FormalPara Imbusch, Peter

(Hrsg.): Soziologie der Hinterhältigkeit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021. 364 Seiten. ISBN: 978-3-7799-6548‑0. Preis € 29.95.

Hinterhältigkeit wird alltäglich mit Haltungen wie Arglist, Gemeinheit, Falschheit, Niedertracht oder Tücke und mit entsprechend verpönten Handlungsorientierungen assoziiert, was mit eindeutigen moralischen Verurteilungen verbunden ist. Zu dieser selbstverständlich wirkenden normativen Einordnung heben Peter Imbusch und Joris Steg in ihrem einleitenden Beitrag des Sammelbandes den Widerspruch hervor, dass hinterhältiges Verhalten trotz seiner negativen Konnotation „ein häufig vorkommendes, alltägliches Phänomen“ (S. 8) und in allen Gesellschaftsschichten und gesellschaftlichen Bereichen erkennbar ist. Entsprechend begreifen sie hinterhältiges Handeln als „genuin soziales Handeln“ (S. 8), das entgegen seiner alltäglichen Verbreitung und Bedeutung für gesellschaftliche Beziehungsgeflechte und Machtfigurationen soziologisch bislang nicht systematisch erfasst wird. Hinterhältigkeit zu untersuchen und theoretisch zu konzeptualisieren lohnt sich, so lautet das Resümee im übergreifenden abschließenden Beitrag des Bandes, weil „Hinterhältigkeit ein zwar möglicherweise verzichtbarer, aber zugleich auch konstitutiver und hartnäckiger Bestandteil des Sozialen ist“ (Imbusch, Mayer und Steg S. 360). Vor diesem Hintergrund lenken die Beiträge im von Peter Imbusch herausgegebenen Band „Soziologie der Hinterhältigkeit“ den soziologischen Blick auf diverse „alltagsweltliche Phänomene“, deren Gemeinsamkeit darin liegt, dass sie als Ausprägungen von Hinterhältigkeit analysiert werden können. Gewonnen werden sollen dabei Erkenntnisse über das „Besondere“ des Alltäglichen, das aus Sicht von Imbusch, Mayer und Steg in soziologischen Zeitdiagnosen und „Mode-Themen“ oft verloren geht (S. 353).

Das konstatierte Forschungsdesiderat wird in den Beiträgen des Bandes bearbeitet, indem theoretisch fundierte explorative Fallanalysen systematische Erkenntnisse für weiterführende typologische Konzeptualisierungen einer „Soziologie der Hinterhältigkeit“ liefern. Gerahmt werden die insgesamt 15 Fallstudien durch den grundlegenden Einleitungsbeitrag von Imbusch und Steg, sowie den zusammenfassenden Ausblick zu hinterhältigem Verhalten „als alltägliche soziale Praxis“ von Imbusch, Mayer und Steg.

Im bereits zitierten einleitenden Text wird Hinterhältigkeit als das Ausnutzen eines überraschenden Moments oder auch das Stellen einer Falle im Zusammenhang ungleicher Machtkonstellationen gefasst, wenn es darum geht, „einen signifikanten Vorteil zu erlangen“ (S. 11), um die eigenen Machtchancen neu auszubalancieren und zu verbessern. Dabei setzen Imbusch und Steg drei konstitutive Elemente für die Bestimmung von Hinterhältigkeit: (1) hinterhältiges Handeln erfolgt intentional; (2) es dient der Täuschung anderer; (3) die Schädigung der Gegenseite wird in Kauf genommen (S. 13). Diese Setzung wird im Folgenden theoretisch gerahmt, indem u. a. mit Bezug zu Arbeiten von Weber, Paris und Imbusch vorgeschlagen wird, Hinterhältigkeit als „Grammatik“ von Machtfigurationen zu analysieren, wobei eine normative oder ideologische Bewertung hinterhältigen Handelns nach Möglichkeit zurückgenommen werden sollte (S. 17). Diese Prämisse korrespondiert mit der Einschätzung, dass Hinterhältigkeit zwar alltäglich verpönt, als soziales Handeln aber durchaus ambivalent ist und keinesfalls grundsätzlich negativ behaftet sein muss. Zudem kann hinterhältiges Verhalten sowohl aus einer überlegenen, unterlegenen oder ausbalancierten Machtposition heraus erfolgen (S. 17).

