Jarren, Otfried, und Christoph Neuberger (Hrsg.): Gesellschaftliche Vermittlung in der Krise. Medien und Plattformen als Intermediäre. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2020. 226 Seiten. ISBN: 978-3-8487-6877‑6. Preis: € 49,–.

Der Befund, dass die gesellschaftlichen Medien- und Öffentlichkeitsstrukturen mit der Etablierung von Social-Media-Plattformen einen fundamentalen Wandel erfahren haben, ist mittlerweile zu einem sozialwissenschaftlichen Gemeinplatz geworden. Nie zuvor waren politische Konflikte und diskursive Unvereinbarkeiten, divergierende Wirklichkeitssichten und Gegenwartsbeschreibungen, Dynamiken der Selbstvergewisserung und die Abgründe menschlichen Kommunikationsverhaltens sichtbarer als in den soziotechnisch verfassten Sozialräumen, die digitale Plattformen im Internet aufspannen. Umso wichtiger erscheint es, die konkreten Restrukturierungsprozesse jenseits schneller Zeitdiagnosen differenziert in den Blick zu nehmen sowie die in verschiedenen sozialen Milieus und Weltregionen so ungleichzeitigen wie heterogenen Veränderungsverläufe zu rekonstruieren.

Der vorliegende, von Otfried Jarren und Christoph Neuberger herausgegebene und Ende 2020 erschienene, konzeptuelle Sammelband will dazu einen Beitrag aus der Perspektive der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft leisten und knüpft kritisch an eine „nahezu vergessene Theorietradition“ (S. 10) an: die unter anderem von Otto Groth (1875–1965) begründete Münchner Zeitungswissenschaft, welche sich wesentlich an dem Begriff der Vermittlung ausgerichtet hat. Da eingespielte Begriffe wie „Massenkommunikation“ oder „Massenmedien“ mit der steigenden Relevanz von Many-to-Many-Plattformen an Beschreibungskraft verloren hätten, biete sich „Vermittlung“, so argumentieren Klaus Beck und Patrick Donges in ihrem historisierenden und kartierenden Beitrag (S. 45 f.), aus mehreren Gründen als neuer Schlüsselbegriff der Kommunikationswissenschaft an: Zum ersten sei „Vermittlung“ deutlich weiter gefasst als intentionale, auf Verständigung ausgerichtete „Kommunikation“. Zum zweiten umschreibe „Vermittlung“ keinen neutralen Übertragungsprozess, sondern trage durch das Präfix „Ver-“ immer schon einen Gestaltungs- oder Verarbeitungsmoment in sich. Und zum dritten bezeichne „Vermittlung“ ein grundlegendes soziales Phänomen und beziehe sich dementsprechend nicht alleinig auf die Wirkungen des klassischen Mediensystems auf die Gesellschaft oder die Mediatisierung der menschlichen Lebenswelt. Insofern, so Beck und Donges, ließen sich traditionelle Massenmedien (Prozesse journalistischer Vermittlung) und digitale Plattformen (Prozesse automatisierter algorithmischer Vermittlung) als zwei unterschiedliche Spielarten gesellschaftlicher Vermittlung beschreiben.

Ausgehend von diesem Schlüsselbegriff der Vermittlung haben die Teilhabenden der Vitznauer Gespräche, aus deren Kreis sich die Autorinnen und Autoren dieses Bandes speisen, fünf integrierende Referenzthesen entwickelt, die in den aufeinander abgestimmten Einzelbeiträgen eingehender erörtert und spezifiziert werden (S. 11 ff.):

  • Gesellschaftliche Differenzierungsprozesse auf allen Ebenen haben in den letzten Jahrzehnten im Wechselspiel mit neuen Medien- und Technikformen zu einer drastischen Erweiterung der Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten und damit zu einem steigenden gesellschaftlichen Vermittlungsbedarf geführt. Dieser Wandel vollzog sich jedoch bis vor wenigen Jahren primär in nationalstaatlichen Rahmungen (These 1).

  • Damit einhergehend hat sich das publizistische Mediensystem immer weiter ausgedehnt. Es sind vielfältige Mischformen der Massen‑, Gruppen- oder Individualkommunikation entstanden, wobei divergente Vermittlungsformen vermehrt in mehrstufigen Prozessen miteinander kombiniert werden. Dies führt zu einer Expansion, Ausdifferenzierung und erhöhten Eigenkomplexität von Vermittlungsleistungen (These 2).

  • Massenmedien und digitale Plattformen zeichnen sich durch divergente Logiken aus: Die in klassischen Medienmärkten vorherrschende publizistische Medienlogik wird zunehmend durch eine primär ökonomisch geprägte Plattformlogik abgelöst (These 3).

