FormalPara Bachmann, Ulrich, und Thomas Schwinn (Hrsg.): 

Max Weber revisited: Zur Aktualität eines Klassikers. Weinheim: Beltz 2023. 382 Seiten. ISBN: 978-3-7799-7612‑7. Preis: € 38,–.

Der vorliegende Sammelband hat mein Interesse geweckt, weil ich seit einigen Jahren eine Vorlesung zur komparativen Makrosoziologie (Master-Level) anbiete, die u. a. Webers Religionssoziologie (Protestantismus-These, Weltreligionen) behandelt und zugleich neuere, an Weber direkt anschließende historisch-sozialwissenschaftliche Forschung zur Entstehung und zum Einfluss des Protestantismus auf das Wirtschaftswachstum abdeckt. Daher hatte ich erwartet, mit dem vorliegenden Band eine Aktualisierung meiner Vorlesung vornehmen zu können. Diese Erwartung wurde jedoch enttäuscht. Bereits in der Einleitung, aber auch im Schlusskapitel behaupten die Herausgeber Dinge, die ich mir nur mit Unkenntnis über aktuelle empirische Forschung erklären kann. So wird etwa unzutreffend behauptet, dass es „von einem überschaubaren Kreis an ‚Weberspezialisten‘ ab[gesehen], nur noch selten zu einer direkten, intensiven Beschäftigung mit den Texten und ihrem Autor“ komme, insbesondere Versuche „mit Max Weber“ und „nach Max Weber“ zu arbeiten, in der aktuellen Forschung völlig fehlten.

Ganz im Gegenteil! Die an Weber anschließende Forschungsliteratur im Bereich der multidisziplinären Religionsforschung ist mittlerweile so umfangreich und methodisch anspruchsvoll, dass sie eine eigene Vorlesungssitzung ausfüllt. Mein Verdacht, dass diese neuere Forschungsliteratur bei den beiden Herausgebern und den Autorinnen und Autoren des Sammelbandes wenig bekannt sein könnte, bestätigte sich bei einer Suche in den Literaturverzeichnissen. Das in der Einleitung von den beiden Herausgebern sowie im Schlusskapitel von Schwinn gezeichnete Bild einer „Klassikerdämmerung“ und gar von einem Niedergang der Soziologie Webers, ist unzutreffend und bedarf, mindestens was seine Religionssoziologie angeht, einer Korrektur, die ich im Folgenden kurz erläutern möchte.

Zu den im Band nicht berücksichtigen, jedoch unverzichtbaren Schriften zählen erstens die Arbeiten des US-amerikanischen Soziologen Gorski (2003, 2011). Er kann zeigen, dass die innerweltliche Askese der Calvinisten mithilfe einer umfassenden Disziplinierung (kirchlich, politisch, sozial) in breiten Bevölkerungsschichten verankert wurde. Zugleich untersucht er die Folgen der Vertreibung von Protestanten aus katholischen Gebieten, vor allem hinsichtlich des damit ausgelösten Wirtschaftsbooms in den Zielgebieten (z. B. England, Niederlande) und dem gleichzeitigen wirtschaftlichen Niedergang von Städten in den katholischen Vertreibungsgebieten (z. B. La Rochelle, Antwerpen). Gorkis Forschungsprogramm ist makrosoziologisch-historisch und verhält sich komplementär zu dem von Weber, weil es die institutionellen Mechanismen der Verbreitung des Protestantismus in Europa und den Vereinigten Staaten untersucht. Weber hatte sich vorrangig mit dem Einfluss der religiösen Ideen auf die Lebensführung der Calvinisten beschäftigt. Gorski ergänzt Weber um das wichtige Element der institutionellen Verankerung und regionalen Verbreitung des reformierten Christentums.

Zweitens fehlen die in den letzten 15 Jahren erschienenen, zumeist quantitativ ausgerichteten Schriften zahlreicher Wirtschaftshistoriker, Bildungsökonomen und Arbeitspsychologen (s. bspw. Becker und Woessmann 2009, Cantoni 2015, Pleijt und Zanden 2016, Hornung 2014, Spater und Tranvik 2019, Basten und Betz 2013, Spenkuch 2017, Van Hoorn und Maseland 2013 sowie Kemmelmeier 2011).