Die 15 ausgewählten „Fallbeispiele hinterhältiger Praktiken“ sollen die „Multidimensionalität“ (S. 18) des untersuchten Alltagsphänomens veranschaulichen und gleichzeitig einen systematischen Beitrag zur angestrebten „Soziologie der Hinterhältigkeit“ leisten. Entsprechend wurden alle Autorinnen und Autoren gebeten, ihren Beitrag vergleichbar aufzubauen, indem zunächst die Struktureigentümlichkeiten der jeweils ausgewählten Sozialform skizziert, dann das Beziehungsgeflecht und die Machtdynamiken des Falls typisiert und schließlich theoretisch reflektiert wird, was zur Genese und Stabilität, aber auch zum Zerfall von Machtfigurationen, die durch hinterhältiges Handeln strukturiert werden, beiträgt. Auf diese Weise zeigt sich ein facettenreiches Kaleidoskop ganz unterschiedlicher Ausprägungen von Hinterhältigkeit, deren theoretisch und empirisch breit angelegte Fundierungen in der folgenden Reihenfolge nachzulesen sind: Arschkriecherei (Hanspach, Imbusch und Mayer), vergiftetes Lob (Dellwing), Provokation der Macht (Lukas und Tackenberg), hinterhältige Drohung (Gehrmann und Moldenhauer), Manipulation (Endtricht), Indiskretion (Herrmann und Schultz), Lügen (Imbusch), Intrige (Utz), Fremdgehen (Imbusch/Natter), Gerüchte (Steg), Korruption (Stark), Denunziation (Schneider), Verschwörung (Bandtel), Meuchelmord (Mayer) und der Schauprozess (Baberowski).

Die für die jeweiligen Fallstudien ausgewählten Beispiele entstammen in vielen Beiträgen öffentlichen Diskursen aus Politik, Wirtschaft, Justiz, aber auch der Literatur und historischen sowie zeitgenössischen Quellen. Untersucht werden beispielsweise „Der Untertan“ von Heinrich Mann als literarisch gestaltetes Paradebeispiel für „Arschkriecherei“, strategisch geplante rechtspopulistische Provokationen im parlamentarischen Raum, eine machtvolle Drohgebärde im Kontext eines Mafia-Prozesses, die Aufdeckung politischer Skandale und Affären in US-amerikanischen Regierungen, die Manipulation von Emotionen in einer Bandbreite von persönlichen Beziehungen, Werbungsstrategien bis hin zu politischer Propaganda, die Watergate-Affäre oder die stalinistischen Schauprozesse. Die allermeisten Beiträge folgen der vom Herausgeber vorgeschlagenen Struktur, indem das ausgewählte Phänomen zunächst definitorisch eingekreist, theoretisch als machtvolle Handlungsdynamik reflektiert und anschließend am Beispiel der ausgewählten Fälle oder eines Falles illustriert wird, um schließlich zu reflektieren, welche typischen Ausprägungen von Hinterhältigkeit hierbei erkennbar werden.

So untersuchen Tim Lukas und Bo Tackenberg beispielsweise den gezielten, strategischen Einsatz von Provokationen als Stilmittel rechtspopulistischer Politik. Mithilfe dieser Strategie sollen unbedachte Reaktionen anderer Akteurinnen und Akteure hervorgelockt und diese gleichzeitig diskreditiert werden. In ihrer theoretischen Konzeptualisierung der „Macht der Provokation“ greifen Lukas und Tackenberg auf Überlegungen von Rainer Paris zurück, dass Provokationen grundsätzlich situativ gültige Normen verletzen, gezielte Adressierungen vornehmen und immer beleidigende, herabwürdigende Momente enthalten. Gezielte Provokationen sind demnach eine „Inszenierung von Plötzlichkeit“ (S. 67) und für die, die sie einsetzen, mit einem erheblichen Risiko des Scheiterns verbunden, da „die Situation selbst nur selten Fehlversuche verzeiht“ (S. 68). Machttheoretisch werden Provokationen als attraktive Strategie besonders für diejenigen eingeschätzt, die über keine oder wenig Macht verfügen und Machtbalancen zu ihren Gunsten wenden wollen. Diese abstrakte Konstellation zeigen Lukas und Tackenberg anhand verschiedener politischer Interventionen der Alternative für Deutschland (AfD) und analysieren pointiert, wie vermeintliche spontane Provokationen als kommunikative und inhaltliche Regelbrüche im parlamentarischen und außerparlamentarischen Raum „zweckgerichtet eingesetzt werden, um mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen“ (S. 73), um die Grenzen des Sagbaren im politischen Diskurs zu verschieben und auf diese Weise um neue Diskurshoheiten zu kämpfen. Die Befunde und Analysen, die in dem Beitrag mit Bezug zu hinterhältigen Machtfigurationen gebündelt werden, verdeutlichen die machtstrategischen Potenziale hinterhältig geplanter Provokationen, die plötzlich und unerwartet in demokratische Regelwerke eingreifen, gleichwohl aber sorgfältig vorbereitet und choreografiert sind, um politische Gegner, aber auch demokratische Spielregeln zu desavouieren.

