FormalPara Klages, Helmut:

Expedition zur Mitte. Über die Eigenschaften der Wählerschaft zwischen links und rechts. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2022. 120 Seiten. ISBN: 978-3-5935-1568‑7. Preis: € 25,–.

Um es gleich vorwegzunehmen: Das hier zu besprechende Werk hat mich in verschiedener Hinsicht ratlos zurückgelassen. Dies beginnt damit, dass in der 18 Seiten umfassenden Einleitung dieses insgesamt nur 116 Seiten starken Buchs nicht systematisch erläutert wird, was eigentlich sein Anliegen, seine forschungsleitende Fragestellung und sein Ziel ist. Vielmehr wird ansatzlos und ohne erkennbaren roten Faden der Begriff der „Mitte“ aus den verschiedensten Perspektiven beleuchtet, wobei die „Geistesgeschichte“ bis zu Aristoteles zurückverfolgt wird. Welche Definition oder welches Verständnis des Begriffs der „Mitte“ Klages selbst seiner Arbeit zugrunde legt, wird dabei allerdings nicht klar. Dies ist umso irritierender, als Klages in der Einleitung den Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung das Fehlen einer „Definition der politischen Mitte“ (S. 22) vorwirft. Präsentiert wird in der Einleitung allerdings völlig unvermittelt die im Buch verwendete Operationalisierung des Konzepts der „Mitte“, nämlich die Selbsteinstufung in der mittleren Kategorie des ideologischen Links-Rechts-Kontinuums (S. 18). Dies mag ein sinnvolles empirisches Vorgehen sein. Theoretisch hergeleitet und/oder methodisch begründet wird diese Entscheidung allerdings in keiner Weise.

Ratlos hat mich außerdem zurückgelassen, dass Klages den von ihm so genannten „Andrang bei der Selbstpositionierung in der politischen Mitte“ (S. 25) als überaus überraschenden empirischen Befund herausstellt. Dass sich die meisten Menschen auf der ideologischen Links-Rechts-Achse in der Mitte positionieren, ist in der Wahlforschung allerdings hinlänglich bekannt und ausführlich dokumentiert. Einen wirklichen Neuigkeitswert hat dies nicht. Dieser Fehleinschätzung hätte wahrscheinlich vorgebeugt werden können, wenn Klages die einschlägige wahlsoziologische Literatur in seinem Buch verarbeitet hätte. Dies gilt in der gleichen Weise für den von Klages als „Überraschung für sich“ (S. 27) verkauften Befund, dass die politische Selbsteinschätzung der deutschen Bevölkerung leicht nach links verschoben ist. Auch dies ist aus der Literatur bereits hinlänglich bekannt.

