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Bewertung ist ein allgegenwärtiges soziales Phänomen: Zeugnisse bewerten Schülerinnen und Schüler; Schulleistungsstudien wie PISA ganze Bildungssysteme; Konsumenten die Produkte von Firmen; Ratingagenturen Unternehmen und die Kreditwürdigkeit von Nationalstaaten; Rankings die Forschung und Lehre von Universitäten sowie deren Mensen, Internetauftritte und Bibliotheken; Kenner die Qualität von Wein und Tomaten, Kunst und Krempel. Die Soziologie hat in der jüngeren Vergangenheit begonnen, sich für diese und ähnliche Phänomene zu interessieren. Unter dem Stichwort „Soziologie der Bewertung“ (Kjellberg et al. 2013; Lamont 2012; Vatin 2013) begegnen sich nun durchaus heterogene Forschungen, die sich für die sozialen Prozesse interessieren, mit denen Wertigkeiten festgestellt und kommuniziert werden. Thematisch vielfältig, empirisch produktiv, theoretisch aber sicher noch ausbaufähig schickt sich die Soziologie der Bewertung an, die traditionellen Grenzen zwischen den Bindestrichsoziologien zu überbrücken, neue Forschungsperspektiven zu eröffnen und vielfältige interessante Befunde zu Phänomenen der Bewertung in – je nach gesellschaftstheoretischer Präferenz – sozialen Feldern, Sphären, Teilbereichen oder Welten, aber auch in Organisationen und Interaktionen zusammenzutragen.
Die Beiträge des Themenschwerpunktes „Soziologie der Bewertung“ im vorliegenden Heft 3/4 des BJS gehen auf eine Tagung an der Universität Bremen im Dezember 2015 zurück, die darauf abzielte, Soziologinnen und Soziologen aus unterschiedlichen Forschungskontexten miteinander über Fragen der Bewertung ins Gespräch zu bringen und erste Ansatzpunkte für die Entwicklung soziologischer Forschungsprogramme zu identifizieren.Footnote 1 Die hier publizierten Beiträge zur Tagung setzen sich mit der Wirtschaft (Arnold und Hasse), der Wissenschaft (Hamann; Janßen und Sondermann) sowie der Bildung (Kalthoff und Dittrich) und damit mit sozialen Feldern auseinander, in denen die Prominenz von Bewertungsfragen nicht überrascht. Mit Beiträgen zur Bewertung des kulturellen Erbes (Schäfer) und der Musik (Wilke) sind aber auch Bereiche vertreten, die nicht zu den üblichen Verdächtigen zählen. Gerahmt wird der Themenschwerpunkt durch zwei theoretische Aufsätze (Meier, Peetz und Waibel; Krüger und Reinhart). Zu den Beiträgen im Einzelnen:
Frank Meier, Thorsten Peetz und Désirée Waibel eröffnen das Heft mit einem konzeptuellen Beitrag, der auf der Grundlage der Diskussionen des Bremer Workshops entstanden ist. Die Autoren rücken Bewertungskonstellationen in das Zentrum ihrer Forschungsperspektive und schlagen ein analytisches Modell vor, das über die in der Soziologie der Bewertung verbreiteten situationalistischen Ansätze hinauszugehen erlaubt. Das Modell lenkt den Blick auf die Beziehungen von Bewertenden, Bewertungsobjekten und Publika der Bewertung und stellt ein Instrumentarium bereit, das auf die systematische Analyse miteinander verwobener Bewertungen ausgelegt ist.
Ein zentrales Thema der Soziologie der Bewertung ist die Unsicherheit, die dann auftritt, wenn sich die Qualitäten des Bewertungsobjekts der Überprüfung entziehen. Um diese Problematik geht es im organisationssoziologischen Beitrag von Nadine Arnold und Raimund Hasse zur Label-Landschaft des schweizerischen Einzelhandels. Ihr Fokus liegt auf Labels, die moralische Qualitäten von Lebensmitteln signalisieren, etwa dass diese den Ansprüchen und Standards des fairen Handels oder der tiergerechten Produktion entsprechen. Der Beitrag zeigt, wie versucht wird, die Vertrauenswürdigkeit dieser Signale über ein komplexes Zusammenspiel von Drittparteien herzustellen und zu garantieren. Die Autoren machen die Beobachtung, dass die Bewertungsschleifen über multiple Instanzen das Unsicherheitsproblem eher invisibilisieren, denn lösen.
Ein besonderes Augenmerk der Soziologie der Bewertung gilt der Frage, wie das Partikulare und Unvergleichliche bewertet werden kann (Karpik 2011). Hilmar Schäfer bietet hierzu eine Fallstudie über das Bewertungsverfahren zur Aufnahme von Kulturstätten auf die Liste des UNESCO-Welterbes. Zum einen untersucht er aus einer historischen Perspektive die Arbeit am zentralen Bewertungskriterium der Authentizität, das auch für partikularistische, insbesondere außereuropäische Verständnisse geöffnet wurde. Zum anderen erforscht er die Debatten im Welterbekomitee ethnografisch und zeigt die verschieden Strategien auf, die angewendet werden, um den für eine Aufnahme erforderlichen „außergewöhnlichen universellen Wert“ von partikularen Stätten zu behaupten und unter Beweis zu stellen.
