FormalPara Wolbring, Tobias, Heinz Leitgöb und Frank Faulbaum (Hrsg.):

Sozialwissenschaftliche Datenerhebung im digitalen Zeitalter. Wiesbaden: Springer VS 2021. 282 Seiten. ISBN: 978-3-658-34395‑8. Preis: € 64,99.

Die neuen Möglichkeiten, an Daten, vor allem an Echtzeitdaten aus sozialen Prozessen zu kommen, wie sie heute vielfach von den unterschiedlichsten Online-Plattformen als integraler Bestandteil ihres Geschäftsmodells aufgezeichnet werden, prägt auch die Methodendiskussion in den Sozialwissenschaften auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Der Sammelband von Wolbring, Leitgöb und Faulbaum wählt bewusst einen sehr engen Zugriff, indem er sich zum einen klar auf die Datenerhebung konzentriert und zum anderen an der Übersetzung klassischer sozialwissenschaftlicher Erhebungsmethoden (in erster Linie Survey-Methoden) auf neue Trägertechnologien (insbesondere Smartphones). Dabei werden dann auch bestimmte Merkmale des „digitalen Zeitalters“, wie die Autoren es nennen, in den Vordergrund gestellt, andere hingegen eher ausgeblendet. In ihrer Einführung führen die Autoren sechs wesentliche Entwicklungen an, die aus ihrer Sicht mit der Datenerhebung im digitalen Zeitalter eng verknüpft sind:

  1. 1.

    die Digitalisierung der Befragungsformen selbst und ihre Umsetzung in web-basierte Surveys (S. 9);

  2. 2.

    die zunehmende Bedeutung von Smartphones und Wearables (S. 11);

  3. 3.

    soziale Medien als neue Datenquellen (S. 14);

  4. 4.

    die Notwendigkeit der Integration unterschiedlicher Datenquellen (S. 17);

  5. 5.

    die Möglichkeit zur Entwicklung neuer Messverfahren (S. 18) und

  6. 6.

    die Ausbildung eines neuen Forschungsbereichs der Computational Social Sciences (S. 20).

Diese Entwicklungen liegen sicher auf ganz unterschiedlichen Ebenen und haben differente Bezüge zum Thema Datenerhebung und werden im Verlauf des Sammelbandes auch in sehr unterschiedlichem Umfang aufgegriffen.

Darüber hinaus fehlen aber einige Gesichtspunkte aus den Diskussionen um die Digitalisierung der Sozialwissenschaften in einer zunehmend digitalen Gesellschaft. Ausgeblendet werden vor allem zwei Dimensionen, die in der Diskussion um eine digitale Sozialwissenschaft eine recht starke Rolle spielen. Da sind zum einen die Herausforderungen für das Methodeninstrumentarium der Sozialwissenschaften selbst, das auf eine Knappheit von Daten ausgerichtet war und sich nun auf einen Überschuss von Daten aus digitalen Quellen einstellen muss. Damit einher gehen auch neue Möglichkeiten des methodischen Vorgehens, wie sie etwa in einer „forensischen“ Soziologie angesprochen werden. Zum anderen geht es aber auch darum, dass es zu einer beschleunigten Reflexivität der Prozesse kommt. Digitale Analysen werden digital geteilt und in digitalen Designentscheidungen verarbeitet, die dann wieder neue Analysen begründen können. Beide Leerstellen sollen hier zu Beginn noch etwas näher beleuchtet werden, da daraus Folgerungen entstehen, die auch den engeren Fokus des hier diskutierten Sammelbandes treffen.

Die Idee einer „forensischen Soziologie“ (McFarland et al. 2016) schließt an die Vorgehensweisen der kriminalistischen Forensik an. Hier wird ein Vorgehen vorgeschlagen, das Spuren unterschiedlichster Art zu einer Schlussfolgerung integriert. Dieses Vorgehen wird immer nötiger, wenn die überwiegende Mehrheit an Daten nicht mehr von den Sozialwissenschaftlern, wie in Surveys oder auch Feldbeobachtungen, selbst kreiert wird. Durch den Überschuss der in den neuen Medien produzierten Echtzeitdaten geht es nicht mehr darum, für eine spezifische Forschungsfrage genau die richtigen Daten zu erzeugen, sondern es geht darum, Daten, die für unterschiedlichste Zwecke erzeugt worden sind, zu nutzen, um in ihnen Spuren zu finden, die dabei helfen, eine Forschungsfrage zu beantworten. Die meisten Daten über soziale Prozesse werden eben nicht von Sozialwissenschaftlern für sozialwissenschaftliche Fragestellungen erzeugt, sondern entstehen nun als Nebenprodukte einer digitalisierten sozialen Praxis. Wenn aber die Datenerzeugung der sozialwissenschaftlichen Kontrolle entzogen ist, dann müssen an anderer Stelle Qualitätsprüfungen eingezogen werden, die eben eher denen eines Spurensuchers entsprechen, der Indizien sammelt, um zu einer belegten Schlussfolgerung zu gelangen. Das zweite Merkmal ist die andere Seite der Digitalisierung. Hier ist damit zu rechnen, dass sozialwissenschaftliche Konzepte, Instrumente und Ergebnisse direkt in digitale Technologien implementiert werden und es so zu schwer kontrollierenden Feedbackprozessen, vor allem selbsterfüllenden und selbstzerstörenden Prophezeiungen, kommt. Hinzu tritt noch die Geschwindigkeit, mit der sie in Software implementiert werden können, oder Forschung über soziale Medien, die selbst in sozialen Medien zum Gegenstand der Diskussion wird. Diese Hochgeschwindigkeits-Reflexivität ist damit auch ein neuer Aspekt, dem sich die empirische Sozialforschung im digitalen Zeitalter stellen muss. Dies bedeutet zum einen die stärkere Notwendigkeit, sich an den Implementationen zu beteiligen, und zum anderen, auch stärker innerhalb der Sozialforschung zu reflektieren, wie Ergebnisse und Konzepte das Feld beeinflussen könnten, auf das sie angewendet werden. Diese Sichtweise kommt vor allem in Arbeiten zur digitalen Soziologie aus dem Umfeld der Social Studies of Technology and Science zum Tragen (vgl. z. B. Marres 2012 und 2017).