Irritierend (und überaus folgenreich) ist darüber hinaus, wie leichtfertig Klages die Möglichkeit abtut, dass die Selbsteinstufung in der Mitte des politischen Kontinuums bei einigen Befragten letztlich keine substanzielle Antwort darstellt, sondern vielmehr im Sinne eines Ausweichens vor einer inhaltlichen Antwort zu interpretieren ist (S. 19). So mögen beispielsweise Menschen, die sich nicht für Politik interessieren oder aber von der Einschätzung politischer Sachverhalte überfordert sind, dazu neigen, bei der ideologischen Selbsteinstufung in die als neutral wahrgenommene Mittelkategorie auszuweichen. Ihre Selbsteinstufung in die politische Mitte wäre dann aber eher im Sinne einer Antwortverweigerung oder eines „weiß nicht“ zu interpretieren. Dies würde den von Klages berichteten Befunden entsprechen, dass die Angehörigen seiner „Mitte“ ein geringeres politisches Interesse aufweisen (S. 37), seltener wählen gehen (S. 36) und außerdem merklich niedriger gebildet sind als die anderen Befragten (S. 82). Der von Klages auf seiner „Expedition zur Mitte“ vermeintlich entdeckte „Sozialtypus“ (S. 33) mag dann in Wirklichkeit aber eher ein methodisches Artefakt sein. Klages selbst zieht diese Möglichkeit nicht in Betracht und unternimmt folglich auch keine Anstrengungen, diese Möglichkeit durch differenzierte Analysen auszuschließen. Tatsächlich gehen seine empirischen Analysen über einfache bivariate Zusammenhangsanalysen nicht hinaus. Und selbst dabei verzichtet er auf die Verwendung von Assoziationsmaßen und stützt seine Interpretation zuweilen nur auf einzelne Zeilen größerer Kreuztabellen (S. 62–64). Multivariate Analysen finden sich überhaupt nicht. Irritierend sind auch manche der von Klages präsentierten Interpretationen. So weist er beispielsweise darauf hin, dass die Angehörigen der Mitte in aller Regel politische Positionen einnehmen, die nicht besonders stark von denen der Gesamtbevölkerung abweichen (S. 54). Er interpretiert dies dahingehend, dass die politische Mitte ein „Gespür … für den Wellengang gesellschaftlicher Veränderung“ (S. 53) besitze, woraus eine Tendenz resultiere, „sich der Bevölkerungsmehrheit anzuschließen“ (S. 54, Hervorhebung im Original). Sehr viel naheliegender aber ist, dass die politischen Positionen der politischen Mitte schlicht deshalb sehr nahe bei den Positionen der Gesamtbevölkerung liegen, weil die politische Mitte 40 % der Stichprobe ausmacht und daher die Position der Gesamtbevölkerung maßgeblich prägt. Irritierend ist auch Klages Erklärung dafür, dass die politische Mitte nach den Ergebnissen seiner Analysen überdurchschnittlich häufig die CDU wählt. Dies führt er darauf zurück, dass die Angehörigen der politischen Mitte auch die CDU besonders häufig in der Mitte des politischen Spektrums einstufen (S. 41). Diesen für sich genommen fast schon tautologischen Befund interpretiert Klages dann wie folgt: „Diejenige Partei, die in den Augen der politischen Mitte die … Pragmatik‑, Realistik- und Vernunftprüfung besteht, scheint ihr gegenwärtig vor allem die CDU zu sein“ (S. 42). Hier scheint mir die Interpretation inhaltlich weit über das hinauszugehen, was sich aus den Ergebnissen der empirischen Analysen tatsächlich ableiten lässt.

Die Freude an inhaltlich „überschießenden“ Interpretationen lässt sich auch noch an anderen Stellen des Buchs beobachten. Letztlich gilt dies für das gesamte Kapitel zur „Würdigung und Einordnung unserer Typus-Entdeckung“ (S. 94–101). Hier war ich überaus erstaunt, was Klages so alles aus den Ergebnissen seiner doch recht einfachen empirischen Analysen herauszulesen vermag. So vollbringe die Mitte „eine Syntheseleistung, in der sich die in der Links-Rechts-Spannung angelegten gesellschaftlichen Spaltungs-Kräfte aufheben“ (S. 101, Hervorhebung im Original). Sie erfülle damit „eine quasi-aristotelische Funktion“ (S. 101). Etwas ratlos hat mich schlussendlich der gesamte Stil der Arbeit gemacht. Zwischenzeitlich fühlte ich mich bei der Lektüre an die in der akademischen Lehre zunehmend gebräuchlichen „Lerntagebücher“ erinnert, in denen Studierende ihren Erkenntnisfortschritt in erzählerischer Form dokumentieren. So beschreibt Klages in der Einleitung des Buchs, wie er durch die Arbeit an anderen Fragestellungen zu seinem Thema gelangte, ohne das Thema aber systematisch herzuleiten und zu entfalten. Vergleichbare Beschreibungen finden sich noch an einigen anderen Stellen der Arbeit, so z. B., wenn Klages sein Vorgehen mit einer „Schnitzeljagd“ (S. 75) vergleicht. Hinzu kommt, dass Klages seine Ausführungen an vielen Stellen deutlich zu spärlich mit Literaturquellen hinterlegt, bis hin zu einem wörtlichen Zitat ohne Quellenangabe (S. 14). Unbedingt zuzustimmen ist Klages daher, wenn er „eventuelle Examenskandidat/innen unter unseren Leser/innen“ (S. 75) vor einer Nachahmung seines Vorgehens warnt.

Was bleibt in der Gesamtschau abschließend festzuhalten? Aus meiner Sicht ist nicht zu erwarten, dass das Buch von Klages die wissenschaftliche Diskussion nachhaltig beeinflussen wird. Die theoretische Argumentation ist wenig stringent, die Anbindung an den Forschungstand der empirischen Wahlforschung so gut wie nicht vorhanden und die empirischen Analysen vermögen nicht zu überzeugen. Die weitreichenden inhaltlichen Schlussfolgerungen, die Klages zieht, stehen dazu in einem eigentümlichen Kontrast.