FormalPara Kumkar, Nils C.:

Alternative Fakten. Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung. Berlin: Suhrkamp 2022. 336 Seiten. ISBN: 978-3-518-77472. Preis: € 18,–.

Spätestens seit dem Brexit ist die Debatte um „alternative Fakten“ heiß entbrannt. Diesem Thema widmet sich das vorliegende Buch. Der Autor nimmt eine systemtheoretisch informierte Perspektive auf die kommunikative Funktionslogik von „alternativen Fakten“ ein und wendet diese auf vier Fälle an: der Trumpismus in den USA, den wissenschaftlich getragenen Klimaleugnungsdiskurs, das Querdenkertum im Coronadiskurs und die Rolle von Social Media für Querdenkerdiskurse sowie die spezifische Rolle der Massenmedien für die Verbreitung „alternativer Fakten“.

Methodisch stützt sich Kumkar auf unterschiedliche qualitative Untersuchungen (Dokumentarische Methode) von Interviews mit Politikerinnen und Politikern, Massenmedien, Social Media und fachwissenschaftlichen Texten.

Das Buch ist in zwei theoretische (Einleitung und Schluss) und vier empirische Kapitel unterteilt. Die Analysen und Thesen des Buches beziehen sich auf das Forschungsfeld „alternative Fakten“, das noch relativ jung (und damit erst im Entstehen) ist und somit noch keinen wirklichen Forschungskanon hervorgebracht hat. Eine weitere Einbettung in den fachwissenschaftlichen Diskurs nimmt der Autor dann vor, wenn er sich an einigen Stellen kursorisch auf philosophische Wahrheitstheorien (Realismus vs. Konstruktivismus) und Intentionalitätstheorien (Ideologietheorie, Theorien politisch-strategischer Interessen) bezieht. Auch Bezüge zu soziologischen Klassikern (Bourdieu, Luhmann, Berger/Luckmann) werden immer wieder eingestreut, aber nicht systematisch ausgearbeitet.

Die Kernthese des Buches lautet: Es geht nicht darum, die Wahrheitsansprüche „alternativer Fakten“ (ist Corona eine Grippe oder nicht), den sozialen Konstruktionscharakter ebendieser Ansprüche, die möglichen Intentionen der Akteure oder die Frage nach der epistemischen Auflösung widerstreitender Wirklichkeitsauffassungen zu verstehen. Vielmehr hat das Präsentieren „alternativer Fakten“ eine kommunikative Funktion, die darin besteht, Kommunikationen der etablierten Akteure (etwa über den Klimawandel, die Gefahr des Coronavirus) zu stören, indem Nebenschauplätze eröffnet werden. Es handelt sich also um „Widersprüche zu Tatsachenbehauptungen. Sie wirken nicht als Beitrag zur Realitätskonstruktion, sondern als kommunikative Realitätsdestruktion, die es erlaubt, wider besseren Wissen weiterzumachen“ (S. 14). Der Hintergrund dieser „formalen Negation“ (S. 278 ff.) liegt in der, wenn man so will, allegorischen Verbalisierung eines bereits existierenden Konflikts, der systemtheoretisch ganz grundsätzlich als „Regierung vs. Opposition“ immer schon dem politischen System eingeschrieben sei. Vor diesem Hintergrund mahnt der Autor, den politischen Diskurs der „alternativen Fakten“ mit sehr viel mehr Gelassenheit aufzunehmen und sein Handeln als „Störfeuer“ zu entlarven.

Das erste empirische Kapitel (Kapitel 1) nimmt eine detaillierte Analyse des Pressebriefings zu Trumps Amtseinführung und des anschließenden Interviews mit Trumps Beraterin Conway vor. Es expliziert Schritt für Schritt die kommunikative Funktion alternativer Fakten als Strategie der puren Zurückweisung von Tatsachenbehauptungen, ohne dem etwas Positives entgegenzusetzen. Es illustriert zugleich den methodischen Ansatz (Dokumentarische Methode) des Autors. Kapitel 2 nimmt den Faden auf und führt ihn in die Debatte um die wissenschaftlich gestützte Klimaleugnung. Hier zeigt Kumkar, wie unterdrückte politische Konflikte durch eine Verwissenschaftlichung metaphorisiert werden. Wissenschaft dient demnach der „Unwahrheitsbehauptung“ der von der anderen Seite behaupteten Tatsachen („der Klimawandel existiert [nicht]“). Kapitel 3 beleuchtet die spezielle Funktion von Social Media (Facebook, Twitter) im Diskurs um alternative Fakten. Die These lautet: Social Media und Massenmedien beobachten sich gegenseitig, wobei Social Media insbesondere eine „Arena der Identitätsbehauptungen“ (S. 180) zur Verfügung stellt. Hier geht es also nicht um sachliche Debatten, sondern darum, auszuhandeln, wer wohin im soziopolitischen Raum gehört. Kapitel 4 untersucht schließlich die Rolle der Massenmedien und behauptet, dass aufgrund der dominanten Rolle der Massenmedien für den politischen Diskurs ein unterdrückter Konflikt über die inakzeptablen Konsequenzen politischen Handelns (etwa Lockdowns) in moralisch aufgeladene Stellvertreterdebatten überführt werden konnten.

