Diese theoretische Reflexion, basierend auf gesammelten und strukturierten Erfahrungswerten aus TG im Kontext universitärer gruppendynamischer Lehrveranstaltungen, geht davon aus, dass die Inhalte und die Dynamik gruppendynamischer Veranstaltungen auch immer die jeweilige gesellschaftspolitische Entwicklung widerspiegeln. Vom jeweiligen Verhalten der Teilnehmer/innen können Beobachtungen abgeleitet werden, die Hinweise auf Veränderungen der kontextualen Großwetterlage geben. Insofern werden über einen langen Zeitraum gemachte Beobachtungen und Reflexionen ausgewertet, strukturiert und analysiert und vor dem Hintergrund eines zeitgeistlichen Phänomens, der sozialen Netzwerke, reflektiert und diskutiert. Das Ziehen einiger historisch-gesellschaftsrelevanter Linien geschieht in der Absicht, verständlicher erscheinen zu lassen, was wir vorhin als Reflexionsergebnisse zusammengefasst haben.
Diese Entwicklungsstränge mit ihrer Ausformung durch das Digitale zu überlegen, scheint uns ein Gebot der Stunde zu sein. Denn einerseits könnte man behaupten, dass das Internet den radikalen Endpunkt indirekter Kommunikation und seiner Anonymität darstellt. Dort findet die ökonomische Globalisierung ihre technische Begleitung. Ohne Internet wäre sie in der uns bekannten Form nicht möglich. Auf der anderen Seite ist man sich ungeachtet beliebiger Entfernung näher gerückt. Früher unüberwindbare Entfernungen spielen faktisch keine Rolle mehr, mit Skype kann man in einer Form miteinander plaudern, als säße man sich zu Hause gegenüber. Die indirekte, virtuelle Kommunikation wird zu einer direkten, ihr Verlust anscheinend zurückgenommen. Größtmögliche Anonymität korrespondiert mit ihrer Selbstaufhebung. Wir haben uns die direkte Kommunikation zurückgeholt. Wie aber verhält sie sich zu den anderen Anforderungen der Flüchtigkeit in Flexibilität und Mobilität? Lässt sie sich tatsächlich zurückholen oder schreibt das Virtuelle Grenzen fest, die hinter der offensichtlichen Entgrenzung verborgen werden? Steht facebook für vergebliche Kompensationsversuche, wieder mehr Nähe herzustellen, einer Nähe, der deutliche Grenzen gesetzt werden? Oder befinden wir uns in einer Übergangszeit, in der sich neue Kommunikationsformen zu etablieren beginnen, die uns milde lächelnd an den „antiquierten“ Menschen zurückblicken lassen? Und: Ist die im gruppendynamischen Verständnis aufgeklärte, reife Gruppe noch eine zeitgemäße Sozialform?
Auf unser Thema bezogen scheint hier einiges interessant zu sein. Das Virtuelle, die Radikalisierung der Anonymität, entspricht zweifellos einer historischen Entwicklung, die kontinuierlich an der Aufhebung direkter Kommunikation und ihrer Sozialformen gearbeitet hat. Des Weiteren fordert Globalisierung für eine im Entstehen begriffene Weltgesellschaft jene Distanzmöglichkeiten, welche uns zwar mit vielen Menschen im Kontakt sein lassen, aber dessen Vertiefung vermeiden helfen. Wir dürfen nicht auf sie und eine mit ihr verbundene Intensität angewiesen sein, weil sie uns die Möglichkeit nimmt, mit vielen Unterschieden an Kulturen, Lebensgeschichten usw. zu kommunizieren. Daher vielleicht auch die Oberflächentoleranz. Es lässt sich mit Menschen leichter verkehren, wenn die gegenseitigen Unterschiede nicht zu groß werden und wenn man sich jederzeit von ihnen trennen kann. Quantität ist offensichtlich nur so bewältigbar, und die vielen „friends“ mögen zwar ein Prestigeausweis sein, ein intensiverer Kontakt aber scheitert an der Masse und der Zeit, die der Alltagsbeschäftigung abgetrotzt werden muss; und viele „followers“ können auch nicht als eine verschworene Anhängergemeinschaft bezeichnet werden. Dennoch, eine Weltgesellschaft braucht diese virtuelle Kommunikation und zwar nicht nur aus ökonomischen Gründen. Sie ist eine notwendige Form der Organisation einer Massengesellschaft, für die bestehende Institutionen nicht ausreichen.
Ob letztlich die Bedeutung direkter Kommunikation zu einer Schwundstufe der indirekten, anonymen wird und ob die scheinbar risikolose Geborgenheit im Netz ein entwickeltes, tragfähiges, differenziertes und dadurch stabiles Kollektiv (wie es in TG kreiert werden kann) ersetzen wird, und ob für den Erwerb sozialer Kompetenzen entlang des vorgestellten Kompetenzrades (s. vorne) eine face-to-face Interaktion und Kommunikation nicht unabdingbar bleiben wird, ist kaum vorauszusagen. Ebenso könnten sich Defizitgefühle verstärken, die einen Verlust bedauern (Grenzen, Heimat, sichere Zugehörigkeiten, nationale und regionale Werte und Normen), neue Einsamkeitsempfindungen könnten Raum greifen und eine dogmatisch geforderte Toleranz- und Wertschätzungshaltung könnte latente Aggressionen verstärken und sich Kompensationen suchen. Für politische Demagogie waren sie immer auch schon Ansprechstation. Insofern wäre zu untersuchen, inwiefern virtuelle Kommunikation als Zivilisationstechnik zur Triebverdrängung führt, man an der Oberfläche einen sehr zivilisierten Umgang pflegt und die Rezepte für den Umgang mit latenten Aggressionen fehlen und ob der anonyme virtuelle Raum deshalb verstärkt als Ventil für diese Aggressionen genutzt wird bzw. ob Autoritätsfiguren, die aggressiv bis vulgär auftreten, deshalb zunehmend Zuspruch finden. Das Setting der TG bietet Raum und Möglichkeit, attraktive Forschungsfelder zu eröffnen, um künftig derartig gesellschaftsrelevante Themen- und Fragestellungen empirisch zu untersuchen.
Für die gegenwärtige gruppendynamische Arbeit bedeutet dies unter anderem, dass man sich auf die veränderten Umwelten, die sozialen Techniken des 21. Jahrhunderts sowie die gesellschaftspolitischen Entwicklungen einstellen wird müssen. Dass es darum gehen wird, aktuelle Phänomene und Verhaltensformen sowie Defizitkompensationen etc. erst recht auf ihre Ursachen hin bewusst zu machen. Einer um sich greifenden Orientierungslosigkeit einerseits ihre Berechtigung nachzuweisen, ihr andererseits aus sich selbst herauszuhelfen. Zu untersuchen, inwiefern die „klassische Autorität“ der gruppendynamischen Anfänge noch zeitgemäß ist, zu analysieren, inwieweit Demokratielernen, der Umgang mit (Rassen)Unterschieden oder das Verstehen auftretender Affekte der direkten Kommunikation bedarf; Zeit, Verständnis und Zuwendung in Prozesse der Ermutigung zu investieren, Auseinandersetzung, Reflexion und Verhandlung zu ermöglichen und zu trainieren und Menschen dabei zu unterstützen, über die Methode des praktischen Philosophierens eine Identität (ein face) zu entwickeln, welche sie in dieser Form in ihrer virtuellen Welt vielleicht vermissen.