Zusammenfassung
In Schulen werden Menschen klassifiziert und kategorisiert, indem ihr Handeln und von ihnen verfasste Dokumente durch andere Menschen bewertet werden. Essenziell für diese Differenzierungspraxis sind kontingente Lehrerurteile, die zu Noten, Zeugnissen und Abschlüssen aggregiert werden. Der Beitrag untersucht die informellen wie formellen Gelegenheiten, in denen das Lehrpersonal der Organisation Schule über Schüler und Klassen spricht bzw. über ihr Abschließen des Schuljahres entscheidet. In den informellen Ad-hoc-Gesprächen im Lehrerzimmer machen Lehrkräfte ihre Einschätzung von Schülern füreinander verfügbar, ohne dass dieses geteilte Wissen sozial folgenreich sein muss. Hingegen werden in den formellen Situationen der Zeugniskonferenz Urteile in einer dramaturgischen Inszenierung ratifiziert und fixiert. Hierdurch wird das Urteil eines Lehrers zum Urteil der Schule. Mittels einer analytischen Beschreibung dieser sozialen und numerisch-administrativen Objektivierungen zeigt der Beitrag, wie Urteile über Schüler in der schulischen Zeitordnung reversibel gehalten und zugleich gehärtet werden.
Abstract
In schools humans are classified and categorized by other humans through the assessment of their actions and documents they produce there. This practice of differentiation essentially relies on contingent teacher judgements that are aggregated into marks, end-of-year reports or school graduation certificates. The article explores the formal and informal situations of teachers talking about their students and classes and making decisions about their school reports. While teachers share their judgements on pupils in informal staff-room conversations, the thereby generated knowledge does not necessarily result in social consequences. It does, though, in formal gatherings such as report conferences, where the judgements are ratified and fixated. The judgement of an individual teacher is hereby transformed into a grade given by the school. By analytically characterizing these social and numeric-administrative objectifications the article shows how judgements on pupils are kept reversible and simultaneously become solidified during the school year.
Résumé
L’école est un lieu où des personnes sont classifiées et catégorisées, leur comportement et leur productions écrites faisant l’objet d’une évaluation par d’autres personnes. Les jugements contingents des professeurs, qui sont agrégés sous la forme de notes, bulletins et diplômes, constituent un élément essentiel de cette pratique de différenciation. Cet article étudie les situations formelles et informelles dans lesquelles le personnel enseignant de l’organisation scolaire discute des élèves et des classes ou décide de leur passage en classe supérieure. Dans les discussions informelles spontanées en salle des professeurs, les enseignants se font part de leur appréciation des élèves sans que ce savoir partagé entraîne nécessairement de conséquences sociales. Dans la situation formelle du conseil de classe, en revanche, des jugements sont ratifiés et fixés dans une mise en scène dramaturgique par le biais de laquelle le jugement d’un professeur devient le jugement de l’école. À partir d’une analyse descriptive de ces objectivations sociales et numérico-administratives, cet article montre comment les jugements portés sur les élèves pendant leur scolarité sont à la fois maintenus réversibles et consolidés.
Notes
Man kann in diesem Zusammenhang – wie Vatin (2013, S. 31 ff.) vorschlägt – zwischen der Produktion von Gütern bzw. Werten und der Bewertung dieser Güter bzw. Werte unterscheiden, wobei zu berücksichtigen bleibt, dass die Bewertung schon im Produktionsprozess mitläuft.
Die bildungssoziologische Forschung, die sich konventionell mit Fragen der (Re)Produktion von Ungleichheit durch die Schule beschäftigt, tut sich bislang schwer damit, diese Dimension der schulischen Bildung analytisch in den Blick zu nehmen.
Wir danken Anton Kozka und Katrin Zaborowski für ihre Unterstützung bei unserer empirischen Forschung.
Die hier dokumentieren Gesprächsauszüge basieren auf Mitschriften bzw. auf Tonaufzeichnungen, die nachträglich verschriftlicht wurden. Wir verwenden folgende Transkriptionszeichen: L = Lehrperson; L1/L2 etc. = verschiedene Lehrpersonen; (…) = Auslassung in der Transkription; ((Rascheln)) = Kommentar des Transkribenten; (P) = kurze Sprechpause; Schul– = Abbruch der Äußerung. Die Auszüge wurden anonymisiert („L“) bzw. pseudonymisiert („Schneider“).
Mit diesem Begriff beschreiben Lau und Wolff (1983) den Umstand, dass schwierige Entscheidungssituationen dazu führen können, in der Hierarchie von Organisationen nach oben weitergereicht zu werden.