Wenn sich Verfahren, Kriterien und Regeln der Bewertung ändern, ist es für die Soziologie der Bewertung eine interessante Frage, wie die Betroffenen auf den Wandel reagieren. Melike Janßen und Ariadne Sondermann untersuchen mit einer subjektorientierten Perspektive, wie sich die Einführung von neuen Bewertungs- und Steuerungsverfahren an den Universitäten auf die akademische Identität von Professorinnen und Professoren auswirkt. Der Beitrag zeigt die Bandbreite der Reaktionen auf, die von schlichter Abwehr über partielle Modifikation bis hin zu vollständiger Adaption reicht. Die Reaktionen hängen auch davon ab, auf welchen disziplinären Kontext die Veränderung des Bewertungsregimes trifft.
Der Aufsatz von Désirée Wilke geht einem Problem nach, das in der Soziologie der Bewertung bislang wenig Beachtung gefunden hat: Wie können kritische Urteile in Interaktionssituationen geäußert werden? Diese Frage wird besonders dort relevant, wo kritische Bewertungen konstitutiv für eine gemeinsame soziale Praxis sind, gleichzeitig aber auf Dauer angelegte heikle Kooperationsbeziehungen gefährden können. In ihrer konversationsanalytischen Untersuchung von Proben eines studentischen Streichquartetts zeigt die Autorin, mit welchen kommunikativen Mitteln, die auch durch die Besonderheiten des Bewertungsobjekts geprägt sind, das Ensemble dieses Bewertungsproblem bearbeitet.
Während sich die Forschung zur akademischen Bewertung vornehmlich auf formalisierte Verfahren konzentriert, untersucht Julian Hamann ein zwar sehr traditionelles, aber wenig im Fokus stehendes Bewertungsformat: akademische Nachrufe. Der Autor versteht die Soziologie der Bewertung vor allem als vergleichendes Unterfangen. So bekommt er nicht nur in den Blick, welche Bewertungskriterien in Nachrufen verschiedener Disziplinen, Länder und Perioden für die Konsekration von akademischen Lebensläufen relevant werden, sondern auch, was Nachrufe von anderen Genres der Bewertung von Personen durch Personen in unterschiedlichen sozialen Feldern unterscheidet.
Dass Schulen zentrale gesellschaftliche Orte der Bewertung von Personen darstellen und einen entscheidenden Einfluss auf individuelle Lebensläufe haben, ist nicht überraschend. Herbert Kalthoff und Tristan Dittrich untersuchen in ihrem Beitrag allerdings einen Aspekt des schulischen Lebens, der in Analysen schulischer Bewertungsprozesse leicht vergessen wird: die Bewertung von Schülerinnen und Schülern in Interaktionssituationen zwischen Lehrerinnen und Lehrern. Anhand ihres umfangreichen ethnografischen Materials zeigen die Autoren, dass die Wertigkeit von Schülerinnen und Schülern nicht nur im Unterricht oder während der Korrektur von Klassenaufgaben festgestellt wird. Es sind auch informelle Interaktionen, über die das Lehrpersonal an einer Vorstellung von der Wertigkeit individueller Personen arbeitet und sie fortlaufend stabilisiert. Die offiziellen Zeugniskonferenzen – also formelle Interaktionen zur Bewertung von Abwesenden – stellen demgegenüber Orte der Ratifizierung von vorausgehenden Bewertungsurteilen dar, die im Regelfall nicht wieder infrage gestellt werden.
Der abschließende Beitrag von Anne K. Krüger und Martin Reinhart zielt auf eine erste theoretisch-konzeptuelle Bestimmung zentraler Begriffe, die sich in aktuellen Veröffentlichungen zur Soziologie der Bewertung finden lassen. Ihre Sondierungen im begrifflichen Feld der Werte und Wertungen zeigen den immensen Bedarf an theoretischer Arbeit, die noch geleistet werden muss, um die Soziologie der Bewertung als Forschungsansatz zu konsolidieren. Ihre sozialtheoretischen Überlegungen weisen darauf hin, dass sich die Soziologie der Bewertung – wie wohl auch die Soziologie im Allgemeinen – mit der Frage auseinandersetzen sollte, welche konstitutive Rolle Emotionen in Prozessen der Zuschreibung und Feststellung von Wert spielen.
