Mit dem vorliegenden offenen Heft präsentiert sich das Berliner Journal als wahrhaft allgemeine soziologische Fachzeitschrift. Vieler unserer vorigen Ausgaben waren drängenden Fragen (leider sehr) aktueller Krisen gewidmet. Doch bei allen gegenwärtigen Kalamitäten, die es soziologisch zu reflektieren gilt und die nicht umsonst häufig im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stehen, bleiben Einreichungen relevant, die ungeklärte theoretische Probleme bearbeiten, Veränderungen im Alltagsleben empirisch untersuchen oder über den Tellerrand innerdeutscher und -europäischer Problematiken hinausblicken.

Letzeres vor allem deshalb, weil auch theoretische und auf Deutschland bezogene Analysen eingebettet sind in eine unablässig wachsende, sich andauernd weiter differenzierende, ver- und entflechtende Weltgesellschaft. Den Herausforderungen der uferlosen und hyperkomplexen sozialen Welt, die sich in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten herausgebildet hat, hat die Soziologie sich zu stellen – auch wenn dies notwendig nur ausschnitthaft geschehen kann. Denn selbst wenn (wie das vorangegangene Schwerpunktheft gezeigt hat) eine weltpolitische Deglobalisierung in Sicht scheint, kann sich die Soziologie nicht der Illusion hingeben, dass die europäische oder gar nationale Nabelschau damit wieder plausibel werden wird: Vom empirischen Komplexitätsdruck einer globalisierten Welt wird die Soziologie so schnell nicht entlastet. Die Beiträge in diesem Heft spannen denn auch einen thematisch wie geographisch weiten Horizont, reichen ihre Themenfelder doch vom Globalphänomen Fußball über Markttheorien und Geschlechterverhältnisse bis hin zu chinesischen Sozialfiguren und der Erklärung von Gewaltphänomenen. Entsprechend vielfältig sind auch die theoretischen und methodologischen Zugänge.

Wo sich das dauerkrisengeplagte Gemüt nach Entlastung sehnt, schweift der Blick nicht selten zum Fußball, derzeit umso mehr: denn das Jahr endet ausnahmsweise mit der Fußball-Weltmeisterschaft im Emirat Katar, wo es im Sommer zum Fußballspielen zu heiß ist. Die angesichts von Menschenrechtsverletzungen umstrittene WM wirft einmal mehr Schlaglichter auf den kommerzialisierten Sport, seine gesellschaftliche Bedeutung und seine Helden. Unter den Letzteren gilt Diego Armando Maradona bis heute als die vermutlich schillerndste popkulturelle Ikone, insbesondere in seinem Herkunftsland Argentinien. Über seinen Tod im November 2020 hinaus reißt die Auseinandersetzung mit seiner Person und seiner Bedeutung auch in der Wissenschaft nicht ab. Dabei kann der ungebrochene Hype um „el Diego“ angesichts von Drogenmissbrauch, Mafiakontakten und vieler anderer Skandale und Entgleisungen durchaus überraschen. Mit diesem Rätsel setzen sich Felix Kühnle und Marcel Reinold auseinander: Sie fragen, wie es zu erklären ist, dass Maradona trotz aller Verfehlungen Heldenstatus erlangen und bewahren konnte. Auf Basis von kultur-, sport-, politikwissenschaftlichen und anthropologischen Analysen und mit wachem Blick für prominente Deutungen des Phänomens Maradona aus Sport, Politik und Kultur rekonstruieren die Autoren kommunikative Semantiken und Narrative des Maradona-Diskurses und arbeiten die zugrundeliegenden „Logiken kommunikativer Immunisierung“ heraus. Dabei gehen sie der über den begnadeten Sportler vermittelten Gemeinschafts- und Einheitsfiktion der argentinischen Nation ebenso nach wie der narrativen Erhebung Maradonas zur Protest- und Rebellionsfigur, die als Genie, aber auch als Opfer galt und über alldem einen nahezu gottähnlichen Status erlangte.

