Im Versuch, das Wesen und die Eigenarten von Jugend verstehen, werden häufig psychologische, erziehungswissenschaftliche und sozialpädagogische sowie soziologische Perspektiven unterschieden. So kann Jugend beispielsweise als biologisches Lebensalter, biografische Lebensphase oder als gesellschaftliche Institution in den Blick genommen werden. Im Folgenden orientiere ich mich an dieser disziplinären Strukturierung und möchte Überlegungen zur Bedeutung von Zeit für das jeweilige Verständnis von Jugend anstellen.
Jugend als Zeit somatischer Veränderungen
Aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive auf Jugend stellt sich zunächst die Frage, wo bzw. wann Jugend beginnt und endet. Dies wird in der Entwicklungspsychologie vorrangig mit Blick auf physische und psychische Entwicklungsprozesse beschrieben. So führen bspw. Weichold und Silbereisen (2017, S. 240) aus: „Als Jugend im Sinne der Entwicklungspsychologie bezeichnet man die Zeit zwischen der Pubertät und dem Ende des zweiten Lebensjahrzehnts (ca. 10.–20. Lebensjahr).“ Jugend ist hier somit vor allem als Jugendalter und hierbei als Zeit der Pubertät zu verstehen. Diese ist gekennzeichnet durch grundlegende körperliche Veränderungen der Heranwachsenden (vgl. Weichold und Silbereisen 2017, S. 242). Die Dichte an Lern- und Entwicklungsschritten ist in der Jugendphase im Gegensatz zum Erwachsenenalter besonders hoch, d. h. es vollziehen sich deutlich mehr Entwicklungen und dies in kürzerer Zeit (Freund und Nikitin 2017, S. 266).
Der Faktor Zeit ist aus entwicklungspsychologischer Perspektive auf Jugend insbesondere dort interessant, wo bspw. somatische Veränderungen mit sozialen Entwicklungen in Verbindung gebracht werden. So referieren Weichold und Silbereisen (2017, S. 244) etwa die Beobachtung, dass sich die Pubertät in westlichen Ländern „aufgrund besserer Ernährung und Hygiene nach vorn verschoben [hat]“ und bringen diese ins Verhältnis zu der Tatsache, dass gleichzeitig jugendtypische „Entwicklungsaufgaben […] mehr Zeit [beanspruchen], weil die Anforderungen komplexer und ihre Planbarkeit geringer“ geworden seien (Weichold und Silbereisen 2017, S. 250). Aus dieser Beobachtung ergibt sich eine „besondere Vulnerabilität“ von Jugendlichen bei der Entwicklung von Selbstregulationsfähigkeiten in Bezug auf das eigene Handeln (vgl. Weichold und Silbereisen 2017, S. 250). Das bedeutet, dass Jugendliche beim „Erkennen von Diskrepanzen zwischen Wunsch, Realität und Umsetzung“ (ebd.) ihrer Lebensaspirationen auf besondere Weise verletzlich sind. Vor diesem Hintergrund könnte sich eine besondere Vulnerabilität von Jugendlichen auch bzgl. der Einschnitte ergeben, die die Corona-Pandemie für ihr Leben mit sich bringt.
Auch mit Blick auf die benötigte Zeit für Lernerfolge im Kontext Schule sind die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse folgenreich. „[D]as biologische Entwicklungstempo und der Stand der kognitiven Entwicklung“ etwa können sich „zwischen Jugendlichen des gleichen Jahrgangs erheblich unterscheiden“ (Weichold und Silbereisen 2017, S. 257). Hieraus ergibt sich, dass die Lernumgebung Jugendlicher auf diese Unterschiede äußerst flexibel eingehen muss bzw. müsste, insofern eine Passung erreicht werden soll (ebd.). In der Corona-Zeit ist jedoch wahrscheinlich, dass im Zuge bspw. von Homeschooling, Wechselunterricht und Online-Studium noch deutlich weniger auf die individuellen Lernvoraussetzungen und -tempi der Jugendlichen eingegangen werden konnte.
Jugend als Zeit der Veränderung sozialer Kontakte
Mit Blick auf die psycho-soziale Dimension von Jugend sind aus einer Zeit-bezogenen Perspektive bspw. die Freizeitgestaltung und die Rolle von Peers interessant. In der Jugend nehmen Peer-Beziehungen, d. h. Kontakte unter Gleichaltrigen, zu und lösen damit häufig die Familie als bis dato primäres soziales Bezugssystem ab (vgl. Harring et al. 2015, S. 24f). In der Freizeit ebenso wie in der Schule entstehen damit neue Bildungs- und Sozialisationsräume, die „in besonderem Maße auf die (kulturelle) Lebensführung und soziale Orientierung von Jugendlichen“ wirken (ebd.).
