bäume, Vogelzwitschern, Frische der Luft …). Man achte darauf, was einem wirklich gut tue, und erinnere sich mehr an positive Dinge, die sonst in Vergessenheit geraten würden. Dabei verändere sich die Wahrnehmung nicht nur in Bezug auf Positives oder Negatives im Allgemeinen, sondern auch spezifisch in Bezug auf den Umgang mit Personen und die Einschätzung von Personen (14 %): Man stelle dem Umfeld andere Fragen, meide Negativität, nehme Problemorientierung des Umfelds bewusster war und ziehe sich aus entsprechenden Gesprächen eher zurück. An Stelle dessen trete eine größere Wertschätzung der eigenen alltäglichen Leistungen, Erfahrungen, aber auch der eigenen Person, wie auch die Wertschätzung für Familie und Freunde, was generell von 35 % der Teilnehmer/innen berichtet wurde. Interessant ist, dass es bei einigen Teilnehmer/innen zu einer bewussteren Wahrnehmung des eigenen Umgehens mit anderen Personen gekommen ist. So wird beispielsweise berichtet, dass „ich begonnen habe, mir zu überlegen, wo ich bei anderen Menschen heute bei den 4 Evening Questions in ihrem Tagebuch positiv vorkommen würde“.

2.4.3 Leitfrage 3: Welche Erfahrung wurde mit den einzelnen Fragen gemacht?

Was hat mir Freude gemacht? Diese Frage schien Vielen verhältnismäßig leicht gefallen zu sein: 28 % der teilnehmenden Personen gaben an, dass diese Frage am leichtesten zu beantworten war, wobei es auch 2 Personen gab, die es als ungewohnt empfanden, sich mit dieser Frage „so strukturiert“ zu beschäftigen. So gab es mehrmals die Antwort, dass die Frage eigentlich recht gut zu beantworten war, weil dazu viele Dinge in den Sinn kämen und ihnen mit der Zeit auch immer mehr Sachen einfielen. Eine andere Erklärung dafür war, dass die Frage so allgemein formuliert war. Es gab „viele Einfälle, oft Kleinigkeiten“ (19 %), die sich als „alltägliche Dinge, die Freude bereiten“ zusammenfassen lassen: der Wert von Beziehungen, Freunden und Familie; Zuwendung, Lob und Zuspruch; Alltagsbegegnungen und Sinneserfahrungen (Schönes beobachten, riechen, schmecken); Erfolge und gute Leistungen; Essen; Sport, aber auch Materielles. Die Befragten bemerkten, es sei sehr schön gewesen, sich am Abend an freudige Situationen zu erinnern, wodurch diese Frage explizit bei 16 % der Übenden ein positives Gefühl auslöste. Einige formulierten, dass diese Frage bei ihnen die Erkenntnis ausgelöst habe, dass sie viel Freude im Leben haben, was wiederum mit einem Gefühl der Zufriedenheit verbunden war.

Wo habe ich mich lebendig gefühlt? Diese Frage wurde, wie erwartet, von 41 % der Teilnehmer/innen als schwieriger zu beantworten erlebt. Eine Schwierigkeit wurde dahingehend erlebt, dass nicht alle Situationen, in denen man sich lebendig fühlt, positiv besetzt sind (z. B. Frust, Ärger, Schmerzen, Streit, Gefahr). Die Schwierigkeiten mit der Beantwortung der Frage führten zur Frage, was es überhaupt heißt, „sich lebendig zu fühlen“. Die Antworten darauf waren breitgefächert – Beispiele für Definitionen sind „kleine Nebenhandlungen, die als ‚Vorfreude‘ zusammengefasst werden können“ oder „Zusammenspiel von körperlicher und geistiger positiver Energie, in der man sich rundum wohl und aktiv fühlt“. Einheitlicher waren in diesem Zusammenhang die Dinge, Tätigkeiten und Aktivitäten, bei denen das Gefühl des Lebendig-Seins erlebt wurden: Am häufigsten wurde Sport genannt (14 %), gefolgt von Natur- und Wetterphänomenen (Wind, Sonne, Regen …) bei 8 % der teilnehmenden Personen. Außerdem wurden genannt: Musik, Herausforderungen und Leistungen, Beziehungen sowie Kochen und Essen. Auffällig ist, dass die Erlebnisse, in denen sich die Teilnehmer/innen lebendig fühlen, vor Durchführung der Übung als selbstverständlich erlebt wurden oder in alltäglichen Situationen vorkamen. So löste diese Frage für einige Personen den größten Erkenntnisgewinn aus und resultierte zum Beispiel darin, dass sie vermehrt aktiv die Situationen aufsuchten, in denen sie sich lebendig fühlten. Nur in einem Fall kam es zu einem negativen Reflexionsergebnis. Dabei baute sich für einen Teilnehmer durch die Frage emotionaler Druck auf, weil dieses Gefühl als neuer Bewertungsmaßstab für die Qualität des Alltags angelegt wurde und dieser fortan als „sehr langweilig“ erschien.

