Seit Mitte der 1970er Jahre sind in den alten kapitalistischen Gesellschaften nachhaltige Krisen und Umbrüche zu verzeichnen. Mit der seinerzeitigen Wirtschaftskrise gelangte die Epoche des Fordismus an ihre Grenzen, insofern die Grundlagen ihres Fortschritts-, Wachstums- und Prosperitätsmodells zusehends erodierten. Diese Entwicklungen mündeten mit dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme nach 1989 in eine neue Phase kapitalistischer Expansion. Mit der Öffnung des globalen Wirtschaftsraums setzte eine Neuformierung der kapitalistischen Gesellschaften ein, die in Westeuropa und den USA maßgeblich durch die Entkoppelung von Finanz- und Realwirtschaft geprägt wurde. Nach dem letzten großen Einschnitt, der Finanzkrise 2008, lässt sich – über einzelne Kapitalismen hinweg – gegenwärtig zweifellos von einer wirtschaftlichen Konsolidierung des Kapitalismus sprechen. Sie verbindet sich in sozialer und ökologischer Hinsicht jedoch mit substanziellen gesellschaftlichen Desintegrationstendenzen und Gefährdungen der Lebensgrundlagen.

In all diesen Entwicklungen haben sich erhebliche Verwerfungen gezeigt, was sowohl das Sozialgefüge – also die sektorale Funktions- und die gesellschaftliche Arbeitsteilung – als auch die Sozialordnung – also die gesellschaftliche Positionierung der Menschen – angeht. Bis dato etablierte Grenzziehungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Privatwirtschaft, Gemeinwirtschaft, Staat, Privathaushalt, zwischen verschiedenen Arbeitsformen wie beispielsweise Erwerbs-, Haus- und Freiwilligenarbeit sind in Bewegung geraten. Quer dazu sind Veränderungen bisheriger Differenzierungen und Ungleichheiten nicht nur, aber auch nach Geschlecht, Ethnie und Schicht zu vermerken. Es haben sich gesellschaftliche Arrangements herausgebildet, die in den Jahrzehnten zuvor so überhaupt noch nicht denkbar und vorhersehbar waren, beispielsweise die Ablösung der fordistischen Trias von Normalarbeitsverhältnis, Kleinfamilie nach dem Male-Breadwinner-Modell und daran orientiertem Wohlfahrtsstaat durch die postfordistische Konfiguration von flexibilisierten, deregulierten, in neuem Ausmaß prekären Beschäftigungsverhältnissen, Lebensformen nach dem Adult-Worker-Modell und einem zurückgenommenen Sozialstaat. Migrationsbewegungen neuen Ausmaßes gehen mit veränderten Migrationsformen einher und fordern inner- wie zwischengesellschaftliche Beziehungen neu heraus.

Wenngleich die krisenhafte Konsolidierung des Kapitalismus also empirisch offensichtlich mit Verwerfungen bis dato etablierter gesellschaftlicher Arrangements einhergegangen ist, sagt dies noch wenig darüber aus, welcher Art der Zusammenhang zwischen beiden Prozessen ist. Um diese Frage drehen sich die Beiträge der vorliegenden Schwerpunktedition, die sich in und zwischen Kapitalismustheorie, (pro)feministischer Theorie und Intersektionalitätsforschung bewegen und der Bedeutung von Geschlecht, Ethnie, Klasse für die kapitalistische Entwicklung und, umgekehrt, ihren Auswirkungen auf soziale Differenzierungen und Ungleichheiten nachgehen.

