Grenzen sind Setzungen. Sie signalisieren Gemeinsamkeiten und Zugehörigkeit bzw. Unterschiede und Ausschluss; je nach dem, aus welcher Perspektive Betrachter/innen die Grenzen wahrnehmen. Das Fremde außerhalb von Grenzen kann bedrohlich wirken, die Grenze soll diejenigen schützten, die sich innerhalb des begrenzten Raumes befinden.

Grenzen sind beweglich und können verändert werden. Systeme können Beziehungen zu ihren Umwelten aufnehmen und die Landschaft von miteinander interagierenden Systemwelten modifizieren.

Grenzen können eingehalten, übertreten oder abgebaut werden. Sie können unüberwindbar erscheinen oder durchlässig.

Mit welchen Interessen werden Grenzen gewahrt, überwacht? Wer hat die Macht über die Grenzen?

Die Digitalisierung der Welt suggeriert eine Utopie der Grenzenlosigkeit. Die phantasierte Freiheit eines grenzenlosen Daseins wird von einem unbehaglichen Gefühl emotionaler und struktureller Diffusität eingeholt. Ohne Grenzen verlieren Systeme ihre Orientierungsrahmen.

Nicht nur die Grenzziehungen an den europäischen Außen- und Innengrenzen sensibilisieren derzeit Menschen und Völker für das Thema. Gerade in Organisationen erleben wir schon über einen längeren Zeitraum hinweg ein Wechselspiel von globaler Entgrenzung und den Versuchen, das Ganze „zusammenzuhalten“. Unterstützt durch die Möglichkeiten digitaler Kommunikation verblassen eindeutige strukturelle und räumliche Einheiten. Jede erfolgreiche Entgrenzung führt zu Managementunterfangen, die sich verflüchtigenden Verhältnisse wieder in eine Ordnung zu bringen.

Die seit der Neuzeit so klar getrennte Welt von Arbeits- und Privatleben, deren Unausgewogenheit als Work-Live-Balance Organisationen, Berater/innen und andere wohlmeinende Wissende beschäftigt hat und es bis heute noch tut, weicht einer neuen Einschätzung: Work-Life-Integration. Schon der Name impliziert, dass sich die Grenzen von Work und Life verflüssigen. Mit Hilfe digitaler Unterstützung heißt das Motto von immer mehr Mitarbeiter/innen: „All time and everywhere“. Ausgestattet mit Tablet, Datenträgern und Internetverbindungen ist das Büro allzeit präsent und immer und überall dabei. Räumliche Büros werden für gelegentliche Meetings gebraucht. Der Arbeitsplatz im Unternehmen besteht aus einer Steckdose. Führungskräfte sind beunruhigt ob solcher Entwicklungen. Sie hätten ihre Mitarbeiter/innen gerne körperlich präsent.

Die Betrachtung von Organisationen durch die Brille systemtheoretischer Überlegungen stellt das Grenzthema in den Vordergrund. Durch die Betonung von Unterscheidungen, von Systemen und Umwelten, von der Geschlossenheit von Systemen, ihren autopoietischen Dynamiken und der Gestaltung von Koppelungen zu ihren Umwelten, erklärt sich Organisation als Konstrukt, bestehend aus Strukturen, deren autopoietischer Zweck die Erhaltung der Organisation selbst ist, der Erreichung von Organisationszielen dient, die sie mithilfe von Entscheidungen und Entscheidungsprozessen erreicht. Dieser gut geölte Mechanismus von Kommunikation und Kommunikationsstrukturen gerät durch Entgrenzungsdynamiken außer Balance. Beschleunigung, Globalisierung, Digitalisierung verwerfen strukturelle Muster in Organisationen.

Die immerwährenden Organisationsveränderungen sind ein Wechselspiel von Grenzauflösungen und neuen Grenzziehungen. Die Entwicklungsgeschwindigkeit von solchen Veränderungsprozessen erlaubt es nicht mehr, sich in einer neuen Struktur zugehörig zu fühlen. Affiliationsverlust, die Unlust in Beziehungsnetzwerke innerhalb einer Organisationseinheit, in ein Team, zu investieren ist die Folge. Menschen, Individuen werden auf sich selbst zurückgeworfen und grenzen sich emotional und sozial ab. Es ist gleichermaßen eine Schutzreaktion als auch eine Befreiung von den sozialen Zwängen einer Arbeitsgemeinschaft.

Die grenzenlose Allgegenwärtigkeit entgrenzter Welten suggeriert Omnipräsenz und individuelle Bedeutung. Gleichzeitig erleben sich Menschen in einem entgrenzten Umfeld klein und unbedeutend, hilflos und haltsuchend. Der Verlust direkter Kommunikations- und Interaktionsformen durch die digitalisierte Überwindung von Raum und Zeit führt zu Absicherungsstrategien seitens des Managements, die fast altmodisch anmuten. Reporting: Die schriftliche Verfassung von Berichten, Protokollen, Gesprächsmemorandi. Schrift, als der „Haltegriff“ von flüchtigen Informationen irgendwo in Clouds. Geschriebenes hält fest, grenzt ein und ermöglicht den Autor/innen Distanz zu einer erlebten Unsicherheit und Hilflosigkeit (z. B. einer nicht gelungenen Videokommunikation) herzustellen.