Wofür und wem kann ich heute dankbar sein? Diese Frage wurde erwartungsgemäß von fast allen Studienteilnehmer/innen als schnell beantwortbar wahrgenommen, mit vielen Ideen assoziiert und von 10 Teilnehmer/innen als schönste Frage bezeichnet. Einige äußerten, dass die Frage zu einem Prozess des tiefen Nachdenkens führt, ein gutes Gefühl hinterlässt und zufrieden stimmt, Ressourcen aufdeckt, eine „heilende und versöhnende“ sowie beruhigende und entspannende Wirkung hat. Eine große Erkenntnis unter den Teilnehmer/innen war, dass sie für vieles dankbar sein können und dass es viele Menschen gibt, die einem tagtäglich etwas Gutes tun, in schwierigen Situationen helfen oder einfach den Tag verschönern (27 %). Dabei gaben 2 Personen an, dass sich der Fokus von Materiellem und „großen Hilfestellungen“, für die man dankbar ist, im Prozess des Tagebuchführens schnell auf vermeintliche Kleinigkeiten verschiebt, die „doch die größte Bedeutung haben“.

Welche Stärken konnte ich heute ausleben? Fast die Hälfte der Teilnehmer/innen gab an, dass dies die schwierigste Frage gewesen sei und einige Zeit gebraucht wurde, bis überhaupt Stärken erkannt und vor allem benannt werden konnten. Diese Schwierigkeit war aufgrund der Vorstudien zu erwarten und eingeplant. Rund 10 % schrieben allerdings auch, bei dieser Frage den größten Erkenntnisgewinn gehabt zu haben und z. B. durch diese Erkenntnisse neue Wege gefunden zu haben und diese auch zu gehen. Insgesamt ein Viertel der Studienteilnehmer/innen kam zu dem Schluss, viele Stärken zu haben und kompetent zu sein, was das Gefühl von Kraft, Selbstbewusstsein, Zufriedenheit und Glück auslöste. 8 % der Teilnehmer/innen sprachen explizit davon, dass sie sich zum ersten Mal damit beschäftigen mussten, für sich zu definieren, was Stärken eigentlich sind. Gründe für die Schwierigkeiten mit der Frage wurden im Zusammenhang mit dem eigenen Selbstverständnis bzw. dem Blick auf die eigene Person formuliert: „Oft ist mir im Alltag gar nicht bewusst, was meine Stärken sind oder wie ich sie einsetzen kann“ oder „Ich strotze nicht vor Selbstbewusstsein, deshalb fällt es mir schwer, zu sagen, worin ich wirklich gut bin“. Letztlich artikulierte ein Viertel der Teilnehmer/innen, dass sie sich durch die regelmäßige Beantwortung dieser Frage besser kennenlernten, 11 % gaben an, hierfür ca. eine Woche gebraucht zu haben. Ein Drittel machte die Erfahrung, dass Stärken zum Vorschein kamen, die zuvor nicht bewusst wahrgenommen worden waren oder die als selbstverständlich erachtet wurden. Auch von einem „Ketteneffekt“ wurde berichtet: Sobald eine Stärke erkannt wurde, wurden weitere Stärken bewusst, die ebenfalls mit dieser Situation verbunden waren, oder es traten andere Situationen ins Bewusstsein, in denen man diese Stärke(n) ebenfalls zur Anwendung bringen konnte. Auch bislang unbekannte Stärken wurden entsprechend den Schilderungen von einigen erkannt, und das eigene Leben bzw. die eigenen Aktivitäten und Verhaltensweisen wurden in einem neuen Blickwinkel betrachtet und bewertet. Hierbei kam es zu „erstaunlichen Einsichten“ wie neuen Strategien zur kontextabhängigen Nutzung von Stärken oder einer neuen Perspektive auf das eigene Leben und die eigenen Aktivitäten. 11 % äußerten das Vorhaben, Stärken in sich selbst und anderen mehr zu sehen und weiter aktiv nach eigenen Stärken und ihren Einsatzmöglichkeiten zu suchen.