Ebenso spannend liest sich der Beitrag von Carsten Stark „Von der Hinterhältigkeit der Korruption“. Hier wird herausgearbeitet, dass „der Hinterhalt eine tragende Säule korruptiver sozialer Beziehungen“ ist und diese sozialen Beziehungen durch den systematischen Missbrauch von Vertrauen gekennzeichnet sind (S. 239). Dieser Vertrauensmissbrauch wird von Stark als „kontingenzreduzierendes Interaktionsmedium“ analysiert, was mit dem „Zusammenbruch institutioneller Vorgaben, sowohl auf der interaktiv-persönlichen als auch auf der gesellschaftlich-systemischen Seite“ (S. 239) einhergeht. Erscheinungsformen von Korruption werden zunächst in einem weiten Feld aufgespannt, verbunden mit juristisch vermeintlich eindeutig geklärten, alltäglich aber bestens bekannten, ambivalenten Gratwanderungen im Umgang mit Vorteilsnahme und Bestechlichkeit. Entsprechend ambivalent bleiben auch die moralischen Bewertungen von Korruption im Großen wie im Kleinen. Stark entfaltet seine theoretische Analyse korruptiver sozialer Beziehungen, indem er zunächst das Wechselspiel von Korruption und Vertrauen als „eine anti-institutionelle Interaktionsbeziehung zur Erlangung von Vorteilen auf informellen Wegen“ entschlüsselt, die dazu führt, dass das Vertrauen in Institutionen zerstört und durch „das Vertrauen in die Korruption“ (S. 245) ersetzt werden soll. Dass solche Konstellationen genuin hinterhältig sind, wird dabei sehr gut nachvollziehbar verdeutlicht. Schließlich wird eine Typologie systemischer und lebensweltlicher Situationsdeutungen entwickelt, die mit unterschiedlichen Formen hinterhältigen Handelns verbunden ist (im tabellarischen Überblick auf S. 254). In seinem Resümee betont Carsten Stark, wie grundlegend Korruption am „Vertrauen großer Institutionen“ nagt, auch wenn sie „im Kleinen“ stattfindet (S. 256). Denn, so seine Einschätzung, Korruption verhindert eine „universalistische Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme“ (S. 256).

Das breite Spektrum der Ausprägungen von Hinterhältigkeit, das in den Beiträgen aufgefächert wird, ist anregend, weil auf diese Weise deutlich wird, dass und in welcher Weise hinterhältiges Handeln die sozialen Beziehungen und Machtfigurationen von modernen Gesellschaften alltäglich strukturiert. Die vergleichende Lektüre aller Beiträge wirft allerdings die Frage auf, ob die konzeptuellen Vorgaben, den empirischen Eigensinn der jeweiligen Fallbeispiele dem Fokus einer theoretischen Konzeption von Hinterhältigkeit unterzuordnen, nicht dazu führt, dass Erkenntnisse verschenkt werden, weil die untersuchten Felder und Phänomene teilweise nur als illustrativer Beleg des theoretischen Blicks eingesetzt werden.

Zugleich wird im abschließenden Beitrag, der recht kurz und allgemein gehalten ist, deutlich, dass ein systematischer Vergleich des breiten Spektrums von Hinterhältigkeit weitere theoretische und empirische Erkundungen erfordert, deren vertiefende Perspektiven aus dem Erkenntnispotenzial der vorliegenden Untersuchungen schöpfen können. Insgesamt handelt es sich um eine soziologisch inspirierende Publikation.