Eine ausführliche Würdigung und Synthese dieser neueren Forschung steht noch aus. Allerdings lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass die bisherige Forschung zahlreiche bestätigende Befunde für die Protestantismusthese Webers zusammengetragen und zugleich den Fokus auf das von Weber gesetzte Thema erweitert hat, z. B. bei Gorski auf die institutionelle Verankerung der neuen Konfession. Ein zentrales Problem einiger Studien (z. B. Becker und Woessmann 2009, Cantoni 2015, De Pleijt und Zanden 2016) ist die Fokussierung auf die binäre Unterscheidung: Protestanten versus Katholiken oder Protestanten versus Nichtprotestanten. Webers Argumentation bezog sich auf die Calvinisten und die reformierten Kirchen, nicht so sehr auf die Lutheraner. Daher greift Kritik an Weber, wenn sie sich nur auf Lutheraner oder unterschiedslos auf „die“ Protestanten bezieht (wie z. B. bei Becker und Woessmann und Cantoni), zu kurz. Weiterhin gibt es bislang zum lutheranisch geprägten Deutschland (auch: Preußen) deutlich mehr Befunde als zu den Kerngebieten der reformierten Kirchen: den Niederlanden, England und den Vereinigten Staaten. Hier besteht nach Ansicht mehrerer Autorinnen und Autoren erheblicher Forschungsbedarf. Auf der diesjährigen Konferenz der Akademie für Soziologie in Bern (2023) hat Ramona Roller, eine Nachwuchswissenschaftlerin von der ETH Zürich, ein sehr interessantes Papier zur Verbreitung des Protestantismus in Europa mithilfe einer Event-History-Analyse vorgestellt. Von „Klassikerdämmerung“ oder „sinkendem Stern“ keine Spur!

Nun zum Sammelband selbst. Am anregendsten fand ich die Beiträge von Johannes Berger, Hans Joas, Philip Manow und Uwe Vormbusch. Bei Berger, Joas und Manow werden zentrale Begriffe und Konzepte Webers im Lichte aktueller Diskussionen beleuchtet. Berger beklagt, dass „Webers strikte Zurückweisung der naiven Gleichsetzung von Erwerbsgier mit Kapitalismus wirkungslos verhallt“ sei (S. 38) und weist völlig zurecht darauf hin, dass Expansion nicht allein Merkmal des Wirtschaftssystems, sondern praktisch aller Teilsysteme der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft ist. Dieser Befund wird eindrucksvoll durch eine aktuelle Studie bestätigt, die die Wachstumsdynamik des Wissenschaftssystems seit dem 17. Jahrhundert nachzeichnet (Bornmann et al. 2021). Berger ist auch darin zuzustimmen, dass pauschale, vor allem marxistisch orientierte Kapitalismuskritik den Nachweis einer funktional besseren Alternative bislang schuldig geblieben ist.

Anregend, wenngleich nicht neu (weil bereits in: Die Macht des Heiligen, 2017 publiziert), ist der Beitrag von Hans Joas, der den engen Zusammenhang von Modernisierung und Säkularisierung dekonstruieren möchte. Joas legt dar, dass der vieldeutige Begriff der „Entzauberung“ besser in die Teildimensionen: heilig/profan, transzendent/immanent und religiös/säkular differenziert werden sollte. Demzufolge sind Profanisierung, Enttranszendentalisierung und Säkularisierung nicht gleichbedeutend, sondern drei unterschiedliche Schichten der Entwicklung moderner Gesellschaften. Joas zufolge krankt der Begriff der Entzauberung jedoch nicht allein an seiner Vieldeutigkeit. Es sei bislang auch nicht deutlich herausgearbeitet worden, dass er als politischer Kampfbegriff verwendet worden sei.

Interessant sind auch die Beiträge von Manow und Vormbusch, die sich jedoch in der Bewertung der heutigen Bedeutung der Weberschen Schriften deutlich unterscheiden. Während sich Manow kritisch mit Begrifflichkeiten und Ansichten Webers auseinandersetzt, aber die Wirkmacht von dessen Ideen hervorhebt, fällt Vormbuschs Urteil zurückhaltender aus. Vormbusch kritisiert, dass die heutige interdisziplinäre Forschung zur „Quantifizierung des Sozialen“ kaum mehr auf Webers Schriften zu Rationalisierung und Formalisierung Bezug nimmt, obwohl diese eine wichtige Inspirationsquelle sein könnte. Vielmehr sei Weber durch Bourdieu und insbesondere Foucault verdrängt worden. Die Beiträge von Manow und Vormbusch beinhalten neue Literaturstellen für am Thema Interessierte.