Maradonas Rebellenstatus speiste sich nicht zuletzt daraus, dass er imstande war, den herrschenden Verhältnissen ein Schnippchen zu schlagen – man denke nur an die „Hand Gottes“ – und mit Argentinien und dem SSC Neapel nicht für möglich gehaltene Erfolge zu erringen. Das lässt gerade in Zeiten eines hochgradig marktgesteuerten „Fußballbusiness“, in dem gegen die ökonomische Macht der Topvereine kaum ein Kraut gewachsen scheint, romantische Gefühle aufkommen. Angesichts der bestimmenden Rolle der Märkte überrascht indes, dass es der Markttheorien zwar unzählige gibt, aber die wenigsten von ihnen die Entstehung von Märkten behandeln. Genau dieser Frage widmen sich Patrik Aspers, Petter Bengtsson und Alexander Dobeson in ihrem Beitrag. Bei ihrem Durchgang durch prominente Ansätze der Ökonomie und der Wirtschaftssoziologie gehen sie sowohl der Gestaltung von Marktplätzen nach als auch der Entwicklung neuer Märkte, wie im Fall der sogenannten Plattformökonomie. Herausgearbeitet werden drei idealtypische Erklärungen für „Market Fashioning“: die in der Ökonomie vorherrschende These der wechselseitigen Anpassung von Marktakteuren, eine organisationssoziologische Perspektive auf Märkte, für die organisatorische Entscheidungen die wesentlichen Mechanismen sind, sowie Theorien, die sich auf Konzepte sozialer Felder beziehen und damit politische Machtkämpfe, aber auch institutionelle Rahmenbedingungen einbeziehen. In kritischer Auseinandersetzung mit prominenten Vertretern des jeweiligen Ansatzes wird ein detailreiches Bild der jeweiligen Stärken und Schwachstellen gezeichnet. Nicht nur mit Blick auf Plattformen und ihre Rolle im Digitalisierungsprozess kann das ein wertvoller Anknüpfungspunkt künftiger empirischer Analysen sein.

Um marktkorrigierende Politik geht es im Beitrag von Ricarda Reich: Sie setzt sich in ihrer empirischen Studie mit den Konsequenzen der 2015 erfolgten Einführung von „Elterngeld Plus“ und „Partnerschaftsbonus“ für Teilzeitarrangements junger Familien während des Elterngeldbezugs auseinander. Dieses Thema ordnet sich in die umfangreiche Debatte zur Krise der sozialen Reproduktion und zur geschlechtsspezifischen Aufteilung von Produktions- und Reproduktionsarbeit ein. Bislang vorliegende Untersuchungen – auch im Kontext der Corona-Krise und digitaler Arbeitsformen – belegen die Schwierigkeit, traditionelle Rollenmuster und geschlechtsspezifische Zuschreibungen selbst dort zu überwinden, wo das angestrebt wird. Gesetzliche Neuregelungen wie das Elterngeld Plus und der Partnerschaftsbonus sollten und könnten dazu beitragen, mehr Gleichheit bei der familialen Aufgabenteilung zu erreichen. Gefragt wird in der Abhandlung konkret danach, wie die neuen Gestaltungsmöglichkeiten genutzt werden und welche Motive der Entscheidung über parallele Teilzeitarrangements beider Partner:innen zugrunde liegen. Im Ergebnis werden fünf typische Konstellationen identifiziert, die insbesondere die jeweilige Geschlechterrollenorientierung, den Blick auf die Bedürfnisse des Kindes, die Berufs- und Karrierevorstellungen sowie ökonomische und zeitliche Ressourcen in den Blick nehmen. Progressive Motive um ein internalisiertes Gleichheitsideal finden ihren Ausdruck vor allem in egalitären Teilzeitarrangements langer Dauer, während kurze Phasen der parallelen Teilzeitbeschäftigung meist pragmatischen Motiven folgen und die „klassische“ Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern kaum infrage stellen. Man darf gespannt sein, ob sich im Laufe der Zeit etwas daran ändert und institutionelle Innovationen wie das Elterngeld ihre hochgesteckten gleichstellungspolitischen Ziele per stetem Tropfen erreichen können.

