FormalPara Knabe, André:

Soziale Armut. Wahrnehmung und Bewältigung von Armut in sozialen Netzwerken. Wiesbaden: Springer 2021. 241 Seiten. ISBN: 978-3-685-36140‑2. € 42,79.

Armut, insbesondere verfestigte, ist in kapitalistischen Marktgesellschaften ein dauerhaftes soziales Problem, das für die Betroffenen mit enormem Leid verbunden sein kann. In dem vorliegenden Buch von André Knabe wird das soziale Netzwerk der von relativer Einkommensarmut betroffenen Personen als Ursache für die Entstehung, Reproduktion, aber auch Bewältigung von Armutslagen untersucht.

Knabe startet mit einem überblicksartigen ersten Teil, in dem zentrale Grundannahmen der Dissertationsschrift sowie das grundsätzliche Analysemodell vorgestellt werden. Einkommensarmut wird in diesem Zusammenhang als relativ (bezogen auf das Unterschreiten gewisser gesellschaftlicher Standards), aber auch als relational (Ausdruck von Verhältnissen zwischen Personen oder Gruppen) konzeptualisiert. Armut ist deshalb zwar ein von Subjekten wahrgenommenes und zu bewältigendes Phänomen, wird aber primär als eingebettet in soziale Beziehungsnetzwerke verstanden, die wiederrum sozialstrukturell gerahmt sind.

Ziel der hinführenden Kapitel 2–4, welche sich mit dieser sozialen Armut in der soziologischen Theorie und Empirie auseinandersetzen und in denen das Untersuchungsdesign der Studie beschrieben wird, ist erfrischenderweise nicht die „Bekenntnis“ zu einer bestimmten Theorierichtung oder methodischen Schule. Vielmehr spielt eine eher teleologische Perspektive auf die Frage angemessener Analyseinstrumente für Einkommensarmut eine Rolle: Wie kann Armut genauer und besser (vor allem im Sinne des angestrebten Mikro-Meso-Makro-Links) mithilfe der Netzwerkperspektive erfasst werden?

Die Mixed-Methods-Strategie zur Beantwortung dieser Frage ist dementsprechend im besten Sinne „heterodox“: Die verwendeten quantitativen Instrumente dienen nicht der Herstellung von Repräsentativität, sondern einer eher strukturellen Außenperspektive auf die untersuchten Netzwerke. Qualitative Instrumente dienen der Analyse der Wahrnehmung und Bewältigung von Einkommensarmut durch die betroffenen Personen. André Knabe greift für die Arbeit auf 57 problemzentrierte Interviews zurück, die im Jahr 2015 in städtischen und ländlichen Räumen Mecklenburg-Vorpommerns mit Personen geführt wurden, die mit einem Einkommen unterhalb der Armutsrisikoschwelle lebten. Zudem wurden egozentrierte Beziehungsnetzwerke der Befragten standardisiert erhoben.

Die Analysen lassen verschiedene Typen der Wahrnehmung und Bewältigung von Einkommensarmut erkennen, in denen jeweils bestimmte Formen von Netzwerkstrukturen eine besondere Rolle spielen.

Personen, die auf ein institutionalisiertes Unterstützungsnetzwerk (Ehrenamt, Verein, Maßnahmen der Jobcenter) zurückgreifen, gelingt es in hohem Maße, Unterstützung und soziale Teilhabe für die Bewältigung von Armut zu generieren. Es werden als Reaktion auf Einkommensarmut neue Formen sozialer Teilhabe etabliert. Personen, die zur Bewältigung von Einkommensarmut auf sehr wenige und sehr enge Kontakte zurückgreifen (können), misstrauen oft sowohl institutionellen als auch nichtinstitutionellen Akteurinnen und Akteuren jenseits ihres Kernnetzwerkes. Diese Personen fühlen sich mit ihrer Einkommensarmut alleingelassen, orientierungslos und fremdbestimmt; ihre Handlungsfähigkeit ist stark eingeschränkt.

Armut im Zusammenhang mit biografischen Krisen (z. B. Fluchterfahrungen, psychische und physische Erkrankungen) steht mit einer geschwächten Möglichkeit zur Armutsbewältigung im Zusammenhang. Das soziale Netzwerk wird vor allem als Ressource zur Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten verwendet, um die Armutslage zu überwinden. Armut im Zusammenhang mit Bildungs- und Ausbildungszeiten (insbesondere Studium) stellt die soziale Teilhabe der Betroffenen grundsätzlich nicht infrage, sondern wird vor allem als ein notwendiges, aber von einer breiten Peergroup geteiltes Schicksal verstanden.

Die Geschichte der soziologischen Armutsforschung – ihrer Zugriffe, ihrer Themen, aber auch ihrer „intellektuellen Rivalitäten“ – ist eng an die Möglichkeiten der zur Verfügung stehenden Datenmaterialien sowie der eingeschliffenen Analyse- und Deutungspraktiken gebunden. Nicht selten spielen bei der Verhandlung sozialstruktureller Fragen für Armutslagen normativ aufgeladene Argumentationen und damit einhergehende Engführungen eine Rolle, wenn Armutslagen zum Beispiel ausschließlich auf Klassenstrukturen zurückgeführt werden.

Die in dieser Arbeit verwendeten Instrumente einer sozialen Netzwerkforschung sind insofern innovativ für die soziologische Armutsforschung, als dass sie hier genutzt werden, um eine Reihe an oft getrennt verhandelten Perspektiven zusammenzuführen. Das Buch von André Knabe hilft, das Phänomen der Einkommensarmut besser zu verstehen, ist aber auch ein Lehrstück über den Versuch, eine weitgehend „versöhnte“ Armutsforschung zu betreiben, in der sowohl verschiedene Analyseebenen (Mirko-Meso-Makro) als auch quantitative und qualitative Perspektiven mit ihren Stärken berücksichtigt werden. Das Buch lebt in weiten Teilen von einem erfrischenden „sowohl – als auch“, sowie einer klaren Sprache, was auch daran liegt, dass man theoretisch und insbesondere normativ mit leichtem Gepäck unterwegs ist. Die Ergebnisse zeigen den Stellenwert von Netzwerkstrukturen für Armutslagen und lassen sich – ebenfalls für die soziologische Armutsforschung vergleichsweise untypisch – ungebrochen in sozialpolitische Diskurse einspeisen.