Hier kann festgehalten werden, dass die Jugend eine Lebensphase ist, in welcher junge Menschen lernen und üben, autonomer über die Art zu entscheiden, wie sie ihre Zeit verbringen. So zeigt sich bei der Betrachtung alterstypischer Verläufe des Freizeitverhaltens Jugendlicher nach (vgl. Weichold und Silbereisen 2017, S. 256) das folgende Muster: Zunächst verbringen Jugendliche ihre Freizeit in einer für sie von Erwachsenen organisierten Form („organized“). Durch den Bedeutungsgewinn von informellen Beziehungen zu Peers werden die Aktivitäten zunehmend selbst- und weniger fremdgesteuert („casual“, „informal“). Mit wachsender Selbstständigkeit (auch finanzieller) werden schließlich vermehrt kommerziell gestaltete Freizeitangebote in Anspruch genommen („commercial“). Die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus haben diese Entwicklung jedoch deutlich eingeschränkt. So dürften sich etwa die Möglichkeiten, Peer-Beziehungen als Lernräume zu nutzen, stark verringert haben.
Gleichzeitig ist anzumerken, dass die Gestaltungsspielräume von Jugendlichen bezogen auf ihre Freizeit sehr unterschiedlich sind (vgl. Harring et al. 2015, S. 25). Nicht alle jungen Menschen haben gleichermaßen die Chance, sich entsprechend ihren „jugendlichen Motiven, die sich zwischen Abenteuerlust, Unabhängigkeitsbestreben und Qualifizierungsabsichten bewegen“, in ihrer Freizeit sowie in ihrer Lebensplanung national und international mobil zu bewegen und neue Beziehungen einzugehen (vgl. Harring et al. 2015, S. 26). Hinweise auf eine Verstärkung von sozialen Ungleichheiten durch die Pandemie (BJK 2021) legen nahe, dass sich diese Unterschiede in den letzten zwei Jahren noch verstärkt haben dürften.
Jugend als biografisch angelegte Bildungszeit
Durch die Aufteilung von Biografien in Lebensphasen stehen uns diese als „sozialweltliches Orientierungsmuster“ zur Verfügung, „das in modernen Gesellschaften zum Alltagswissen gehört und das wir als Ordnungsschema für unser Handeln und Denken nutzen.“ (Dausien 2020, S. 73) Mit jeder Lebensphase gehen „lebensalterbezogene Anforderungen“ einher, die „gleichermaßen institutionell wie individuell disponiert sind“ (Schierbaum und Bossek 2020, S. 191). Die gesellschaftlich vorstrukturierten, alterstypischen Erwartungen an Jugend sind aus soziologischer Sicht als historisch bedingt und wandelbar zu verstehen. Die Lebensphase Jugend wird als erst durch die „Institutionalisierung eines dreigeteilten modernen Lebenslaufes“, welcher „um Erwerbsarbeit strukturiert ist“ (vgl. Dahmen 2020, S. 174) entstanden begriffen. Zentral sind dabei Prozesse der Dekommodifizierung und Scholarisierung sowie der Institutionalisierung einer Altershierarchie (Dahmen 2020, S. 174).
Ein wichtiges Konzept ist hier jenes des „psychosozialen Moratoriums“. Jugend wird als institutionalisierter „Schonraum“ verstanden, in dem „Menschen zeitlich befristet von bestimmten gesellschaftlichen Verpflichtungen ent[bunden]“ werden (Harring et al. 2015, S. 15 mit Bezug auf Reinders 2006, S. 82). Das Konzept wurde mit Blick auf die in den 1970er-Jahren einsetzende Bildungsexpansion ausdifferenziert und bezeichnet heute zumeist den Prozess der „Etablierung eines sich über die gesamte Lebensphase Jugend erstreckenden Bildungsmoratoriums […] mitsamt dem daraus resultierenden Trend zu längeren Ausbildungszeiten und höheren schulischen Qualifikationen“ (Harring et al. 2015, S. 16). Damit einher geht die gesellschaftliche Erwartung an Jugendliche, diese „Freistellung auf Zeit“ zu nutzen, um „sich kulturelles Kapital allgemein und Bildungskapital in Form von Bildungstiteln im Besonderen anzueignen“ (vgl. Harring et al. 2015, S. 16). Der Übergang ins Erwachsenenalter soll durch Leistung vorbereitet, das Bildungsmoratorium ziel- und zweckgerichtet ausgestaltet werden (Harring et al. 2015, S. 16).
Eine Aktualisierung hat das Moratoriums-Konzept zuletzt im Lichte gesellschaftlicher Prozesse der Beschleunigung und Individualisierung erfahren, sodass inzwischen gar von Jugend als „Optimierungsmoratorium“ gesprochen wird (vgl. Reinders 2016). Hintergrund ist, dass sich „[u]nter den Bedingungen von Bildung und Qualifizierung […] im ökonomischen Wettbewerb und demografischen Wandel […] Leistungs- und Optimierungsanforderungen zunehmend in frühe Phasen des Lebens“ vorverlagern (Schierbaum und Bossek 2020, S. 192). Gleichzeitig hat „die den Individuen zugeschriebene Verantwortung für ihren Lebenslauf zugenommen, indem diese sich zugleich als ‚unternehmerisch‘ und ‚singulär‘ ausweisen müssen, um ihre Kompetenz der Lebensgestaltung zu zeigen“ (vgl. Sackmann 2020, S. 186). Es ist daher zu vermuten, dass Jugendliche eventuelle Corona-bedingte Einschnitte in ihre Zukunftsplanung sowie in ihre avisierten Bildungskarrieren als Gefahr für ihren in diesem Sinne ‚unternehmerischen‘, hoch-individualisierten Bildungserfolg wahrnehmen könnten.