Zeugniskonferenzen sind bislang wenig untersucht worden. Maier (2016) beschreibt die schulische Selektion als „cooling out“ – als langsame Abkühlung der Schullaufbahn bei Leistungen, die für die gewählte Schulform inadäquat sind. Hier kommt die Zeugniskonferenz ins Spiel, die den Wechsel auf eine andere Schulform in Gang setzen und beschließen kann. Verkuyten (2000) zeigt, wie Lehrkräfte ihre Noten im Kontext von Beratungen rechtfertigen und erläutern müssen und wie sie auf diese Weise von anderen Lehrkräften „accountable“ gemacht werden.
Der Begriff der „Versetzung“ geht historisch auf die Praxis des Dislozierens im Klassenraum zurück, die man bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen kann: Die Schüler wurden entsprechend ihrer Leistung im Klassenraum platziert. Dabei symbolisierte die räumliche Nähe oder Distanz zur Lehrperson die Leistung der Schüler (ausführlich dazu Lindenhayn 2015).
Literatur
Beckert, J., & Musselin, C. (Hrsg.). (2013). Constructing quality. The classification of goods in markets. Oxford: Oxford University Press.
Bergmann, J. (1987). Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion. Berlin: de Gruyter.
Birkel, P., & Birkel, C. (2002). Wie einig sind sich Lehrer bei der Aufsatzbeurteilung? Eine Replikationsstudie zur Untersuchung von Rudolf Weiss. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 49, 219–224.
Bourdieu, P. (1984). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bourdieu, P. (1992). Homo academicus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bourdieu, P., & Passeron, J. C. (1971). Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett.
Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H., & Nieswand, B. (2013). Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. Stuttgart: UTB.
Carter, R. S. (1952). How invalid are marks assigned by teachers? The Journal of Educational Psychology, 43, 218–228.
Eells, W. C. (1977) [1930]. Die Zuverlässigkeit wiederholter Benotung von aufsatzähnlichen Prüfungsarbeiten. In K. Ingenkamp (Hrsg.), Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung. Texte und Untersuchungsberichte (S. 167–176). Weinheim: Beltz.
Emerson, R. M., Fretz, R. I., & Shaw, L. L. (1995). Writing ethnographic fieldnotes. Chicago: Chicago University Press.
Fend, H. (1980). Theorie der Schule. München: Urban & Schwarzenberg.
Filer, A., & Pollard, A. (2000). The social world of pupil assessment. Processes and contexts of primary schooling. New York: Continuum.
Goffman, E. (1973). Asyle . Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Hahn, A. (1982). Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 34, 407–434.
Hartog, P., & Rhodes, E. C. (1934). An examination of examinations. London: Macmillan.
Hasse, R., & Wyss, S. (2016). Emotionalität als Mythos und Zeremonie? Zur Bedeutung emotionaler Ausdrucksfähigkeit und Selbstthematisierung im Kontext schulischer Beurteilungen. In M. S. Maier (Hrsg.), Organisation und Bildung. Theoretische und empirische Zugänge (S. 161–179). Wiesbaden: Springer VS.
Hochweber, J. (2010). Was erfassen Mathematiknoten? Münster: Waxmann.
Jefferson, G. (1984). On stepwise transition from talk about a trouble to inappropriately next-positionend matters. In J. M. Atkinson & J. Heritage (Hrsg.), Structures of social action. Studies in conversation analysis (S. 191–222). Cambridge: Cambridge University Press.
Kalthoff, H. (1996). Das Zensurenpanoptikum. Eine ethnographische Studie zur schulischen Bewertungspraxis. Zeitschrift für Soziologie, 25, 106–124.
Kalthoff, H. (2014a). Unterrichtspraxis. Überlegungen zu einer empirischen Theorie des Unterrichts. Zeitschrift für Pädagogik, 60, 867–882.
Kalthoff, H. (2014b). Ethnographische Bildungsforschung Revisited. In A. Tervooren et al. (Hrsg.), Ethnographie und Differenz in pädagogischen Feldern (S. 97–116). Bielefeld: transcript.
Kelle, H., & Schweda, A. (2014). Differenzdokumentationen und -produktionen am Übergang vom Elementar- zum Primarbereich. In A. Tervooren et al. (Hrsg.), Ethnographie und Differenz in pädagogischen Feldern (S. 367–386). Bielefeld: transcript.
Kötter, L., & Grau, U. (1965). Zur Bedingtheit der uneinheitlichen Benotung von Schüleraufsätzen (Nacherzählungen). Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie, 12, 278–301.
