Zusammenfassungen
Eine verbreitete Auffassung in der politischen Öffentlichkeit wie in den Sozialwissenschaften besagt, dass die ökonomischen Ungleichheiten in Deutschland vergleichweise moderat seien. Diese Ansicht wird auch in dem Ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2001) bekräftigt. Der Aufsatz versucht zu zeigen, dass die Behauptung von den moderaten Ungleichheiten eine Legende ist. Denn die wichtigen statistischen Erhebungen erfassen aus methodischen Gründen die hohen Einkommen zu erheblichen Anteilen nicht. Zwar wird in den Analysen stets auf die Defizite der statistischen Daten hingewiesen, aber es werden keine Versuche gemacht, die bestehenden Lücken mit anderen Methoden und entsprechenden Studien zu schließen. Gewiss sind gegenwärtig die ökonomischen Ungleichheiten in Deutschland noch deutlich geringer als in den USA, aber die vorherrschenden Tendenzen weisen in dieselbe Richtung, und sie verstärken die ökonomische und soziale Macht der vermögenden Elite.
Abstract
There is a wide spread view in political public and among social scientists that economic inequalities in Germany, especially income disparities, are comparatively moderate. This view was confirmed by the First Poverty and Wealth Report of the Federal Government (2001). The essay tries to show: moderate inequalities are a legend. The main statistical sources for methodical reasons miss out considerable proportions of the high income groups. These deficiencies are carefully indicated by scientists analyzing the data, but they do not try to fill the gap by other methods. Firstly, there is no empirical study of the rising incomes of topmanagers in Germany. Secondly, changes in tax rates and procedures of tax assessment since the eighties are favouring high income groups and owners of large fortunes. Similar effects are produced by transfers of capital and undeclared income to European “tax oases”. On the other hand, the so-called “social reforms” reducing the public expenditures for social security, health service and compensations for unemployed only affect the lower and middle income groups. To be sure, at present the economic inequalities in Germany are still less wide than in the United States, but analogous tendencies reinforce the economic and social power of a wealthy elite.
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Additional information
Eine erste Fassung des Aufsatzes erschien in der Festschrift für Rudi Schmidt: Über Arbeit, Interessen und andere Dinge. Phänomene, Strukturen und Akteure im modernen Kapitalismus, hrsg. von Ingrid Artus und Rainer Trinczek, Rainer Hampp Verlag, München und Mering 2004.
Joachim Bergmann, Professor emeritus für Soziologie der Universität Darmstadt
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Bergmann, J. Die Reichen werden reicher — auch in Deutschland. Die Legende von den moderaten Ungleichheiten. Leviathan 32, 185–202 (2004). https://doi.org/10.1007/s11578-004-0014-8
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DOI: https://doi.org/10.1007/s11578-004-0014-8