FormalPara Holderberg, Per, und Christian Seipel (Hrsg.):

Der wissenschaftliche Mittelbau – Arbeit, Hochschule, Demokratie. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2021. 357 Seiten. ISBN: 978-3-7799-6262‑5. Preis: € 19,95.

Der von Per Holderberg und Christian Seipel herausgegebene Sammelband „Der wissenschaftliche Mittelbau – Arbeit, Hochschule, Demokratie“ könnte im Kontext der Twitter-Diskussionen von #95vsWissZeitVG und #IchBinHanna kaum aktueller sein. So fügt sich ihr im Frühjahr 2021 erschienener Band hervorragend in die gegenwärtige Debatte ein, wenn sie schreiben: „Dass sich viele Mitglieder des Mittelbaus mit der derzeitigen Lage und der Entwicklung an den Hochschulen nicht abfinden wollen, zeigt sich auch in dem Widerstand und der Kritik dieser Statusgruppe an den bestehenden Verhältnissen“ (S. 17).

Der Sammelband beginnt mit einer informativen sowie reflexiven Einleitung der Herausgeber über „die prekäre Beschäftigungs- und Karrieresituation des wissenschaftlichen Mittelbaus in Deutschland“ (S. 8), welche bestens in die Thematik einführt und im Anschluss daran die jeweiligen Beiträge kurz darstellt. Ziel des Bandes ist es, in Zeiten des akademischen Kapitalismus und des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes sowohl Ursachen als auch Effekte des „Befristungswahnsinns sowie die außerordentlichen Leistungen des wissenschaftlichen Mittelbaus“ (S. 16) herauszuarbeiten und seine Lage „theoretisch zu erfassen und empirisch zu analysieren“ (S. 17). Dazu unterteilen die Herausgeber die Beiträge in drei thematische Schwerpunkte: Im ersten Teil, „Arbeitswelt Hochschule im Wandel“, werden vornehmlich makrostrukturelle Veränderungen betrachtet. Im zweiten Teil stehen die „Arbeitsbedingungen an Hochschulen“ im Fokus, insbesondere welche Auswirkungen die zuvor herausgearbeiteten Veränderungen bei den Hochschulmitarbeiterinnen und -mitarbeitern hinterlassen haben. Der dritte Teil des Bandes beschäftigt sich mit „Demokratie an Hochschulen“. Hier geht es vor allem um die Frage der politischen Mitbestimmung, um die Gestaltung des Arbeitsrechts, die Arbeit der Gewerkschaften sowie um das 2017 gegründete Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft.

Zu Beginn des ersten Themenfeldes findet sich ein Wiederabdruck eines Aufsatzes von Richard Münch aus dem Jahr 2016, welcher aktueller denn je erscheint. In gewohnter Manier übt er scharfe Kritik am globalen „akademischen Shareholder Kapitalismus“, welcher sich in Deutschland mit den Nachteilen feudaler Lehrstuhlstrukturen verbinde und durch einen sich ausweitenden Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit symbolische sowie materielle Gewinne auf dem Rücken des akademischen Proletariats erziele. Münch betrachtet das Narrativ von „mangelnder Accountability“ als eine „neoliberale Konstruktion“ und sieht das „angebliche Knappheitsproblem“ der Hochschulen stattdessen als ein Verteilungsproblem (S. 50), wodurch das deutsche Hochschulsystem an Vielfalt, Kreativität und Erkenntnisfortschritt verliere. Tilman Reitz analysiert und erklärt mithilfe einer historischen Analogie, nämlich der Beschreibung vom Übergang von der Feudal- zur Hofordnung, die neu entstandene Prestigekonkurrenz im Wissenschaftssystem in Anlehnung an Norbert Elias’ Analyse der höfischen Gesellschaft. Er ergänzt damit den akademischen Kapitalismus um „eine Analyse der Machtverhältnisse im akademischen Neofeudalismus“ (S. 62). Axel Oberschelp zeichnet in seinem Beitrag die historische Entwicklung der Hochschulgovernance in Deutschland nach, vom Wiederaufbau der Universität durch die Besatzungsmächte bis zu den Reformen unter New Public Management, und bezieht dabei die DDR sowie die Situation nach der Wiedervereinigung mit ein. Sehr lesenswert ist auch der Beitrag von Yoshiro Nakamura, in welchem die unerwünschten Effekte der leistungsorientierten Mittelvergabe am Beispiel Niedersachsens thematisiert werden. So habe dieses „kompetitive Top-Down-Steuerungsinstrument“ nicht nur zu „einer tiefgreifenden Veränderung der Wertehierarchie“ geführt (S. 108, 121), sondern entfalte auch eine „durchschlagende Wirkung“ (S. 111), da der Druck innerhalb der Hochschulen von der Leitung direkt auf das wissenschaftliche Personal weitergegeben werde. Neben der Prekarisierung des Mittelbaus stellt er eine „Entdemokratisierungsdynamik“ heraus, da bei der Verabschiedung der leistungsorientierten Mittelvergabe weder Studierende noch wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einbezogen wurden. Den letzten Beitrag des ersten Themenspektrums steuert Nicola Hericks bei, in welchem sie den Bologna-Prozess nachzeichnet und seine Folgen für die Lehr- und Studienorganisation aufzeigt.