Lamont, M. (2012). Toward a comparative sociology of valuation and evaluation. Annual Review of Sociology, 38, 201–221.
Lau, J., & Wolff, S. (1983). Der Einstieg in das Untersuchungsfeld als soziologischer Lernprozess. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 35, 417–437.
Lennes, N. J. (1923). The teaching of arithmetic. New York: Macmillan.
Lindenhayn, N. (2015). Die Entdeckung der Prüfung. Zur historischen Epistemologie schulischen Differenzierens. Dissertation, Universität Mainz.
Lorenz, C., & Artelt, C. (2009). Fachspezifität und Stabilität diagnostischer Kompetenz von Grundschullehrkräften in den Fächern Deutsch und Mathematik. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 23, 211–222.
Luhmann, N., & Schorr, K. E. (1988). Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Luhmann, N. (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Lynch, M. (1985). Art and artifact in laboratory science. A study of shop work and shop talk in a research laboratory. London: Routledge.
Maier, M. S. (2016). Die Prozessierung schulischer Selektion. Zur Entwicklung kollektiver Orientierungen und Begründungen im kollektiven Austausch von Lehrkräften. In M. S. Maier (Hrsg.), Organisation und Bildung. Theoretische und empirische Zugänge (S. 139–160). Wiesbaden: Springer VS.
Parsons, T. (1987). Die Schulklasse als soziales System. Einige Funktionen in der amerikanischen Gesellschaft. In K. Plake (Hrsg.), Klassiker der Erziehungssoziologie (S. 102–124). Düsseldorf: Schwann.
Power, M. (1999). The audit society. Rituals of verification. Oxford: Oxford University Press.
Schrader, F.-W. (2006). Diagnostische Kompetenz von Eltern und Lehrern. In D. H. Rost (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (S. 95–100). Weinheim: Beltz.
Schröter, G. (1971). Die ungerechte Aufsatzzensur. Bochum: Kamp.
Südkamp, A., Möller, J., & Pohlmann, B. (2008). Der Simulierte Klassenraum: Eine Untersuchung zur diagnostischen Kompetenz. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 22, 261–276.
Starch, D., & Elliot, E. C. (1912). Reliability of the grading of high school work in English. School Review, 20, 442–457.
Strohmenger, S. (2016). Gespräche mit Lehrern. Eine Collage. Berlin: Sinnreich & Schweitzer.
Torrance, H., & Pryor, J. (2008). The social construction of success and failure in classroom assessment in England. In H. H. Krüger et al. (Hrsg.), Family, school, youth culture – International perspectives of pupil research (S. 219–237). Frankfurt a. M.: Peter Lang.
Ulshöfer, R. (1949). Zur Beurteilung von Reifeprüfungsaufsätzen. Der Deutschunterricht, 1, 84–102.
Vatin, F. (2013). Valuation as evaluating and valorizing. Valuation Studies, 1, 31–50.
Velthuis, D. (2003). Symbolic meaning of prices: Constructing the value of contemporary art in Amsterdam and New York galleries. Theory and Society, 32, 181–215.
Verkuyten, M. (2000). School marks and teachers’ accountability to colleagues. Discourse Studies, 2, 452–472.
Vormbusch, U. (2012). Die Herrschaft der Zahlen. Zur Kalkulation des Sozialen in der kapitalistischen Moderne. Frankfurt a. M.: Campus.
Weiss, R. (1965). Zensur und Zeugnis. Linz: Haslinger.
Wittgenstein, L. (1984). Philosophische Untersuchungen. In L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen (S. 225–280). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Zaborowski, K. U., Meier, M., & Breidenstein, G. (2011). Leistungsbewertung und Unterricht. Ethnographische Studien zur Bewertungspraxis in Gymnasium und Sekundarschule. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Ziegenspeck, J. (1973). Zensur und Zeugnis in der Schule. Hannover: Schroedel.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Kalthoff, H., Dittrich, T. Unterscheidung und Härtung. Bewertungs- und Notenkommunikation in Lehrerzimmer und Zeugniskonferenz. Berlin J Soziol 26, 459–483 (2016). https://doi.org/10.1007/s11609-017-0324-8
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s11609-017-0324-8
Schlüsselwörter
- Humandifferenzierung
- Schulische Bewertung
- Lehrergespräche
- Kommunikation von Bewertungen
- Objektivierung von Bewertungen
Keywords
- Human differentiation
- Educational assessment
- Teachers’ talks
- Communication of assessment
- Objectification of assessment