FormalPara Hunold, Daniela, und Tobias Singelnstein (Hrsg.):

Rassismus in der Polizei. Eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme. Wiesbaden: Springer VS 2022. 742 Seiten. ISBN 978-3-658-37132‑6. Preis: € 42,79.

Ein Buch mit dem Titel „Rassismus in der Polizei“ kann heutzutage mit großer Aufmerksamkeit rechnen, noch dazu, wenn der Untertitel eine „wissenschaftliche Bestandsaufnahme“ verheißt und die Einleitung gleich zweimal verspricht, „den Forschungsstand zusammenzuführen und systematisch aufzuarbeiten“ (S. 1, 3). Das Buch besteht aus 33 Beiträgen einschließlich der Einführung, verfasst von 46 Beiträgerinnen und Beiträgern. Diese arbeiten (oder arbeiteten) zur Hälfte an verschiedenen deutschen Polizeihochschulen; fünf weitere Beiträgerinnen und Beiträger sind in der universitären Kriminologie verortet, also in einer Sozialwissenschaft, die in Deutschland an juristischen Fakultäten betrieben wird. Weiterhin vertreten sind zwei praktizierende Juristen, ein pensionierter Polizeibeamter, zwei Aktive aus der politischen Bildungsarbeit sowie Vertreterinnen und Vertreter von universitären oder Fachhochschuldisziplinen wie Pädagogik und soziale Arbeit. Schließlich finden sich im Band auch vier universitäre Soziologinnen und Soziologen sowie je ein Psychologe, ein Politikwissenschaftler, ein Geograf, ein Historiker und eine Vertreterin der Black Studies. Der Band ist also hochgradig interdisziplinär, in der großen Mehrzahl seiner Beiträge allerdings normativ und anwendungsgezogen grundiert.

Nach welchem Prinzip die abgedruckten Beiträge ausgewählt wurden, wird nicht erläutert. Zum Teil scheinen sie Zusammenfassungen bereits vorliegender Texte der Autorinnen und Autoren darzustellen, die eigens für diesen Band geschrieben wurden. Die Beiträge sind auf sechs Abschnitte verteilt. Das zugrundeliegende begriffliche Ordnungsprinzip überzeugt nicht, da viele Beiträge Themen und Aussagen aufgreifen, die auch von anderen Autorinnen und Autoren in anderen Abschnitten behandelt werden. Warum wird zum Beispiel ein Abschnitt „polizeiliche Praxen“ von einem zu „Formen und Entstehungszusammenhänge“ unterschieden, in dem es aber auch wiederum Beiträge zu polizeilichen Praktiken gibt sowie begriffliche Klärungen, die eher zu den „Grundlagen“ zu zählen wären? Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge kannten die Beiträge der anderen offensichtlich nur zum Teil, da nur unsystematisch auf diese verwiesen wird; auch da, wo es thematische Überschneidungen gibt oder die gleichen oder unterschiedliche Ergebnisse zu ähnlichen Fragekomplexen präsentiert werden. Ein Index, der zur thematischen Erschließung dieses umfangreichen und heterogenen Bandes dringend erforderlich gewesen wäre, fehlt. Mit diesem Verzicht auf sorgfältiges Kuratieren tun die Herausgeber ihren Beiträgerinnen und Beiträgern jedoch keinen Gefallen, da deren Beiträge somit in einer bunten Mischung von Texten untergehen, wo sie nur schwer auffindbar sind. Und für die Leserinnen und Leser ist es eine Zumutung, nach den Gold Nuggets selbst graben zu müssen.

Es ist im Rahmen dieser Besprechung nicht möglich, auf alle oft hochinteressanten Einzelbeiträge einzugehen. Es wäre die Aufgabe der Herausgeber gewesen, die im Band versammelten höchst unterschiedlichen Perspektiven zueinander sprechen zu lassen, in ordnenden Aussagen zu kontextualisieren, dabei Überschneidungen, Spannungen und Widersprüche herauszuarbeiten und weiterführende Perspektiven aufzuzeigen. Da der substanzielle Teil der Einleitung aber auf zwei (!) Seiten beschränkt ist, entziehen sich die Herausgeber dieser zentralen Aufgabe. Sie fordern ein „eindeutiges Verständnis von Rassismus“ (S. 10), liefern dann aber noch nicht einmal eine Arbeitsdefinition und bleiben stumm angesichts vieler Fragen, die der Band aufwirft. Ist es eigentlich ein Problem, dass „Rassismus“ sowohl ein (deutlich negativ besetzter) Begriff der politischen Sprache ist und in der öffentlichen Debatte eine ausgeprägte Polarisierung produziert, von den Herausgebern aber als analytischer Begriff vorgeschlagen wird, der darüber hinaus durch die Platzierung im Titel das Ergebnis der „Bestandsaufnahme“ praktisch vorwegnimmt (auch wenn das dann durch viele Einzelbeiträge wiederum stark nuanciert wird)? Manche Beiträgerinnen und Beiträger verwenden einen sehr weiten Rassismusbegriff, der auch soziale Klasse einschließt. Andere vermuten, dass ein weitgehend entgrenzter Rassismusbegriff eine Immunisierungsstrategie gegenüber empirischer Forschung darstellt, und sprechen stattdessen lieber von einem „polizeilichen Kontroll- und Diskriminierungsregime“ und dementsprechend von „cultural“ oder „social profiling“ (Behr) und wiederum andere von „gruppenbezogene[r] Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer) – Begriffe, die ihrerseits in anderen Beiträgen vehement abgelehnt werden. Kann der englische Ausdruck race tatsächlich eins zu eins mit dem deutschen Begriff der Rasse übersetzt werden und ist die im Band prominent platzierte US-amerikanische Diskussion zu Critical Race Studies ohne soziohistorische Übersetzung so einfach auf deutsche Verhältnisse übertragbar? Hier hätte man sich von den Herausgebern klärende Ausführungen gewünscht; so jedoch stehen die Beiträge einfach unverbunden nebeneinander.