Wenig einschlägig zum Thema des Sammelbandes sind die Beiträge von Bettina Heintz und Peter Weingart. Heintz legt einen Beitrag über Vorschlagsalgorithmen bei Internetsuchen vor. Heintz kontextuiert hierzu den Begriff der „formalen Rationalität“ mit ähnlichen Debatten und Entwicklungen in der Mathematik, insbesondere bei David Hilbert und der theoretischen Informatik bei Alan Turing in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Zusammenhang zwischen beiden Themen erscheint nicht schlüssig und wird nicht aus der Literatur hergeleitet. Meines Erachtens wäre es instruktiver gewesen, etwas über das Forschungsprogramm des soziologischen Neo-Institutionalismus zu erfahren, in dem die Begriffe der Formalisierung und Rationalisierung (vor allem, aber nicht nur durch die Soziologinnen und Soziologen John Meyer, Paul DiMaggio, Walter Powell und Lauren Edelman) theoretisch weiterentwickelt und im Rahmen empirischer Forschung angewendet worden sind.

Der Artikel von Peter Weingart überrascht mit zahlreichen unbelegten und unzutreffenden Behauptungen, etwa, dass sich in den letzten 30 Jahren das „deutsche Hochschulsystem in vieler Hinsicht dem amerikanischen angeglichen“ habe, beispielsweise, weil „die Habilitation offiziell abgeschafft“ worden sei (was falsch ist, vgl. z. B. §§ 36, 68 HG NRW). Sein Artikel verfehlt das Thema des Sammelbandes, da er der Frage nach der Relevanz von Webers „Wissenschaft als Beruf“ gar nicht erst nachgeht. Stattdessen erfährt der Leser etwas über den Status- und Ansehensverlust von Wissenschaftlern, die Coronapandemie und viele weitere Dinge, die in wenig konklusiver Weise zusammengebunden sind. Eine Übersicht über die Karriereverhältnisse an deutschen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen oder über den Stellenwert der Tenure-Track-Professur in der Personalstruktur der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer in Deutschland wären dem Thema angemessener gewesen, man sucht sie aber ebenso vergebens wie relevante thematische Bezüge ins europäische Ausland.

Auch der Beitrag von Gudrun Krämer zum Islam bei Weber hat mich enttäuscht. Sie kritisiert Weber als problematisch, fehlerhaft und zeitgenössisch beeinflusst, ohne aber an irgendeiner Stelle auf relevante neuere Befunde der aktuellen Islamforschung zu verweisen, die in einem inhaltlichen Bezug zu Weber stehen und damit einen möglichen Wissensfortschritt dokumentieren würden. Ein solcher konstruktiver inhaltlicher Bezug scheint aber auch gar nicht beabsichtigt. Höhepunkt ihrer Argumentation ist vielmehr, dass die „Weber-These“, damit meint sie die Protestantismusthese, „widerlegt“ bzw. eine „Fehlkonstruktion“ sei. Dabei zitiert sie lediglich ein unveröffentlichtes Arbeitspapier von Nolan (2003), das hinsichtlich der weiter oben beschriebenen Literatur nicht besonders einschlägig ist. Krämers Fehleinschätzung hätte eigentlich bei der Begutachtung auffallen müssen.

Weiterhin gibt es eine Reihe von Kapiteln, die sich mit der Rezeption des Weberschen Werkes in Brasilien (Sell), China (Tsai), Japan (Nagouchi) und Russland (Filippov) beschäftigen. Mir ist nicht klar geworden, welche Kriterien bei der Auswahl gerade dieser Länder angelegt wurden. Aus religionssoziologischer Sicht erscheinen Brasilien (Katholizismus) und Russland (Orthodoxie) jedenfalls nicht als unmittelbar einleuchtende Fälle. Indien als das Land, in dem der Hinduismus und der Buddhismus stark vertreten sind und das werkgeschichtlich sowie auch theoriesystematisch wichtig wäre, fehlt dagegen. Bezüglich des angelsächsischen Raums kommt Sica zu dem Befund, dass die Schriften Webers dort in den letzten Jahren an Einfluss zugenommen hätten. Diese Aussage kontrastiert augenfällig mit dem in pessimistischem Ton gehaltenen Abschlusskapitel von Schwinn, der einen Rückgang des Interesses an Weber mit einem schwindenden Interesse an soziologischer Theorie im Allgemeinen verknüpft.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Erträge des Forschungsprogramms von Max Weber, und hier insbesondere der Protestantismusthese, sowie deren Aktualität für die heutige Forschung insgesamt deutlich positiver einzuschätzen sind als der Sammelband dies beschreibt. Diese Entwicklung ist für die Soziologie erfreulich und unterstreicht die Originalität und Fruchtbarkeit von Max Webers ursprünglicher Idee. Es bleibt anzumerken, dass sich unter den Autorinnen und Autoren der genannten neueren Literatur auch mehrere talentierte Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler befinden. Bei der Herausgabe eines Sammelbandes mit dem Anspruch, die Aktualität eines bestimmten Forschungsprogrammes abzubilden, hätten diese stärker berücksichtigt werden sollen.