FormalPara Piallat, Chris (Hg.):

Der Wert der Digitalisierung. Gemeinwohl in der digitalen Welt. Bielefeld: transcript Verlag 2021. 440 Seiten. ISBN: 978-3-8376-5659‑6. Preis: € 29,50.

Nachdem Digitalisierung in der öffentlichen Debatte und auch in Teilen der Wissenschaft lange als quasi naturwüchsiger Prozess behandelt wurde, dessen Richtung einzig von den ihm zugrundeliegenden technischen Innovationen bestimmt wird, treten in den letzten Jahren gesellschaftliche Gestaltungsspielräume und Fragen der (politischen) Regulierung stärker in den Vordergrund. Die Anlässe dafür reichen von Hasskommentaren auf Social-Media-Plattformen über Sorgen um die technologische Innovationskraft und wirtschaftliche Zukunft Deutschlands und Europas bis hin zu Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Schlagwort künstliche Intelligenz. Erwartungen an Regulierung benötigen jedoch zwingend eine normative Basis, um die Ziele der Regulierung bestimmen zu können. Angesichts des Standes der Gesetzgebung auf EU-Ebene (Digital Services Act, Digital Markets Act, AI Act) kommt der von Chris Piallat herausgegebene Band, der unter Bezugnahme auf die Idee des Gemeinwohls Beiträge versammelt, die sich dezidiert damit auseinandersetzen, welche digitalen Zukünfte wünschenswert und welche nicht gewollt sind, fast schon zu spät. Er bietet aber immerhin einen kompakten Überblick über den Stand der deutschen Debatte über Werte und Normen in einer digitalen Welt, der in gegenwärtige Regulierungsbemühungen teilweise eingegangen ist. Dabei bezieht der Band Perspektiven aus verschiedenen akademischen Disziplinen und angewandter Forschung ebenso ein wie jene von Aktivistinnen und politiknahen Akteuren.

Von vielen anderen Sammelbänden unterscheidet sich das Buch dadurch positiv, dass es über eine durchdachte Gliederung den Eindruck vermittelt, aus einem Guss zu sein. Im ersten Teil führt je ein Beitrag in die im Titel des Bandes enthaltenen Begriffe des Gemeinwohls und der Werte ein. Der zweite Teil besteht aus Beiträgen, die verschiedene Werte – z. B. Freiheit, Gleichheit oder Nachhaltigkeit – in den Mittelpunkt stellen und zum Teil eher abstrakt, zum Teil in Verbindung mit konkreten Anwendungsbeispielen diskutieren. Schließlich beleuchtet ein dritter Teil die politischen Rahmenbedingungen und bisherigen Erfahrungen mit der rechtlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Einflussnahme auf die Ausgestaltung des digitalen Wandels.

Trotz der stringenten Konzeption des Bandes sind die einzelnen Beiträge recht heterogen und passen mal mehr und mal weniger gut in das vom Herausgeber gewählte Raster. Insbesondere im zweiten Teil ist die dritte Gliederungsebene, die jeweils einen Wert als Thema benennt, eher irreführend. Sie suggeriert, dass sich Aspekte wie Freiheit oder Selbstbestimmung tatsächlich separat voneinander diskutieren ließen, was die Beiträge gar nicht leisten können. Die beiden einführenden Texte im ersten Teil funktionieren dabei nur bedingt als Klammer. Der Begriff des Gemeinwohls ist – wie Piallat zutreffend beschreibt – selbst offen; es wird im demokratischen Prozess und im Ringen verschiedener Interessen erst, und immer wieder neu, bestimmt. Welche Rolle in diesem Zusammenhang Werte als Orientierung für Handeln und Entscheiden überhaupt spielen können, wird im Beitrag von Grimm bestenfalls kursorisch beleuchtet. Weitgehend ungeklärt bleibt insbesondere, wie das Verhältnis zwischen Werten und formalem Recht zu denken ist.

