FormalPara Altenried, Moritz, Julia Dück und Mira Wallis (Hrsg.):

Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion. Münster: Westfälisches Dampfboot 2021. 295 Seiten. ISBN 978-3-89691-056‑1. Preis: € 30,–.

Digitale Plattformen sind fest in unserem Alltag verankert. Dies wird zum Beispiel daran deutlich, wie präsent Uber-Fahrerinnen und -Fahrer und Lieferando-Riders im städtischen Raum sind. In einer Vielzahl von Studien wurde bereits der Frage nachgegangen, was digitale Plattformen für die Sphäre der Erwerbsarbeit bedeuten. Mit dem vorliegenden Sammelband soll jedoch ein Bereich fokussiert werden, der bislang wenig Aufmerksamkeit bekommen hat: soziale Reproduktion. Digitale Plattformen nehmen als profitorientierte Akteure eine „zunehmend wichtige Rolle im Kontext der Krise der sozialen Reproduktion“ (S. 14) ein und knüpfen mit ihren Geschäftsfeldern und Anwerbestrategien an diese an, so die einleitende These von Altenried, Dück und Wallis. Soziale Reproduktion definieren sie als „Ensemble jener Praxen, Güter, Infrastrukturen und Institutionen, kurz: jener Verhältnisse, die zur Reproduktion der Arbeitskraft in kapitalistischen Gesellschaften notwendig sind“ (S. 8). Die Krise dieser Verhältnisse, so argumentiert Dück in einem eigenen Text, muss in ihrer Multidimensionalität begriffen werden. Sie umfasse gesamtgesellschaftliche Mangellagen, die Gefährdung reproduktiver Ressourcen von Subjekten sowie Krisen vergeschlechtlichter Lebensweisen und Subjektivitäten. Altenried gibt anschließend einen Überblick über die Logik digitaler Plattformen und beschreibt, welche neuen Organisationsformen diese für die „Verausgabung von Kapital und Arbeitskraft“ (S. 53) ermöglichen. In den Aufsätzen von Huws sowie Srnicek und Hester wird im Rückgriff auf historische Kontextualisierungen dafür plädiert, den Einfluss von digitaler und vernetzter Technik auf soziale Reproduktion in Bezug auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und unternehmerische Geschäftsmodelle zu betrachten.

Die weiteren Beiträge schließen sinnvoll an diese begrifflichen und konzeptionellen Grundlagen an. Im Folgenden sollen einige Schlaglichter auf Fragestellungen und Ergebnisse der Autorinnen und Autoren geworfen werden.

Ecker, Rowek und Strüver argumentieren aus raumsoziologischer Perspektive, dass Plattformen an bestehende Strukturen ungleich verteilter Care-Arbeit anknüpfen und „Ungerechtigkeiten der vergeschlechtlichten und verräumlichten Arbeitsteilung“ (S. 125) reproduzieren. Der Beitrag von Berfelde nimmt Raum nicht als Kontext einer Tätigkeit, sondern als Ressource in den Blick. Auf Grundlage von Interviews beschreibt die Autorin das „Teilen“ des eigenen Wohnraums über Airbnb als individualisierte Bearbeitung von krisenhaften Reproduktionsverhältnissen. Dabei seien es vor allem Subjekte aus der Mittelschicht, welche die Plattform nutzen, um prekäre finanzielle Lagen abzufedern. Bor beschäftigt sich in ihrer Studie zu Helpling damit, wie und von wem Räume sauber gehalten werden. Sie argumentiert, dass die plattformvermittelte Übertragung von Hausarbeit auf soloselbstständige Putzkräfte vor allem eine Verlagerung der Krisen sozialer Reproduktion bedeutet – vom Haushalt auf die individuelle Arbeitskraft. Deren Tätigkeit sei von Prekarität geprägt, während die Plattform sich aus der Verantwortung ziehe, so das Ergebnis einer Analyse des Geschäftsmodells von Helpling und von Interviews mit Putzkräften.

Eine andere Facette soloselbstständiger Arbeit wird im Beitrag von Baum und Kufner beleuchtet. Sie nehmen Subjektivierungsweisen von Care-Gig-Workerinnen und -Workern auf Grundlage von qualitativen Interviews in den Blick. Im Rahmen der plattformvermittelten Arbeit wird es dieser am Arbeitsmarkt begehrten Gruppe möglich, den eigenen Ansprüchen vom richtigen Sorgen relativ selbstbestimmt gerecht zu werden. Dennoch bleibt es, so zeigen die Autorinnen auf, für die Selbstständigen eine zentrale Anforderung, „Fürsorgeethik mit ökonomischen Ansprüchen zu vereinbaren“ (S. 182).

