FormalPara Krech, Volkhard:

Die Evolution der Religion. Ein soziologischer Grundriss. Bielefeld: transcript Verlag 2021. 472 Seiten. ISBN: 978-3-8376-5785‑2. Preis: € 39,–.

Selbst wenn es den Anschein hat, dass Religion in Europa mehr und mehr am Verschwinden scheint, kann man kaum umhin, ihre Bedeutung für die Lebensgestaltung Einzelner und oft die Formierung von Gesellschaft wahrzunehmen. Sei es die Verbindung von Religion und Nationalismus in Russland oder anderen Staaten der Welt, sei es die Durchsetzung scharfer Abtreibungsregeln in den USA, sei es das Engagement für Geflüchtete in Europa; Religion oder Religiosität spielt immer eine gewichtige gesellschaftliche Rolle. So ist es vielleicht diese Ambivalenz oder Widersprüchlichkeit von gesellschaftlicher Bedeutung und Säkularisierung, die das soziologische Interesse an Religion befeuert. Dieser Zwiespalt drückt sich in der Evolution der Religion in Form einer Suche nach strukturellen Entstehens- und Überlebensfunktionen aus, die Religion so hartnäckig in der Gesellschaft verankern.

Das umfangreiche Buch von Volkhard Krech nimmt sich nichts weniger vor, als eine Art Entstehungsgeschichte der Religion nachzuzeichnen, oder besser zu entwickeln. Damit handelt es sich um nicht weniger als eine wissenschaftliche Großaufgabe, die sich in Zeiten einer Fixierung auf kleinteilige Forschungsfragen und das Sammeln von Artikeln schon für Dissertationen wohltuend hervortut. Ganz klar, über die Frage, wie Religion entstanden ist, da kann man sich trefflich streiten. Und wann Religion die heutigen Formen erreicht hat – und welche das überhaupt sind – beschäftigt Religionswissenschaftler und Religionswissenschaftlerinnen wie Religionssoziologen und Religionssoziologinnen schon lange, und auch heute noch hinlänglich. Was die Motivation angeht, ein, wie man landläufig sagt, „so dickes Brett zu bohren“, da kann man nur einer Selbstangabe von Volkhard Krech folgen, dass man dann wenigstens gescheiter scheitern sollte, wenn dies schon bei einem solchen großen Zugang fast einprogrammiert ist. Dass ein soziologischer Grundriss einer Geschichte der Entwicklung von Religion sprichwörtlich nicht leicht in der Hand liegt, ist wenig überraschend. Entsprechend kostet es eine Investition, wenn man sich es vornimmt, diesen Versuch eines soziologischen Grundrisses zu lesen. Doch diese Investition wird zum einen durch intelligente, weitreichende Überlegungen und zum anderen durch interessante und kontinuierlich fortgeführte Schau- und Verständnisbilder versüßt.

Das Buch nimmt seinen Weg durch anthropologische Betrachtungen, historische und soziologische Analyse. Es ist allerdings bei Weitem keine Aneinanderreihung von einzelnen Fallbefunden und Beobachtungen, sondern folgt einer klaren Leitlinie. Diese stellt Unterscheidungen in der Gesellschaft dar und präsentiert das Verständnis von Religion als eine Kommunikationsform oder, wie Krech selbst schreibt, ein „kommunikatives Zeichensystem“. So versteht er Religion als „ein System gesellschaftlicher Kommunikation, das sich anhand von eigengesetzlicher Strukturbildung zu einem Zeichenzusammenhang formt, in dem mit Zeichen, die in einem Verhältnis wechselseitiger Bestimmung stehen, auf physische und organische Sachverhalte und Personen in der Umwelt des Religionssystems verwiesen wird“ (S. 327). Wer hier Systemtheorie oder gar die Überlegungen Niklas Luhmanns heraushört, der liegt nicht grundsätzlich falsch. Krech schließt in seinem Grundmodell, welches auf System und systemische Differenzen beruht, an die Überlegungen von Luhmann zu Religion als System (mit der Unterscheidung transzendent – nichttranszendent) an. Gleichwohl will er diesen Zugriff nicht gegenstandslos belassen und berücksichtigt Symbole und Verweisformen für eine Analyse der Realpräsenz von etwas, was man Religion nennen könnte.