Viele Beiträge sprechen generalisierend von „der“ Polizei, nur selten (beispielsweise in einem der wenigen ethnografisch sorgfältig fundierten Beiträge (Hunold)) wird auf innerorganisatorische Differenzen als je unterschiedliche Kontexte von rassistischen Praktiken eingegangen. In den verschiedenen Beiträgen werden je unterschiedlich Einstellungen, Diskurse, Praktiken, Institutionen und Strukturen behandelt: Wie stehen diese Analyseperspektiven zueinander in Beziehung? Wissen wir eigentlich, wie unterschiedliche Differenzkriterien (race, Geschlecht, Alter etc.) im polizeilichen Alltag miteinander verkoppelt sind? Manche Beiträgerinnen und Beiträger stellen fest, dass es keine validen Aussagen zum Ausmaß rassistischer Einstellungen und Praktiken bei Polizistinnen und Polizisten gibt, andere wiederum halten die Polizei für strukturell rassistisch. Das wirft wiederum die Frage auf, worin der Unterschied zwischen strukturellem und institutionellem Rassismus liegt. Hochkomplexe Vorschläge zur Begriffsklärung werden von anderen Beiträgen nicht aufgenommen, in denen es sich oft so liest, als sei mit „strukturell“ eigentlich eher „generell/generalisiert“(-er Rassismus) gemeint. Manche Beiträgerinnen und Beiträger lehnen wiederum den Begriff des strukturellen Rassismus ganz ab. Und lässt sich eigentlich von Einstellungen auf Praktiken schließen? Die Beiträgerinnen und Beiträger zum Buch sind dazu geteilter Meinung. Wie emergieren Strukturen aus Praktiken und wie kanalisieren Strukturen ihrerseits Praktiken? Die Herausgeber lassen die Leserinnen und Leser mit diesen komplexen Fragen alleine. Sie vergeben damit die Chance, die anwendungsorientierte Ressortforschung zur Polizei an allgemeine Fragen der Sozialwissenschaften anzubinden und für Polizeiforschung als Gesellschaftswissenschaft in einem theoretisch anspruchsvollen Sinne zu werben.

Auch hinter die Aussage, dass es in Deutschland wenig Forschung zu Rassismus in der Polizei gebe, möchte ich ein Fragezeichen setzen. Eine solche Behauptung wird schon durch die schiere Anzahl der hier versammelten Beiträge, mit ihren oft sehr umfangreichen Literaturlisten, widerlegt; eine einfache Google-Suche ergibt einschlägige deutschsprachige Büchertitel mindestens im oberen zweistelligen Bereich, von den Aufsätzen ganz zu schweigen. Man könnte eher die These vertreten, dass Polizeiorganisationen zu den besterforschten staatlichen Institutionen gehören. Es wäre auch einer Reflexion wert gewesen, dass das Thema Rassismus ausweislich der hier versammelten Beiträge Gegenstand ausführlicher Debatten zumindest an deutschen Polizeihochschulen ist und dass es – hier spreche ich aus eigener empirischer Erfahrung – auf der Leitungsebene zumindest mancher Landespolizeien anspruchsvoll diskutiert wird, dabei durchaus offen für Inputs aus der universitären Forschung. Und daran hätte man die Frage anknüpfen können, was dieser Sachverhalt der „Polizei als sich selbst beobachtende Organisation“ für die empirische universitäre Forschung bedeutet.

Fazit: Viele einzelne Beiträge zu diesem Buch sind spannend und aufschlussreich. Der Band lässt somit das Potenzial der empirischen Polizeiforschung in Deutschland erahnen. Den mit dem Untertitel formulierten Anspruch erfüllt er allerdings nicht. Titel und Untertitel erweisen sich vielmehr als keckes akademisches Clickbaiting.