Lalvani untersucht auf der Grundlage ethnografisch-qualitativer Forschung in Mumbai den Zusammenhang von etablierten vergeschlechtlichten Lebensweisen und App-basierten Essenslieferdiensten. Die Autorin zeigt auf, dass die Arbeit über solche Plattformen nichtökonomische Vorbedingungen hat: Nur wer zuhause bekocht wird, kann ihr gewinnbringend nachgehen – und Kochen ist noch immer eine Aufgabe, die vorrangig von Frauen erledigt wird. Die Plattformbetreiber selbst würden sich als Akteure gesellschaftlicher Veränderungen präsentieren, indem sie (potenziell) Frauen integrieren. Doch, so schließt Lalvani, „gerade die übertriebene Betonung der Neuartigkeit ihrer Partizipation trägt dazu bei, dass ihnen Rechte vorenthalten werden“ (S. 204), beispielsweise bestimmte Schichtzeiten.

In zwei Texten werden Crowdwork-Plattformen untersucht. Deren Geschäftsmodell, so argumentiert Wallis, beruht gerade darauf, dass Subjekte aus verschiedensten Gründen an einen bestimmten Ort gebunden sind. Ob wegen Sorgeverpflichtungen oder Arbeitsverboten im Zuge von Migration: Die Crowdworkerinnen und Crowdworker suchen „in der globalen digitalen Ökonomie nach Einkommensstrategien jenseits des lokalen ‚Offline‘-Arbeitsmarktes“ (S. 246). Basierend auf Interviews mit Crowdworkerinnen und Crowdworkern aus Rumänien und Deutschland zeigt Wallis, wie intime (sozial-räumliche) Verhältnisse zu Ort und Gegenstand der Tätigkeit werden – etwa, wenn andere Mitglieder des Haushalts Sprachproben zum Training von Sprachassistenten einsprechen sollen. Frieß und Nowack erörtern, was diese Plattformen für die Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigung an Erwerbsarbeit bedeuten können. Trotz Chancen, so kritisieren die Autorinnen, ermöglichen diese vor allem Zugang zu prekärer Erwerbsarbeit. Hervorzuheben ist an diesem Beitrag die Präsentation erster quantitativer Ergebnisse zur Präsenz von Menschen mit Beeinträchtigungen auf Crowdworking-Plattformen sowie deren Motive zur Aufnahme der Tätigkeit.

Kluzik macht in ihrem Beitrag einen Vorschlag dazu, wie die zunehmende Organisation von Sorge über Plattformen theoretisch gefasst werden kann. Diesen Prozess beschreibt die Autorin aufbauend auf der Synthese verschiedener Konzepte (Prekarität, Flexploitation, Biopolitik, Gouvernementalität) als „flexible Assemblage ineinander verschränkter Prozesse der zunehmenden Fragmentierung und Inwertsetzung von Sorgetätigkeiten sowie der räumlichem Reorganisation“ (S. 222).

Zuletzt setzt sich Pentzien mit Alternativen zu profitorientierten Plattformen auseinander. Er bietet eine Typologie von Plattform-Kooperativen anhand ihrer Zielstellung an und diskutiert an Fallbeispielen Probleme und Erfolgsbedingungen dieser verschiedenen Typen.

Zwei weiterführende Aspekte hätten den Sammelband in sinnvoller Weise abgerundet. In den Beiträgen wird eine Vielzahl theoretischer Perspektiven zur Anwendung gebracht. Diese hätten in einem zusammenfassenden Beitrag miteinander ins Gespräch gebracht und konzentriert auf die These rückbezogen werden können, die überzeugend in der Einleitung hergeleitet wurde. Auch wäre so eine tiefergehende Diskussion des Konzepts der Infrastrukturalisierung möglich gewesen, auf die das Geschäftsmodell von digitalen Plattformen abzielt (S. 13). Die Frage nach diesen weiterführenden Aspekten kommt freilich nur auf, weil die Autorinnen und Autoren des Bandes sich überzeugend einer dringlichen Aufgabe widmen: der Untersuchung des Zusammenhangs digitaler Plattformen und sozialer Reproduktion. Sie decken in gut lesbaren Beiträgen ein breites Spektrum an empirischen Fällen in verschiedenen Kontexten ab. Hervorzuheben ist dabei insbesondere der Beitrag von Lalvani, der über den europäischen Kontext hinausgeht und einen lohnenden Ausgangspunkt für weitere vergleichende Forschung zu Plattform(reproduktions)arbeit bietet. Insgesamt ist die Lektüre sehr informativ und kann Interessierten rund um die Themen digitale Plattformen und Reproduktionsarbeit nur ans Herz gelegt werden.