Dem inne wohnt der Gedanke der Autopoiesis, also der Eigenständigkeit oder Endogenität der Entwicklung von Religion. Diese wird bereits durch den Titel mit der Idee der Evolution aufgegriffen und zum Programm des Buches. Evolution setzt voraus, dass Prozesse der Selbstselektivität eine Entwicklung – und im Grunde sogar Verbesserung – eines Zustandes, Gegenstandes, Prozesses mit sich bringt. Auch dieses Moment schließt an die Denkweise des frühen Strukturfunktionalismus an, dass einem die Frage auf der Zunge liegt, ob wir letztendlich in einem zweiten oder dritten Band des Buches auch bei der Säkularisierung (z. B. nach Taylor) oder Spiritualität als Vollendung von Religion landen werden. Doch so weit ist es noch nicht. Zuerst wird die System-Umwelt-Differenz in die Semiotik Platons eingetragen (S. 95, 332–333). Überhaupt ist es die Semiotik, die Krech hilft, seine Überlegungen zu entwickeln. So bündelt er seine Überlegungen zu Evolutionstheorie, Systemtheorie und Kommunikationstheorie eben semiotisch über Zeichenzusammenhänge, Unterscheidungen zwischen Medium und Form mit dem Abschluss einer Bestimmung von Religion als kommunikativem Zeichensystem (S. 70 ff.). Die Komplexität des Vorhabens wird spätestens an dieser Stelle, im Modell des elementaren religiösen Zeichensystems, sichtbar (S. 88).

Dieser Erkenntnistheorie des Religiösen folgt die Erschließung des semiotischen Raums des Religiösen mit seiner Dimensionalisierung. Auch dieses Kapitel geht nicht leicht von der Hand, aber steuert nun größere Zusammenhänge an. Vor allem die Unterscheidung und das Zusammenspiel der Dimensionen Erfahrung, Verkörperung, Kognition und Regulation ergänzt die bisherigen Überlegungen und mündet in konkrete Formen der Vergegenwärtigung. Die Elemente der uns in der heutigen Zeit am besten bekannten Institutionalisierung des Religiösen, seien sie bewegungs-, gruppen- oder institutionenförmig, schließen zu Gegenwartsbetrachtungen des Religiösen auf. Fast etwas knapp, was bei einem Buch dieses Umfangs eigentlich einen Frevel zu sagen darstellt, fallen Teile der konkreten semiotischen Formen und ihre Einordung in das Gesamtsystem aus. So bleibt der Schamanismus etwas blass in seiner Ausführung, während die folgende Magie sicher noch eine Rahmung aus dem Werk Webers verdient gehabt hätte (S. 133–134). Gleichwohl kann man dies auch als Petitessen sehen, wenn zumindest erwähnenswerte.

Mit den Symbolen, Gegenständen und Ausformungen des Religiösen wird in das zentrale und von der Seitenzahl stärkste Kapitel der Arbeit eingetreten – die „Zeit des Religiösen“. Der Blick wird hier zentral auf die Ausdifferenzierungen des Religiösen und eine nun stärker systemtheoretisch durchsetzte Analyse gerichtet. Zudem wird der evolutionäre Charakter der Religion oder besser des Religiösen entfaltet. So werden die Mechanismen der Selektion, Variation und Restabilisierung ausbuchstabiert (S. 191 ff.). Sie kennzeichnen das, was eine evolutionäre Entwicklung auf den Weg bringt – und auch das, was einer Essenzialisierung von Religion entgegensteht. Denn letztendlich beschreibt die Evolution der Religion ein funktionalistisches Paradigma der Differenzierung und Ausdifferenzierung von Religion. Kritisch hinterfragen kann man, ob nicht individuelle oder kollektive Zuschreibungen, Teile dessen, was Religion ist, zu einer substanziellen Eigenständigkeit in der Gesellschaft verhelfen. Diese mag immer irgendwie gewesen sein, aber sie besitzt zumindest eine Form, die konkrete Inhalte nach sich ziehen kann – Vorurteile, Frömmigkeit, Religionsfremde. Nicht, dass dies durch die Überlegungen im Buch ausgeschlossen wären, sie sind nur wenig sichtbar.

Insgesamt kann man die Evolution der Religion allen an Religion Interessierten nur empfehlen. Es handelt sich um einen kompromisslosen Versuch einer größeren und umfassenderen Deutungsweise der Entwicklung von Religion in Gesellschaften, aufbauend auf Überlegungen der Systemtheorie. Es ist kein Buch, das man so mal an einem Nachmittag liest oder abends im Bett. Vielmehr bedarf es tiefer analytischer Lektüre und Geduld. Die Weiterführung der Schaubilder führt durch die sorgsame Hinzufügung von neu erarbeiteten Elementen dazu, dass man sich auf diesem Weg auf jeden Fall verorten kann. Eine intellektuelle Herausforderung auf dem Weg zum Verständnis zu Religion ist es allemal. Ob das Projekt in der wissenschaftlichen Community so viel Aufmerksamkeit und Nutzer auf sich ziehen wird, dass es nicht als gescheitert zu betrachten ist, kann ich an dieser Stelle nicht sagen. Ohne Frage kann man aber dem Autor zugestehen, dass die Leser nach der Lektüre des Buches gescheiter sind.