2.5 Die Ergebnisse auf einen Blick

Um die Erfahrungen der Studienteilnehmer/innen mit der Methode der 4‑Evening-Questions komprimiert darzustellen, wurden die Nennungen in Cluster zusammengefasst, ausgezählt und für eine Word-Cloud (Abb. 1) aufbereitet. Die Größe der Wörter ist direkt proportional zur Häufigkeit der Nennungen. Es wurden ausschließlich Cluster in die Abbildung aufgenommen, die von mindestens 20 % der Teilnehmer/innen genannt wurden.

Abb. 1
figure 1

Word Cloud zu Erfahrungen mit der Methode der 4‑Evening-Questions

3 Zusammenfassung und Überlegungen für die praktische Anwendung

Die Ergebnisse der Studie legen den Schluss nahe, dass die Wirkung dieser Technik auf einer Veränderung der Wahrnehmung von Alltagssituationen und einer daraus folgenden Änderung von Interpretationen und Handlungen beruht. Viele Teilnehmer/innen berichten in diesem Zusammenhang, dass die Gegenwart anders „gescannt“ wurde und sie daraus resultierend mehr Positives wie Wertschätzung, Erkennen von Stärken oder Dankbarkeit erlebten, was wiederum zu Verhaltensänderungen geführt hat. Somit hatten sie ein Werkzeug, um direkt in den Kreislauf der selbsterfüllenden Prophezeiung (vgl. Watzlawick 1984) einzugreifen und die Eigenkompetenz zur Selbststeuerung zu erleben.

Die Ergebnisse machen deutlich, dass diese Technik in vielen Fällen ein Pull-Verhalten („hin zu“), also ein gezieltes Aufsuchen von stärkenden Situationen auslöst. Gleichzeitig berichten viele Teilnehmer/innen von einem Push-Verhalten („weg von“), indem unangenehme Situationen bewusster dahingehend reflektiert wurden, ob und wie sie vermeidbar sind. Somit kommt es zu einer Aufwärtsspirale: Es werden vermehrt positive und stärkende Beobachtungen gemacht, diese führen zu einer Veränderung der Wahrnehmung und zu einem für die Person günstigen Push- bzw. Pull-Verhalten. Menschen erkennen dadurch einerseits ihre eigenen Lebensgestaltungsmöglichkeiten und erleben dadurch andererseits vermehrt positive Situationen. Das führt wiederum zu vermehrten positiven und stärkenden Beobachtungen. Jener Teil der Probanden, die die Übung nicht bis zur Abschlussreflexion durchgeführt haben, waren aufgrund von beruflichen Veränderungen nicht mehr erreichbar, haben die Abschlussreflexion nicht bis zum Zeitpunkt der Auswertung abgegeben oder führten die Übung nicht durch, was zumindest theoretisch zu einem positiven Verzerren der Ergebnisse beitragen könnte.

Bei detaillierter Betrachtung der Ergebnisse wird deutlich, dass sich die positiven Beschreibungen überwiegend auf die Wirkung der Übung beziehen, während sich negative Erfahrungen fast ausschließlich auf die Durchführung der Übung selbst beziehen und dass für manche Personen ihr Durchhaltevermögen der entscheidende Schlüssel zum Durchführen dieser Übung war. Diese Erkenntnis ist für die Beratungspraxis von großer Bedeutung. Aktuelle Studien (z. B. Gong und Li 2017) zeigen nämlich, dass positive Emotionen das Durchhaltevermögen erhöhen und umgekehrt. Daraus resultiert, dass in Beratungssituationen möglicherweise in einem ersten Schritt Strategien erarbeitet werden müssen, um das Durchhaltevermögen der Klient/innen zu stärken. Dass diese Kompetenz lohnenswert ist, wird auch dadurch deutlich, dass jene Fragen, die von vielen als schwierig erlebt wurden (sich lebendig fühlen, Stärken ausleben), für viele dann den größten Erkenntnisgewinn auslösten.