Die folgenden Anmerkungen sind keine kritische Zurückweisung der vorliegenden Arbeit, ganz im Gegenteil. Es handelt sich um Denkanregungen, die dazu beitragen können, den von Kumkar angestoßenen Denkprozess in einen breiter aufgestellten sozialwissenschaftlichen Diskussionsprozess zu überführen, der die theoretische, methodologische und sachliche Dimension detaillierter einbezieht.

Erstens, der Autor stellt nur kursorische Beziehungen zu sozialwissenschaftlichen Großtheorien jenseits der Luhmannschen Systemtheorie her und suggeriert damit, dass „alternative Fakten“ als kommunikative Negations-, „Störfeuer“- und Ausblendungsstrategie historisch neu sind. Das ist insofern überraschend, da bereits ähnliche Debatten in Bezug auf den Faschismus etwa im Kreis der Frankfurter Schule geführt wurden, wo keinesfalls ein reduktionistisches Verständnis von Ideologie vertreten, sondern vielmehr die kommunikative Funktion von Propaganda untersucht wurde. Auch der französische (Post‑)Strukturalismus um Althusser, Pêcheux, Lacan und Foucault hat sich in den 1970er-Jahren mit der manipulierenden Funktion der Sprache via Subjektivierung befasst. Eine einbettende Auseinandersetzung des hier vertretenden Luhnmannschen Ansatzes in dieses Theoriefeld wäre interessant und produktiv gewesen.

Zweitens, Kumkar arbeitet theoretisch mit Luhmann und methodisch mit der Dokumentarischen Methode. Beide Ansätze sind strukturalistischen Charakters und passen demnach theorielogisch zusammen. An den Stellen in den Analysen, die den subtilen Charakter der kommunikativen Form wirklich überzeugend herausarbeiten, greift der Autor allerdings auf einen Kontextbegriff aus dem angelsächsischen Pragmatismus zurück. Das widerspricht sich aus einer ganzen Reihe von Gründen, die hier wegen der Platzbeschränkung nicht im Einzelnen dargelegt werden können.

Schließlich stellt sich die Frage, ob der Autor nicht eine allzu medienreduktionistische (siehe Kapitel 4) und systemtheoretisch verkürzte (schlussendlich läuft alles auf „Regierung vs. Opposition“ hinaus) Perspektive überbetont. Zwar wird die kommunikative Funktion „alternativer Fakten“ als Negation von Tatsachenbehauptungen überzeugend dargelegt und dies mag in den Massenmedien auch gar nicht anders funktionieren. Aber entspricht dies wirklich einer „gesamtsoziologischen“ Betrachtung des Phänomens? Analysen zeigen, dass Querdenkerinnen und Querdenker, Klimaleugnerinnen und Klimaleugner und Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten sehr wohl über alternative Gegenvorstellungen zu den Thesen verfügen, die sie zurückweisen (Klimawandel, Corona etc.). Aus unterschiedlichen Gründen können diese „Gegenwelten“ nicht offen (in den etablierten Medien!) thematisiert werden. Aber was heißt das schon? Trump war an der Macht, seine Regierung war chaotisch und er oder seine Bewegung könnte bald wieder an die Macht kommen. Und der Brexit? Auch wenn er katastrophale Folgen für die britische Gesellschaft haben mag, ist er dennoch real und basiert auf, für uns bildungsorientierte Mittelschichteuropäerinnen und Mittelschichteuropäer vielleicht surreal wirkenden, Gegenvorstellungen der Brexiteers („Freihandel unter den Bedingungen einer neoklassischen Lehrbuchtheorie“). Wie gehen wir sozialwissenschaftlich damit um, wenn surreal wirkende, aber dennoch existierende Gegenvorstellungen zu Dingen, die wir als „Tatsachen“ verstehen (Klimawandel etc.), in die Tat umgesetzt werden? Darauf geben das Buch und die Theorie der kommunikativen Funktion „alternativer Fakten“ keine Antwort.

Nils C. Kumkar legt ein lesenswertes Buch vor, das zum Mitdenken einlädt und zum Weiterdenken provoziert. Das hier behandelte Themenfeld wird auch in Zukunft aktuell bleiben. Die aus sozialwissenschaftlicher Sicht ganz große Stärke der Analyse besteht in einer in dieser Form sehr seltenen, kreativen und geradezu pragmatischen Anwendung der Luhmannschen Systemtheorie.