Diese beiden Diskussionen aus dem weiteren Kontext einer Sozialwissenschaft im digitalen Zeitalter werden ausgespart und der Sammelband konzentriert sich auf den Einfluss von Digitalität auf die im eigentlichen Sinne klassische sozialwissenschaftliche Datenerhebung. Es geht also darum, digitale Möglichkeiten für die Datenerhebung nutzbar zu machen. Dabei wird schnell deutlich, dass in den Einzelbeiträgen der Fokus noch weiter verengt wird. Es sind insbesondere der Einsatz mobiler Geräte und online-basierte Surveys. Die Hervorhebung mobiler Endgeräte ermöglicht natürlich eine ganze Reihe von einfachen Zusatzdaten, etwa Geo-Daten, oder erhöht die Erreichbarkeit von Gruppen, die bislang eher schwierig für Surveys zu erreichen waren. Auch für den Online-Survey ist die Erreichbarkeit und die Vereinfachung des Erhebungsprozesses sowohl für den Sozialwissenschaftler als auch für den Nutzer relevant. Das Verhältnis zwischen mobilen Geräten und Online-Surveys wird aber nur gestreift, etwa wenn die geringere Bildschirmgröße der mobilen Endgeräte thematisiert wird (Beitrag von Alexander Wenz S. 101–121). Trotzdem ergibt sich aus den Beiträgen ein umfangreiches Bild der spezifischen Chancen und Herausforderungen, die mobile Endgeräte und Online-Surveys aus der Sicht von Forschern bieten, die klassische empirische Sozialforschung vermittelt über diese digitalen Möglichkeiten durchführen möchten.

Wenn wir uns zunächst den Chancen zuwenden, wird schnell deutlich, dass Erreichbarkeit und Bequemlichkeit hier im Vordergrund stehen. Ganz im Einklang mit der breiteren Beobachtung, dass die massenhafte digitale Datensammlung manche Probleme der Datenerhebung lösen kann, ist die Vergrößerung der Reichweite klassischer Surveys eine wichtige Dimension der Digitalisierung für die Sozialwissenschaften. Dies kann Digitalisierung unterstützen, indem es den Zugang erstens erleichtert, zweitens Zugang verbreitert und drittens Antwortende verfügbarer macht. In allen drei Dimensionen kann man der Digitalisierung einen unterstützenden Effekt zusprechen, der sich durch die Beiträge zieht. Gleichzeitig muss man jedoch auch auf die Herausforderungen eingehen, die eine klassisch ansetzende empirische Sozialforschung hier beobachtet. Da ist zum einen das Thema der Verzerrung der Repräsentativität der Daten, wenn sie in einem digitalen Umfeld erhoben werden. Es muss sichergestellt werden, dass Personen aus der Gesamtbevölkerung vertreten sind, die online nicht verfügbar sind. Zum anderen muss man auf die mediale Konstruktion dieser Umgebungen eingehen und Veränderungen am Design vornehmen, um die Zugänglichkeitsgewinne zu realisieren. Abschließend kann man konstatieren, dass mit dem Sammelband Schritte unternommen werden, aus der Perspektive der empirischen Sozialforschung die Digitalisierung aufzunehmen und die zur Verfügung stehenden Instrumente weiterzuentwickeln. Es wird aber aus meiner Sicht dafür ein zu enger Fokus gewählt, der dem Label „Digitales Zeitalter“ nicht wirklich gerecht wird, da sich dieses nicht auf die Nutzung von Smartphones und Online-Surveys reduzieren lässt. Wann immer Sozialforschung und digitale Gesellschaft zusammen diskutiert werden, sollte eine Metareflexion über das eigene Fach und seine Untersuchungsmethoden mitgeführt werden, die von dieser Transformation der Gesellschaft ebenso betroffen sind wie andere Bereiche und auch eine Metareflexion zum Verhältnis zu den aufkommenden Computational Social Sciences mit ihrer stark informatisch geprägten Ausrichtung und wie man sich zu ihnen verhält. Beides wird im vorliegenden Sammelband aus meiner Sicht nicht ausreichend berücksichtigt und diskutiert.