Dass Durchhaltevermögen ein wesentlicher Indikator für Erfolg ist, wurde in der Forschung der Positiven Psychologie mehrfach eindrucksvoll belegt (Duckworth et al. 2007). Für regelmäßig stattfindende Beratungsgespräche oder auch mehrtägige Seminare bietet es sich daher an, darauf zu achten, ob es dem/der Anwender/in gelingt, die Übung regelmäßig durchzuführen und gegebenenfalls gemeinsam Strategien zu entwickeln, um das Durchhaltevermögen zu erhöhen.

Dass die Reflexion mit einer anderen Person das Durchhaltevermögen positiv beeinflussen kann, zeigt folgende Erfahrung: Studienteilnehmer/innen, die im Rahmen des modular aufgebauten Seminars die Aufgabe der „4 Evening Questions“ bekamen, wurden nach der schriftlichen Einzelreflexion gebeten, ihre Erfahrungen mit dieser Übung in Kleingruppen zu reflektieren. Das führte bei einigen Teilnehmer/innen zu zusätzlichen Erkenntnissen, und einige, die die Übung abgebrochen hatten, wurden durch die positiven Erfahrungen der anderen Teilnehmer/innen dazu motiviert, es nochmals zu versuchen. Somit kann diese Technik sowohl in Seminaren als auch in Beratungssettings gut eingesetzt werden. Der Vorteil beim Einsatz in Beratungssituationen ist, dass der/die Berater/in gezielt mit den Ergebnissen weiterarbeiten kann. Der Vorteil der Übung im Seminarsetting ist, dass Teilnehmer/innen durch die Reflexionen der anderen Personen weitere Anregungen für sich bekommen.

Die Kombination dieser konkreten 4 Reflexionsfragen hat sich in der Praxis als günstig erwiesen, da besonders in den ersten Übungstagen die Fragen für die Studienteilnehmer/innen unterschiedlich schwer zu beantworten waren. Da für alle mindestens eine Frage leicht zu beantworten war, konnten auch jene, die die ersten Tage der Übung schwierig fanden, Erfolgserlebnisse verbuchen und dann auch jene Fragen beantworten, die für sie schwieriger waren, aber für einige den größten Erkenntnisgewinn brachten.

Viele Coachingtechniken wie „Zielorientiertes Fragen“ (Klient/innen überlegen sich Handlungsmöglichkeiten, um ein Ziel zu erreichen) oder „Reframing“ (Änderung des Bezugsrahmens für die Interpretation einer Situation) sind an kognitive Kompetenzen unserer Klient/innen gebunden. Die Technik der positiven Tagesrückschau ergänzt diese Methoden durch ihren stärker erfahrungsorientierten Charakter: Die Fragen selbst werden (vermeintlich) ohne ein bestimmtes Ziel gestellt, lösen aber – wie die vorliegende Studie zeigt – gerade dadurch Erkenntnisgewinn aus.

Wichtig ist allerdings, dass der/die Berater/in mit dieser Übung keinen Erwartungsdruck, ausschließlich das Positive wahrzunehmen und das Negative zu negieren, aufbaut oder verstärkt. Oder noch schlimmer: eine Haltung induziert, die positives Erleben als Marker dafür bestimmt, ob das eigene Leben lohnenswert ist. Vielmehr ist es hilfreich, bei der Instruktion der Übung darauf hinzuweisen, dass das Leben aus positiven und negativen Erfahrungen besteht. Die Methode zielt darauf ab, mögliche positive Mikromomente und eigene Stärken in den Fokus zu nehmen, die ansonsten nicht bewusst wahrgenommen werden, und ihnen Raum zu geben, ohne mögliche negative Erlebnisse zu negieren. Inwieweit diese Übung für eine Anwendung bei klinischer Symptomatik geeignet ist oder ob sie möglicherweise sogar kontraindiziert ist, kann durch die vorliegende Studie nicht beantwortet werden. Dazu ist weitere Forschung im klinischen Anwendungsbereich notwendig. Mit dem zu arbeiten, was da ist, und Menschen dort abzuholen, wo sie stehen, gilt auch bei dieser Technik. Diese in der Beratungspraxis gefühlt uralte Weisheit hat nach wie vor Gültigkeit und ist eine Grundkompetenz in der Beratung. Die weitere Grundkompetenz ist allerdings, mit welcher geeigneten Wanderausrüstung man sich anschließend auf den gemeinsamen Weg begibt. Fundierte und evidenzbasierte Tools sind die professionelle Wanderausrüstung in der Beratung und Begleitung von Entwicklungsprozessen, die Technik der „4 Evening Questions“ ist eines davon.