Da die Soziologie Teil der Gesellschaft ist, die sie zu analysieren beansprucht, ist sie nicht davor gefeit, die gegebenen Verhältnisse zu affirmieren. Insofern sind auch die hier vertretenen Kapitalismustheorien, (pro)feministischen Theorien und Intersektionalitätsansätze angehalten, ihre Reflexionen auf die Gesellschaft mit der Reflexion auf die Erkenntnisbedingungen von Wissenschaft zu verbinden. In diesem Sinne befassen sich die Beiträge kritisch und selbstkritisch mit der Frage, inwiefern die verschiedenen Analyseperspektiven die gesellschaftliche Entwicklung angemessen in den Blick nehmen. Das Schwerpunktheft zielt darauf ab, die Diskussion innerhalb und zwischen den Forschungssträngen voranzutreiben, um ein weiteres Stück auf dem Weg zu einer Kapitalismusanalyse zurückzulegen, die den in dieser Gesellschaftsformation zum Ausdruck kommenden komplexen Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen Rechnung trägt. Damit stehen die hier vorgelegten Analysen und die Diskussion zugleich in der Tradition einer Reihe von Debatten, die seit rund fünfundvierzig Jahren in und zwischen verschiedenen Forschungssträngen geführt worden sind und hier lediglich genannt seien: die internationale Hausarbeitsdebatte, in der Feminismus und Marxismus aufeinandergetroffen sind; die Herausbildung der Intersektionalitätsforschung, ausgehend von der Profilierung des Black Feminism gegenüber dem weißen Feminismus und dem Marxismus; die Men’s Studies im Rahmen der Geschlechterforschung; die „Gender and Class Debate“ zwischen Geschlechter- und Ungleichheitsforschung; der Dialog zwischen Arbeits- und Geschlechterforschung. Darauf nehmen die Beiträge in unterschiedlichem Umfang und unter spezifischen Fragestellungen Bezug.

Für Brigitte Aulenbacher, Michael Meuser und Birgit Riegraf handelt es sich beim Kapitalismus um eine Formation der modernen Gesellschaft, der unbenommen ihrer bürgerlichen Gleichheitsordnung aus historischen Gründen Ungleichheiten nach Geschlecht und Ethnie eingeschrieben sind. Sie zeigen in ihrer Revision von Arbeiten der Kapitalismustheorie, feministischen Gesellschaftstheorie und Men’s Studies, dass die Dynamiken kapitalistischer Gesellschaften auf gesellschaftlichen Trennungen zwischen Ökonomien, Sektoren, Arbeitsformen und auf Verschränkungen von geschlechts-, ethnie- und klassenbasierter Herrschaft beruhen sowie sich mit hegemonialen Deutungen verbinden. Gewährleistet werde auf diese Weise, dass all die Belange des Lebens, welche kapitalistischem Wirtschaften vorausgesetzt sind, anderweitig bearbeitet werden, weshalb von ihnen abgesehen werden kann und wird. Wenngleich es den Autorinnen und dem Autor zufolge also keinen „reinen“ Kapitalismus gibt, so lässt sich daraus allein aber nicht hinreichend erklären, in welcher Weise Menschen im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung gleich und ungleich gestellt sind und welche Arrangements zur Bewältigung der verschiedenen Belange des Lebens herausgebildet werden. Hier sind die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Aushandlungen mit in den Blick zu nehmen.

Der Aufsatz von Klaus Kraemer, Philipp Korom und Sebastian Nessel widmet sich der Entstehung eines transnationalen Finanzmarktkapitalismus aus einer kapitalismustheoretischen Perspektive. Dabei unterscheiden die Autoren zwischen Kapitalismusanalyse einerseits und der Kapitalismuskritik der feministischen Intersektionalitätsforschung andererseits. Die Intersektionalitätsperspektive wird daraufhin betrachtet, wie die zentralen Kategorien der Klasse, des Geschlechts und der Ethnizität als analytische Relationalkategorien konzeptualisiert werden; es zeige sich dabei ein untertheoretisierter, reduktionistischer Kapitalismusbegriff, der zentrale Dimensionen einer Kapitalismusanalyse verkenne. Ein strikt analytischer Kapitalismusbegriff hingegen, wie er sich insbesondere aus den wirtschaftssoziologischen Überlegungen Max Webers herleite, lege offen, dass die Strukturelemente des Kapitalismus prinzipiell genderneutral seien. Die offenkundigen Benachteiligungen von Frauen ergeben sich demnach aus traditionellen Geschlechterbildern und konkreten institutionellen Arrangements, die sich wiederum ändern könnten, ohne dass die Grundlagen des Kapitalismus infrage gestellt sind.