Beratung ist eine Tätigkeit, die mit und an Grenzen arbeitet. Menschen, die Beratung aufsuchen, sind oft an den Grenzen ihrer Möglichkeiten angelangt.

Berater/innen haben ihr Grenzmanagement professionalisiert. Sie vermögen eigene Gefühle, Bedürfnisse und Ängste von jenen ihrer Klient/innen zu unterscheiden, können Spiegelphänomene erkennen und damit arbeiten.

Berater/innen kommen an ihre Grenzen, wenn der „Fall“ sich aus dem Bereich des angebotenen Beratungsrahmens hinausbewegt, eine Grenze überschreitet. Wo endet Coaching, wo beginnt Therapie? In Bereichen der Beziehungsarbeit sind diese Grenzen mitunter schwer zu ziehen. Je nach Berater/in sind es auch hier Setzungen, die bewusst vorgenommen werden müssen.

Die Erfahrung lässt Berater/innen erkennen, wann ein angemessener Tiefgang erreicht wird und wann die Grenzen der Reflexions- und Verarbeitungskapazität ihrer Klient/innen zu wahren sind. Und dennoch ist es die Arbeit an den Grenzen, die eine Beratung erfolgreich macht. Die leichte Irritation, die Beratung erzeugt, wenn Klient/innen eine innere Grenze überschritten haben und neue Perspektiven entdecken, die zunächst fremd anmuten und daher besser im Verborgenen bleiben. Eine Beratung, die nicht an die Grenzen geht, wird keine Veränderung bewirken können. Eine Beratung, die Grenzen zu hochdosiert überschreitet, wird Klient/innen dazu veranlassen bessere Selbstschutz-Grenzen zu errichten.

Aber auch Berater/innen müssen nicht nur in ihrer Beratungsarbeit Grenzarbeit leisten sondern auch Beratung als Arbeit durch ein Grenzmanagement meistern. Das gilt für Freelancer in professionellen Netzwerken, für Beratungsteams in Organisationen oder auch für Beratungsorganisationen gleichermaßen. Sie sind mit den selben Begrenzungen und Entgrenzungsphänomenen konfrontiert wie ihre Klient/innen und Kund/innen, insofern leisten sie doppelte Grenzarbeit.

Die Autor/innen der Beiträge in diesem Heft haben sich aus unterschiedlichen Perspektiven diesem Thema angenähert.

Ruth Lerchster und Peter Heintel skizzieren in ihrem Text „Facebook or loss of face? Zur Grenzdialektik direkter versus virtueller (indirekter) Kommunikation am Beispiel der Gruppendynamik“ die derzeitige gesellschaftspolitische Großwetterlage und fokussieren dabei auf das Phänomen der Kommunikation in sozialen Netzwerken.

Die Quelle ihrer Überlegungen sind Beobachtungen aus T‑Gruppenseminaren im universitären Kontext und Reflexionsberichte von Teilnehmer/innen. Ausgehend von der Überlegung, dass die Themen und Dynamiken in gruppendynamischen Seminaren immer auch ein Spiegel der jeweiligen gesellschaftspolitischen Anliegen sind, werden die Wechselwirkungen von T‑Gruppen Geschehnissen, basierend auf unmittelbarer, direkter face to face Kommunikation, mit den Kommunikationsmustern in sozialen Netzwerken untersucht. Der Beitrag versucht eine Antwort auf die Frage, ob und in welcher Weise sich die Kommunikationsgepflogenheiten in sozialen Netzwerken auf die Dynamik in T‑Gruppen auswirken. Der Text hat den Charakter einer Reflexion, die sich auf Befunde, Beobachtungen und Gruppendiskussionen zur Lernerfahrung aus T‑Gruppen, stützt.

Das pädagogische Umfeld war und ist ein beliebtes Anwendungsfeld gruppendynamischer Arbeit und theoretischer Überlegungen. Ulrich Krainz greift in seinem Beitrag „Die politische Dimension der sozialen Form: Von den Grenzen des Demokratielernens in einem nach Religionen getrennten Unterricht“ ein genuin gruppendynamisches Sujet auf. Eingebettet in die Darstellung der aktuellen Situation rund um Migrations- und Flüchtlingsthemen berichtet der Text aus einem qualitativ empirischen Forschungsprojekt, das sich mit dem Spannungsfeld von Religion und Demokratie im öffentlichen Schulsystem am Beispiel des katholischen und islamischen Religionsunterrichts in Österreich befasst. Bemühungen um Integration und Inklusion, die Auflösung von Grenzen, die Andersartigkeit aller Art ausschließen, werden konterkariert von einer Grenze, an der in den untersuchten Schulen nach wie vor festgehalten wird: Der getrennte Unterricht je nach Religionszugehörigkeit.

