FormalPara Lührsen, Christian:

Der Begriff der Askese in der Religionssoziologie Max Webers. Berlin: Duncker & Humblot 2022. 330 Seiten. ISBN: 978-3-428-18637‑2. Preis: € 99,90.

Max Webers Verständnis der innerweltlichen Askese steht im Zentrum dieser begriffshistorischen Untersuchung von Christian Lührsen. Innerweltliche Askese beschreibt der Autor als systematisches, rationales, methodisches Handeln in Beruf, Familie und Staat mit dem Ziel der Bewährung vor und der Versicherung der eigenen Erwähltheit durch Gott. Lührsens zentrale These ist, dass der Begriff der Askese nicht nur den Kern von Webers Werk darstellt, sondern dass sich darüber hinaus anhand dieses Begriffes die wesentlichen Motive von dessen religionssoziologischen Schriften entwickeln. So diente der Begriff der innerweltlichen Askese Weber zwar ursprünglich dazu, die Entstehung des modernen Berufsethos, des okzidentalen Rationalismus sowie generell des modernen Kapitalismus aus der puritanischen Ethik heraus zu skizzieren. Gleichzeitig jedoch kamen zentrale Konzepte in Webers Religionssoziologie, wie die der Handlung, des Idealtypus oder des Sinns, Lührsen zufolge erst durch den Begriff der Askese tatsächlich zur Anwendung.

In seiner Dissertationsschrift nähert Lührsen sich dem Begriff der innerweltlichen Askese aus theoretischer sowie aus begriffsgeschichtlicher Perspektive. Für die theoretische Herangehensweise untersucht er sowohl kultur- und wissenschaftstheoretische als auch begriffs- und handlungstheoretische Gesichtspunkte des Begriffs der Askese in Webers Schriften, um so dessen theoretische Funktion für Webers Werk nachvollziehen zu können. Begriffshistorisch arbeitet Lührsen die mit dem Askesebegriff zur Zeit des Kaiserreichs verbundenen kulturgeschichtlichen und religionssoziologischen Deutungen und Wertungen heraus, welche für den damaligen wissenschaftlichen Diskurs (und somit auch für Webers Weltsicht) von zentraler Bedeutung waren. Lührsen beschreibt zunächst, wie Weber die traditionelle Verbindung von Askese und Mönchtum aufbricht und somit aus dem Begriff eine Bezeichnung für ein religiös motiviertes, rational-methodisches Handeln macht. Die idealtypische Formalisierung des Begriffs der Askese ermöglicht es Weber, auch Phänomene, die zeitlich weit auseinanderliegen, durch dasselbe Begriffssystem zu erfassen und so beispielsweise den Zusammenhang von religiösem und ökonomischem Handeln wissenschaftlich zu untersuchen. Lührsen zeigt, wie Weber Studien und Theorien anderer Wissenschaftler, wie Eduard Bernstein, Albrecht Ritschl, Matthias Schneckenburger und Reinhold Seeberg, heranzieht, um zum einen eine Verbindung zwischen mittelalterlichem Mönchtum und neuzeitlichem Puritanismus aufzuzeigen, zum anderen einen historischen Bestandteil christlicher Religiosität zu beschreiben und mit wirtschaftlichen Prozessen der Moderne zu assoziieren. Demnach liegen die Wurzeln des Kapitalismus für Weber nicht nur im Protestantismus, sondern darüber hinaus auch im lateinischen Christentum. Nichtsdestotrotz ist es in Webers Augen der Protestantismus, welcher, wenn auch nicht bewusst, über die Vorstellung vom Handeln in der Welt als religiöse Verpflichtung die Entstehung der modernen Welt maßgeblich bedingte.

Anhand seiner einzelnen Schritte zeichnet Lührsen eindrucksvoll nach, wie eng der Begriff der Askese in Webers Werk mit dessen theoretischen, historischen und methodischen Ideen und Konzepten verbunden ist – so eng, dass er ihn als „den semantischen Angel – wie Fluchtpunkt der Religionssoziologie Webers“ (S. 293) bezeichnet. Dies macht der Autor an insgesamt vier Punkten fest. Erstens kommt Webers Handlungsbegriff (ebenso wie seine idealtypische Begriffsbildung) ihm zufolge erstmals mit dem Begriff der innerweltlichen Askese zur Anwendung – und zwar, um die Entwicklung des modernen Berufsethos darzulegen. An dem disziplinierten, unermüdlichen, dauerhaft rationalen und systematischen Handeln des Asketen im Berufsleben, welches dem Wunsch nach Bewährung vor Gott entspringt, gelingt es Weber, den Zusammenhang zwischen Idee und Geschichte, hier zwischen Prädestination und Askese, aufzuzeigen. Zweitens beschreibt Weber anhand des Begriffs der Askese (im Gegensatz zur Mystik) den Calvinismus und grenzt dessen Ethik damit gegenüber derjenigen anderer protestantischer Strömungen ab. So stellt er die aktiven, systematisch-rational handelnden Puritaner den in seinen Augen eher passiven Lutheranern gegenüber. Drittens dient Weber der Askesebegriff zur Konstruktion eines vermeintlichen Dualismus zwischen „mystischem Orient“ und „rationalistischem Okzident“. Demnach habe ausschließlich im sogenannten Okzident jener praktische, weltbeherrschende Rationalismus entstehen können, der in Form der innerweltlichen Askese zutage trat, was etwa im Konfuzianismus mit seinen rein innerweltlichen Bezügen (und somit ohne jegliche Spannung zwischen ethischen Geboten und der Welt) ausgeschlossen sei. Viertens macht Weber es an der ethischen Wirklichkeit der Askese fest, dass, neben dem modernen Berufsethos, auch die Idee der Persönlichkeit als ethisches Ideal entstehen konnte, wodurch es möglich wurde, autoritäre durch freiheitliche Institutionen zu ersetzen. Persönlichkeit versteht Weber hierbei als das dauerhafte Ausrichten des eigenen Verhaltens an selbstgesetzten Werten. Dieses wertrationale Handeln, das erstmals in der innerweltlichen Askese zum Ausdruck kam, soll Weber zufolge zur Zeit der Entstehung seines Werkes, also im beginnenden 20. Jahrhundert, nicht mehr in den Dienst Gottes, sondern in denjenigen der beruflichen Tätigkeit gestellt werden, um auf diese Weise in einer entzauberten Welt zur Sinnstiftung beizutragen.

Lührsens begriffshistorische Untersuchung ist sehr sorgfältig recherchiert und mit Bedacht strukturiert und aufgebaut. Seiner umfangreichen und komplexen Fragestellung nähert er sich mit einem klaren Stil, der ein flüssiges Lesen seiner detaillierten Arbeit entlang der zentralen Argumentationsstränge ermöglicht. In seiner Analyse blickt Lührsen aus heutiger Perspektive an der einen oder anderen Stelle auch kritisch auf Webers bisweilen dualistische Weltsicht. Durch diese Einordnung des Werkes in seinen historischen Entstehungszusammenhang ermöglicht Lührsen auch einen Blick auf die Grenzen der berühmten, für Webers Opus zentralen, bis heute kontrovers diskutierten Analyse vom Zusammenhang von protestantischer Ethik und dem „Geist“ des Kapitalismus. Für im Bereich der Begriffsgeschichte sowie der Religionssoziologie Versierte ist Lührsens Studie sehr zu empfehlen.