Der kapitalismustheoretische Ansatz von Hans-Jürgen Bieling befasst sich mit den transnationalen Dynamiken der gegenwärtigen krisenhaften Entwicklung. Er konzipiert Klasse, Geschlecht, Ethnie im Anschluss an die Intersektionalitätsforschung entlang der gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse, Arbeitsteilungen und Abgrenzungen als „Relationalkategorien“. Im Wissen um die damit verbundene Einschränkung wählt er eine im Kern politisch-ökonomische Analyse des Finanzmarktkapitalismus, die sich der Etablierung finanzmarktgetriebener Akkumulation, ihrer Entwicklung und ihren Effekten widmet. Gestützt auf die Regulationstheorie und mit internationalen Vergleichsdaten unterfüttert wird gezeigt, wie sich der neue Akkumulationsmodus verteilungspolitisch, sozialstrukturell und in sozialen Krisen bemerkbar macht. Im Ergebnis seien weitreichende Veränderungen bisheriger gesellschaftlicher Arrangements und sozialer Ungleichheiten nach Geschlecht, Ethnie und Klasse zu verzeichnen.

Sonja Buckel sucht die Regulation der Arbeitsmigration als zentrale Komponente der Europäisierung der Migrationspolitik vor dem Hintergrund einer materialistischen Staatstheorie zu analysieren und erweitert die Betrachtung systematisch um eine intersektionale Perspektive. Im Zentrum stehen die vier Dimensionen der internationalen Arbeitsteilung, nämlich Klasse, Geschlecht, Nord-Süd-Verhältnis und Ethnizität. Diese Auseinandersetzung führt sie am Beispiel der europäischen Anwerbung Hochqualifizierter an dem einen Pol des Spektrums der Arbeitsmigration und den nationalen Spezialregimen für Haushaltsarbeiter und -arbeiterinnen an dem anderen Pol. Dadurch soll gezeigt werden, dass sich eine solche intersektionale Kapitalismusanalyse nicht auf die Untersuchung der jeweiligen Politiken beschränken darf, sondern miteinander verwobene gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse als Ausgangspunkt der Betrachtungen wählen muss.

Klaus Dörre plädiert in seinem Beitrag für ein erneutes Anknüpfen an den unabgegoltenen Ideenreichtum der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie. Vor diesem Hintergrund nimmt er das Verhältnis von ökonomisch-ökologischer Doppelkrise und sozialer Ungleichheit mit dem Ziel in den Blick, das Landnahmetheorem weiterzuentwickeln. Demnach erhalte nur die fortwährende Einverleibung eines nichtkapitalistischen Anderen eine Dynamik am Leben, die den Kapitalismus über alle Krisen hinweg stabilisiert hat. Das Landnahmetheorem biete zudem eine erweiterte Perspektive auf Ausbeutungsverhältnisse und damit auf soziale Antagonismen und Herrschaftsbeziehungen. Es könne deshalb ein analytisches Bindeglied zwischen Kapitalismustheorie und Intersektionalitätsforschung bilden. Der Autor verfolgt dies weiter, indem er zwischen kapitalistisch formbestimmter „primärer“ und nichtkapitalistischer „sekundärer Ausbeutung“ unterscheidet, so in Bezug auf die Funktionalisierung unbezahlter Reproduktionsarbeit von Frauen oder die Institutionalisierung eines entrechteten Status für Migranten und Migrantinnen. Die Zuspitzung klassenspezifischer Ungleichheiten im Zusammenhang mit finanzmarktgetriebenen Landnahmen lege jedoch in erster Linie eine Reintegration von politischer Ökonomie und Klassenanalyse in der soziologischen Theoriebildung nahe.

Das Heft beschließt ein offener Beitrag, der sich gleichwohl nahtlos an den Schwerpunkt anschließt. Andrea D. Bührmann widmet sich in ihrer arbeitssoziologischen Studie einem lange Zeit vernachlässigten Segment des Unternehmertums: den prekären Unternehmern und Unternehmerinnen. Bei ihnen handelt es sich vor allem um Solo-Selbstständige, die wie viele Arbeitnehmer in atypischen abhängigen Beschäftigungsverhältnissen in einem unsicheren Schwebezustand zwischen bescheidenem Wohlstand und Armut wirtschaftlich zu überleben versuchen. Inzwischen gibt es in Deutschland mehr Selbstständige ohne als Selbstständige mit Mitarbeitern. Die Ausweitung dieser prekären Unternehmensformen geht auffälligerweise mit einer Zunahme des Anteils von Frauen und Personen mit Migrationshintergrund bei Kleinstunternehmensgründungen einher. Prekarisierungsprozesse sind auch in diesem Sektor mit Tendenzen der Ethnifizierung und Vergeschlechtlichung von ökonomischen Risikolagen verknüpft.