Lässt man die Beiträge Revue passieren, verstärkt sich der Eindruck, dass nicht nur die internationale, sondern auch die deutschsprachige Diskussion zur Soziologie der Bewertung ergiebige Anknüpfungspunkte für die weitere Forschung bietet. Das weitere Schicksal der Soziologie der Bewertung wird davon abhängen, ob es gelingt, langfristige produktive Forschungsprogramme zu etablieren. In empirischer Hinsicht scheint es vielversprechend zu sein, die Soziologie der Bewertung durch systematische Vergleichsstudien voranzutreiben (so schon die Forderung von Lamont 2012). Die Theoriediskussion innerhalb der Soziologie der Bewertung könnte ihrerseits von der Intensivierung der Auseinandersetzung mit der klassischen wie mit der modernen sozial- und gesellschaftstheoretischen Forschung profitieren: Was kann man von Marx, Weber, Simmel und Durkheim für die Soziologie der Bewertung lernen? Und was von der Wertphilosophie (Schnädelbach 2001)? Welche gesellschaftstheoretische Bedeutung hat die gegenwärtige Prominenz der Bewertung (Heinich 2017)? Wie unterscheiden sich gesellschaftliche Formen der Bewertung (Callon 2013)? Und welche Verbindungen können hergestellt werden zu Prozessen der Ökonomisierung, der Amateurisierung oder des medialen Wandels? Ausgehend von diesen oder ähnlichen Fragen eröffnet sich der Soziologie der Bewertung ein weites Forschungsfeld, das es zu entdecken und zu erschließen gilt.
Im offenen Teil des Doppelheftes präsentieren wir eine Studie von Karina Becker, Sarah Lenz und Marcel Thiel zum Wandel der Pflegearbeit, in der es im Grunde ebenfalls um die Allgegenwart von Bewertungsprozessen in unserer Gesellschaft geht: in diesem Fall um die zunehmende Inwertsetzung von Pflegearbeit und deren Folgen. Die AutorInnen gehen davon aus, dass seit Mitte des 20. Jahrhunderts die stationäre Krankenpflege durch ambivalente Rationalisierungsprozesse gekennzeichnet ist, die sich einerseits als Professionalisierungs- und andererseits als Ökonomisierungstendenzen beschreiben und analysieren lassen. Der Beitrag beschreibt vor dem Hintergrund einer quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse eines Standardwerkes der Ausbildung von Pflegekräften, wie sich diese Tendenzen in der Ausbildung und damit in den Handlungsorientierungen von Pflegerinnen und Plegern niederschlagen. Die 40-jährige Präsenz eines in immer neuen und veränderten Auflagen das Feld der Pflegeausbildung prägenden Lehrbuches ermöglicht es den AutorInnen, eindrucksvoll die zunehmende Ambivalenz zwischen den Professionalisierungs- und Autonomisierungsorientierungen einerseits und der aus der Ökonomisierung des Gesundheitssystems resultierenden Kommerzialisierung der Krankenpflege andererseits zu dokumentieren. Die AutorInnen gehen davon aus, dass sich dadurch für die Beschäftigten ein Intra-Rollenkonflikt ausbildet und verschärft, wie er in der heutigen Bewertungsgesellschaft sicherlich typisch ist, sich in den Pflege- und Gesundheitsberufen aber in gesteigertem Maße als alltäglicher Konflikt zwischen Pflegeethik und Pflegeökonomie darstellt.
Das Heft beschließt ein Bericht zum 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2016 in Bamberg von Maria Keil.
Notes
Die Tagung zur „Soziologie der Bewertung“ in Bremen wurde von der Herausgeberin und den Herausgebern des Schwerpunktes organisiert und von der Universität Bremen aus Mitteln des Zukunftskonzepts im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder finanziell unterstützt. Wir bedanken uns für die Förderung sowie bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung. Ein ausführlicher Tagungsbericht von Thomas Frisch findet sich auf dem sozialwissenschaftlichen Nachrichtenportal „Soziopolis“: http://www.soziopolis.de/vernetzen/veranstaltungsberichte/artikel/soziologie-der-bewertung-1/.
Literatur
Callon, M. (2013). La formulation marchande des biens. In F. Vatin (Hrsg.), Évaluer et valoriser. Une sociologie économique de la mesure (S. 263–285). Toulouse: Presses Universitaires de Mirail.
Heinich, N. (2017). Des valeurs. Une approche sociologique. Paris: Gallimard.
Karpik, L. (2011). Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen. Frankfurt a. M.: Campus.
Kjellberg, H., et al. (2013). Valuation Studies? Our collective two cents. Valuation Studies, 1, 11–30.
Lamont, M. (2012). Toward a comparative sociology of valuation and evaluation. Annual Review of Sociology, 38, 201–221.
Schnädelbach, H. (2001). Werte und Wertungen. Logos. Zeitschrift für systematische Philosophie, Neue Folge, 7, 149–170.
Vatin, F. (Hrsg.). (2013). Évaluer et valoriser. Une sociologie économique de la mesure. Toulouse: Presses Universitaires de Mirail.
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Peetz, T., Aljets, E., Meier, F. et al. Editorial. Berlin J Soziol 26, 301–305 (2016). https://doi.org/10.1007/s11609-017-0331-9
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