Das ist schade, weil die Beiträge des zweiten Teils in dieser Hinsicht unterschiedlich ansetzen. Auf der einen Seite scheinen die wichtigsten Werte in den im Grundgesetz garantierten Grundrechten bereits festgehalten und insofern unzweifelhaft zu sein. Daher bedürfte es entgegen der Programmatik des Bandes gar keiner Verständigung über Werte, sondern lediglich der Durchsetzung bestehender Grundrechte, sei es mithilfe neuer rechtlicher Regelungen (Ueberschär, Hilgendorf) oder Weiterentwicklungen bestehender Regelungen, etwa zum Datenschutz (Leopold). Auf der anderen Seite lassen sich konkrete Probleme identifizieren, etwa das Verhältnis von Ärztin und Patient (Woopen und Müller) oder der Klimawandel und Raubbau an Ökosystemen (Santarius), um zu diskutieren, wie digitale Technologien für den Umgang mit diesen Problemen bestimmte Werte fördern oder außer Acht lassen. Ähnlich setzen auch Staab und Piétron an, deren Beitrag als einziger der Soziologie zuzuordnen ist. Sie rücken den Begriff des Gemeinwohls ins Zentrum, um der bestehenden Plattformökonomie ein alternatives, gemeinwohlorientiertes Modell gegenüberzustellen, das Werte wie soziale Freiheit, Gerechtigkeit und würdevolle Arbeit besser verwirklicht als die derzeitigen Plattformanbieter.

Die Reflexion bisheriger Erfahrungen damit, die digitale Transformation zielgerichtet zu gestalten, die die Beiträge im dritten Teil prägt, deutet an, welche Instanzen die Lücke zwischen der Abwägung von Werten und Entscheidungen über die Ausgestaltung einer digitalen Gesellschaft in der gesellschaftlichen Praxis schließen. Buermeyer und Spitz rekonstruieren die höchstrichterliche Rechtsprechung zu Fragen der Digitalisierung überwiegend als Erfolgsgeschichte, auch wenn eine Reihe ungelöster Rechtsprobleme benannt werden. Zwei Beiträge zivilgesellschaftlicher Akteure priorisieren dagegen jeweils einen Wert und leiten daraus harsche Kritik am staatlichen Handeln mit Blick auf die Digitalisierung ab: Heumann sieht die staatliche Verwaltung in Deutschland grundsätzlich als schlecht gerüstet an, um die digitale Transformation aktiv mitzugestalten, solange sie sich nicht dem Leitprinzip der Offenheit – etwa mit Blick auf Karrierewege und externe Expertise – verschreibt. Kloiber und Lindinger priorisieren ebenfalls Offenheit als Wert, hier mit Blick auf den gleichen Zugang zu digitalen Kommunikationsmöglichkeiten unabhängig von individuellen Ressourcen, sehen ein Versagen des Staates bei der Förderung des digitalen Gemeinwohls – verstanden als Bereitstellung von Infrastrukturen und Plattformen zum Wohle aller – und beschreiben, wie zivilgesellschaftliche Initiativen kompensatorisch aktiv werden.

Angesichts der zumindest in Deutschland weit verbreiteten Zurückhaltung der Soziologie, zu normativen Fragen Stellung zu beziehen, ist es kaum überraschend, dass die Perspektive dieser Disziplin, abgesehen von dem erwähnten Beitrag von Staab und Piétron, in einem Sammelband, der explizit normative Fragen zur Debatte stellen will, fehlt. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist immerhin, dass sich Verweise auf Armin Nassehis Buch „Muster“ in allen drei Teilen des Buches finden – als Kronzeuge für die enge Verbindung zwischen gesellschaftlichen Strukturen und Digitalisierung. Das ist insofern interessant, als Nassehis Theorievorschlag und die systemtheoretische Tradition, an die er anknüpft, denkbar weit entfernt sind von dem Glauben daran, dass Werte in der modernen Gesellschaft bei der Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen helfen könnten. Gleichzeitig gibt es aber eben im Zusammenhang mit der Digitalisierung ein neues, intensives Interesse an Wertedebatten, wie die Existenz des Sammelbandes belegt. Die Soziologie, unabhängig davon, ob sie systemtheoretische oder andere Theoriepräferenzen hat, ist gut beraten, dies als Phänomen in ihrem Gegenstandsbereich zur Kenntnis zu nehmen und in ihrer Forschung zu Fragen des digitalen Wandels zu berücksichtigen.