Eine von Junchen Yan verfasste Forschungsnotiz schließt an die bereits zuvor im Berliner Journal behandelte Thematik der gesellschaftlichen Entwicklung Chinas und dessen Verhältnis zum Westen an. Anhand der medialen Darstellung der sogenannten „waiqi white collars“ – den chinesischen Angestellten in multinationalen Unternehmen – vollzieht Yan eine wichtige Verschiebung im öffentlichen chinesischen Diskurs nach. Im Mittelpunkt der politischen Strategie nach Maos Tod erkennt Yan die kollektive Aufgabe des chinesischen „Modernwerdens“, wobei die Selbstwahrnehmung zunächst durch eine empfundene „Rückständigkeit“ geprägt war und der Westen wenigstens in puncto Wohlstand als Vorbild diente. In dieser Konstellation wurden die „waiqi white collars“ als Leitfiguren der Modernisierung inszeniert. Dies ist nun aber seit einiger Zeit immer weniger der Fall: Wie der Autor anhand der Analyse chinesischer Printmedien aus den Jahren 1991 bis 2013 zeigt, stellen diese die chinesischen Angestellten multinationaler Konzerne ab Ende der 2000er-Jahre keineswegs mehr durchgängig als Avantgarde dar. Stattdessen werden sie gezielt abgewertet gegenüber den Angestellten einheimischer Unternehmen und Verwaltungseinrichtungen. Indem er die Sozialfigur der „waiqi whites collars“ als diskursives Hegemonieprojekt zur politischen Konstruktion des „modernen Chinesen“ und dessen Verhältnis zum Westen versteht, macht Yan greifbar, wie sich das chinesische Selbstverständnis seit der Jahrtausendwende gewandelt hat.

In ihrem Debattenbeitrag antworten Thomas Kron und Lena M. Verneuer-Emre auf die Kritik von Thomas Hoebel an ihrer Abhandlung „Struktur? Physis? Situation? Zur Erklärung von Gewalt“ (erschienen in Heft 3–4/2020). Insbesondere reagieren sie auf drei Vorwürfe Hoebels (in Heft 3–4/2021), die das Verhältnis des Gewaltbegriffs zum von Kron und Verneuer-Emre präferierten „Modell der soziologischen Erklärung“, die Aufarbeitung des Forschungsstandes und die Integration von Randall Collins mikrosoziologischer Erklärung von Gewalt in das theoretische Modell betreffen. Wie der Titel ihrer Replik zeigt, geht es ihnen aber nicht allein um die Auseinandersetzung um geeignete theoretische und empirische Erklärungen von Gewalt, sondern auch um den Umgang miteinander im wissenschaftlichen Diskurs. Sie sprechen sich nachdrücklich für eine „wertschätzende Kommunikation“ aus.

Mit diesem Editorial verabschiede ich mich aus dem Herausgeber:innenkreis des Berliner Journals für Soziologie, dem ich mehr als 10 Jahre angehörte und in dessen Rahmen ich das Journal über Höhen und Tiefen hinweg begleiten und mitgestalten konnte. Ich verbleibe in der Hoffnung, dass das Journal weiterhin auf ein breites Interesse der Leser:innen stößt und weiterführende wissenschaftliche Kontroversen anregt. Möge es gelingen, unseren selbstgesteckten Ansprüchen und Zielen mit Unterstützung der Autor:innen und Leser:innen gerecht zu werden und die gesellschaftliche Relevanz der Soziologie immer wieder von Neuem unter Beweis zu stellen – steht doch nicht nur die deutsche Gesellschaft vor großen Herausforderungen in nahezu allen Bereichen.