Zusammenfassung
Dieser Beitrag zur Zeitschrift Gruppe. Interaktion. Organisation diskutiert Ansätze und Möglichkeiten einer Demokratisierung von Unternehmen. Während in westlichen Gesellschaften die Krise der Demokratie aktuell eine Zuspitzung erfährt, kommen aus der Welt der Arbeit aufsehenerregende demokratische (Gegen‑)Impulse: Frühere Top-Manager kritisieren mit Verve die „angelernte Unmündigkeit“ (Thomas Sattelberger) des Menschen in der Arbeit und entwerfen das „demokratische Unternehmen“ als einen neuen Ort der Freiheit. Sie adressieren die Beschäftigten als Betriebsbürger, die qua demokratischer Prozesse Einfluss auf Gegenstände nehmen, die ihrer Einwirkung traditionell weitgehend entzogen sind (bis hin zur Wahl von Führungskräften, Entgeltfestlegungen durch die Beschäftigten, Arbeitszeit und -ort, Produktstrategie). Längst sind es nicht nur besonders agile Vorreiterunternehmen, die unter dem Label „New Work“ Hierarchien einebnen, Entscheidungskompetenzen dezentralisieren und Statusprivilegien abbauen. In einem ersten Schritt identifiziert unser Beitrag Kernbestandteile der neuen Arbeits- und Organisationskonzepte („New Work“) und setzt sich kritisch mit den darin implizierten Demokratisierungsvorstellungen auseinander. Daran schließt eine zweite Perspektive auf Demokratie in der Arbeitswelt an, die primär von Gewerkschaften, betrieblichen Interessenvertretungen und arbeitsbezogenen Beratern vertreten wird. Aktuelle Bemühungen um „Gute Arbeit“ knüpfen an weitgehend verschüttete Demokratisierungstraditionen (Wirtschaftsdemokratie, Programme zur „Humanisierung der Arbeitswelt“) an und versuchen, diese in einer globalen, vermarktlichten und digitalisierten Arbeitswelt weiterzuentwickeln. Politiken der „Guten Arbeit“ nehmen ihren Ausgangspunkt in Subjektivität und den Arbeitsinteressen der arbeitenden Menschen. Sie erschließen das Expertenwissen und die Gestaltungskompetenzen von Beschäftigten über partizipative Prozesse und tragen so zu einer demokratischen Erweiterung der repräsentativen Mitbestimmung bei. Der Beitrag bringt diese beiden Demokratisierungstraditionen in einen Dialog.
Abstract
This contribution to the journal Gruppe. Interaktion. Organisation engages with approaches to and prospects for workplace democracy. While the crisis of Western democracies currently identifies, democratic counter movements seem to spring from the world of work. Former senior managers are offering a spirited critique of current work and employment systems as these keep people in a state of “acquired immaturity” (Thomas Sattelberger). They call for the “democratic enterprise”, designed to be a new place of freedom. Employees are referred to as workplace-citizens, who should democratically decide upon issues traditionally far beyond their influence (i.e. election of management by work-teams, setting of pay rates and working-time, worker decision on place of work, and even product strategy). It is not exclusively agile frontrunners that promote “New Work”, reduce hierarchies, devolve responsibility and question status privilege. This contribution identifies the core ideas that make up recent concepts of work and organisation and engages critically with the underlying concepts of democratisation. We then turn to an alternative perspective on the issue of democracy at work. This is the perspective taken by trade unions, workplace representatives, and some consultants in the field of work and organisation. Current efforts to promote decent work link into former democratic traditions such as economic democracy and work humanization programmes in order to develop concepts of democracy at work in a global, digitalised market economy. Decent work programmes take worker’s subjectivities and the interests at work as their starting point. By extending worker participation at work, they unearth worker’s expert knowledge and creative skills. These forms of participation are an extension of traditional, representative workplace co-determination. Our contribution thus lets two traditions of work-democratisation enter into dialogue with each other.
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Notes
Die Bestimmung „erneute“ verweist auf die Tatsache, dass ähnliche Konstellationen historisch immer wieder beschworen worden sind, so z. B. auch in den Diskussionen um die Effizienzgewinne aus erweiterter Arbeitnehmerpartizipation in der Arbeitssoziologie der 1990er. Nach Phasen der Ernüchterung angesichts der hinter den Erwartungen zurückbleibenden Realisierung von „mutual gains“-Konzepten folgen neue Euphorieschübe, die sich zumeist aus den dann aktuell neuesten technologischen Entwicklungen speisen (Singe 2012).
So berichten auf sogenannten Fuck Up-Nights der New Work-Community Menschen von gescheiterten Projekten und Geschäftsideen.
Zwischen Demokratisierung qua institutionalisierter Formen der Mitsprache und -bestimmung im Betrieb und in Aufsichtsräten und einer vollständig demokratischen Kontrolle der Kontrolle der Produktion durch die unmittelbaren Produzenten liegen große Unterschiede. Während die traditionelle Sozialdemokratie den Staat als Demokratisierungsakteur verstand, setzen andere Traditionen der Linken auf die Schaffung demokratischer Organisationen von unten, z. B. in Form von Arbeiterräten.
Hierzu bedürfen Betriebsräte einer Unterstützung durch reflexiv orientierte Berater wie Supervisoren und Coaches (Tietel 2009).
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Singe, I., Tietel, E. Demokratie im Unternehmen zwischen „New Work“ und „Guter Arbeit“. Gr Interakt Org 50, 251–259 (2019). https://doi.org/10.1007/s11612-019-00477-x
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