Die theoretische Auseinandersetzung mit der Thematik am Beginn des Artikels geben zudem einen interessanten Einblick in den aktuellen theoretischen Diskurs.

Organisationen, ihre Grenzen und ihre Berührungen sind Thema des Beitrags von Sandra Lellinger und Thomas Bachmann. Ausgehend von systemtheoretischen Überlegungen werden Organisationen und die ihr eigenen Organisationslogiken als soziale Systeme beschrieben. Zur Interpretation der Gestaltung der Interaktion von sozialen Systemen bedienen sich die Autor/innen eines Modells aus der Gestaltarbeit. Aus der Gestalttherapie wird der Kontaktbegriff übernommen und auf die System-Umwelt-Dynamik von Organisationen übertragen. Dabei wird auf die Muster der Kontaktgestaltung von Organisationen und deren Rückwirkung auf die Mitarbeiter/innen fokussiert. Die Autor/innen unterscheiden vier Kontaktmuster und versuchen diese im Rahmen einer quantitativ empirischen Studie zu operationalisieren. Untersucht wurden Zusammenhänge zwischen dem Kontaktverhalten von Organisationen und den soziodemographischen Daten, dem wahrgenommenen Organisationsklima, der Identifikation mit der Organisation und deren Image und Erfolg.

Der Beitrag von Lars Fritzsche, Dominika Wach, Franziska Jungmann und Jürgen Wegge „Zur Bedeutung von Faultlines als Grenzen bei der Teamarbeit“ beschreibt und diskutiert ein in der aktuellen Teamforschung etabliertes Konzept zur Erforschung von Diversity-Effekten auf unterschiedliche Parameter des Teams, wie Teamleistung oder -identifikation, Fehlzeiten, Wohlbefinden und Gesundheit etc. Faultlines beschreiben dabei hypothetische Trennlinien, die sich aus dem gleichzeitigen Vorliegen verschiedener Attribute der Teammitglieder (Alter, Geschlecht, Ethnizität, Betriebszugehörigkeit etc.) ergeben. Solche Faultlines, an denen entlang sich in Arbeitsgruppen homogene Subeinheiten (Subgruppen) bilden, werden vor allem in Krisensituationen aktiviert und wirken sich so auf die Teamarbeit eindeutig negativ aus. Es zeigt sich aber auch, dass deren negative Wirkung (als latente Grenzen in Teams) stark von subjektiven Bewertungen beeinflusst resp. dadurch gemildert werden können, etwa wenn die Einstellung der Teamleiter/innen gegenüber Diversität positiv ist. Insofern sind nicht nur Fragen der objektiven Zusammensetzung von Teams relevant sondern auch der kommunikative Umgang mit Diversität als Grenzen oder als Möglichkeiten in Teams und Organisationen.

Paul Constantin Endrejat und Simone Kauffeld laden mit ihrem Beitrag „Wie könnten wir Organisationsentwicklungen partizipativ gestalten?“ zu einer Begehung in die Welt des Design Think Ansatzes ein. In einer umfassenden theoretischen Rahmung argumentieren die Autor/innen aus verschiedenen Blickwinkeln die Bedeutung partizipativer Prozesse bei Organisations- und Changeprozessen und beschreiben den Design Think Ansatz als eine passende Möglichkeit, partizipative Prozesse in der Organisation zu implementieren. Im zweiten Teil des Textes wird auf die Relevanz des Design Think Ansatzes für Beratungsprozesse eingegangen. Anhand von Modellen werden sowohl eine passende Beratungshaltung als auch dem Design Think Ansatz entsprechende Interventionsmöglichkeiten beschrieben.

Gegenstand der Fallstudie von Allison Vössing „Blurred Lines. Between Professionalism and Familiarity“ ist eine unabhängige Beratungspraxis, die sich „Wellness Counceling“ nennt. Auf den Spuren des Erfolges dieser Beratungsstelle sollen im Rahmen eines Beratungsprojektes die Erfolgsfaktoren identifiziert werden. Dies vor dem Hintergrund eines anstehenden Veränderungsprozesses, der sich durch den altersbedingten Ausstieg des Gründerpaares der Beratungsstelle notwendigerweise ergibt. Charakteristisch für das Wellness Counceling ist die Vermischung von familiärer Atmosphäre und professioneller Arbeit, die sich sowohl im Ambiente als auch im Umgang der Mitarbeiter/innen untereinander zeigt. Aus dieser Vermischung entsteht eine für die Beratungsstelle typische Dynamik dreier Komponenten: Professionalität, Familialität und Business. Die wechselseitigen Abhängigkeiten und Einflüsse derselben werden in dem Fallbeispiel reflektiert und analysiert und vor dem Hintergrund psychodynamischer Theorien diskutiert.

In der Rubrik „Aktuelles“ wird von Mathias Csar das Phänomen „Holocracy – Heilsbringer für die Organisation der Zukunft oder gut verkauftes Rollenspiel?“ unter die Lupe genommen. Der Autor beschreibt zunächst, was unter Holocracy zu verstehen ist und arbeitet Vorteile und Bedenken zu diesem Konzept heraus.