  • Diese unterschiedlichen Logiken orientieren sich wiederum an verschiedenartigen gesellschaftlichen Leitbildern: Während sich publizistische Medien laut den Autorinnen und Autoren an den Idealen einer demokratischen Gesellschaft ausrichten, wird das „Plattform-Leitbild“ durch „ein libertäres, individualistisches, anti-etatistisches, anti-institutionelles und technizistisches Gesellschaftsverständnis“ (S. 13) geprägt (These 4).

  • Zusammengenommen gerät durch diese Entwicklungen das verfassungsrechtlich begründete „Medien-Leitbild“ selbst in die Krise – nämlich: „eine gesellschaftliche Vermittlungsfunktion“ zu erfüllen, „die für die Funktionsfähigkeit der demokratischen öffentlichen und individuellen Meinungsbildung sowie des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats als konstitutiv angesehen wird“ (S. 14) (These 5).

Diese an dieser Stelle nur skizzenhaft referierten Thesen bieten in der Lektüre des gut strukturierten Sammelbands prägnante Orientierungspunkte; sie weisen aus Sicht des Rezensenten allerdings ebenso auf die durchaus sehr spezifische Ausrichtung der darin befindlichen Beiträge hin: Die Autorinnen und Autoren argumentieren hauptsächlich aus der Beobachtungsperspektive der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft, bauen ihre Argumentation auf tradierten disziplinären Debatten auf, wollen zu einer Weiterentwicklung der dort verhandelten Konzepte beitragen und richten ihre Analysen vor allen Dingen auf die Mediensysteme in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus, die sich neben anderem durch die hervorgehobene Stellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks von Konstellationen in anderen Ländern abheben. Konsequenterweise werden Erträge aus der internationalen sozialwissenschaftlichen Forschung jenseits einschlägiger Studien zur Plattformökonomie in den meisten Beiträgen nur selektiv aufgegriffen, was stellenweise in einem idealisierten Medienbegriff und in einem stark vereinfachten Plattformbegriff mündet. Dies betrifft u. a. die mangelnde Unterscheidung zwischen den verschiedenartigen privatwirtschaftlichen Plattformunternehmen und den von ihnen betriebenen Social-Media-Plattformen, die als Kommunikations- und Handlungsräume wiederum von divergenten sozialen Akteuren mit jeweils eigenen Interessen bespielt werden und sich von Fall zu Fall durch unterschiedliche Mischverhältnisse von technischen und sozialen Strukturierungsleistungen auszeichnen.

Nichtsdestominder ist der Band auch lesenswert für Leserinnen und Leser außerhalb der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft, die an grundsätzlichen konzeptuellen Überlegungen zum Funktionswandel der Medien und zum Wandel der gesellschaftlichen Vermittlungsstrukturen interessiert sind. Neben den bereits erwähnten Reflexionen von Klaus Beck und Patrick Donges zu dem Begriff der Vermittlung diskutieren weitere Beiträge das Wechselspiel von gesellschaftlicher Differenzierung und der Entwicklung publizistischer Mediensysteme, welche nun durch das Aufkommen von digitalen Plattformen als neuartige Intermediäre herausgefordert werden (Otfried Jarren), die dadurch intensivierten Dynamiken der Individualisierung und Polarisierung in der Nachrichtennutzung (Katharina Kleinen-von Königslöw), die Ablösung des journalistischen Gatekeeper-Paradigmas durch ein „Netzwerk-Paradigma“, in dem sich der Journalismus „als Knoten in einem Netzwerk“ versteht, der „andere Akteure bei der Orientierung, Vernetzung und Kommunikation unterstützt“ (Christoph Neuberger, S. 144), sowie die „Plattform-Revolution“ und die damit verknüpfte Krise der Vermittlung aus institutionenökonomischer Sicht (Frank Lobigs). Den Abschluss bildet ein Beitrag von Manuel Puppis, der aus neo-institutionalistischer Perspektive die politischen Herausforderungen und Governance-Optionen beleuchtet, die mit der Digitalisierung der öffentlichen Kommunikation und der gesellschaftlichen Vermittlungsstrukturen einhergehen.

Insgesamt bietet der vorliegende Sammelband somit einen instruktiven Einblick in die adressierten disziplinären Debatten, der – eingebettet in den übergreifenden soziologischen Digitalisierungsdiskurs – zu der weiterführenden Frage anregt, ob und inwieweit sich die demokratische Gesellschaft unter den Prämissen der fortlaufenden digitalen Transformation ihrer Medien- oder Öffentlichkeitsstrukturen eigentlich noch in der Lage sieht, eine als gemeinsam markierte Bezugsgrundlage zur Legitimation politischer Entscheidungen und Krisenbewältigungsstrategien herstellen zu können.