Der zweite Themenbereich, „Arbeitsbedingungen an Hochschulen“, beginnt mit dem Beitrag von Jens Ambrasat, in welchem er auf Basis der Wissenschaftsbefragung 2019/20 die prekäre Arbeitssituation des wissenschaftlichen Mittelbaus beschreibt. Er verdeutlicht, dass es sich bei dem Arbeitsmarkt Wissenschaft um einen Nachfragemarkt handelt, der eine „Up-or-Out Karrierestruktur“ aufweist, welche einen „Wettbewerbs- und Ausbeutungsmechanismus“ (S. 154) angestoßen hat. Im Anschluss vergleicht Karin Zimmermann die universitären Personal- und Karrierestrukturen des deutschen Hochschulsystems auf internationaler Ebene und charakterisiert die deutsche Universität als eine „Professorenuniversität mit Karriereoption ohne Karrierecharakter“ (S. 179). Während sich in den USA oder Frankreich Karrierestufen unterhalb der Professur finden, auf denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbstständig und unbefristet forschen und lehren können, fehlen diese in Deutschland fast vollständig. In Anlehnung an Webers Konzept der Lebensführung (1920) untersucht Maria Keil die „Wissenschaftliche Lebensführung – Zwischen kulturellem Eigensinn und fremdgeführter Lebenspraxis“ und fragt, was diese trotz der hohen Stellenunsicherheit so attraktiv macht, dass eine Entgrenzung der Arbeit in Kauf genommen wird. Obwohl sich ein kultureller Eigenwert in der wissenschaftlichen Lebensführung findet, lässt diese nur „wenig Raum für eigensinnige Handlungsstrategien, da diese schnell zur Exklusion aus dem Feld führen“ (S. 215). So wirft Keil abschließend die Frage in den Raum, was in Zeiten zunehmender Ökonomisierung der Wissenschaft von ihrem kulturellen Eigenwert bleibt. Peter-Paul Bänziger und Florian Kappeler zeigen in ihrem Beitrag, wie die bereits seit Jahren bestehenden Nachteile des Mittelbaus durch die Coronapandemie verstärkt wurden und machen deutlich, dass bereits der „Normalzustand“ ein Ausnahmezustand gewesen ist, welcher durch die Krise lediglich sichtbar(er) wurde. Sie monieren, dass Hochschulleitungen die Krise vor allem als Möglichkeit zur Rationalisierung sowie der Optimierung der Kostenstruktur wahrgenommen haben, jedoch die daraus resultierenden Gewinne ungleich verteilt werden. Eine Normalisierung kann ihrer Ansicht nach nur durch regelhafte Entfristung erreicht werden.

Im dritten Teil des Bandes, der sich der „Demokratie an Hochschulen“ widmet, beschreibt Andreas Keller die 2010 von der GEW ins Leben gerufene Kampagne „Traumjob Wissenschaft“, welche „dauerhafte Stellen für dauerhafte Aufgaben“ fordert. Trotz der Sichtbarkeit auf der wissenschaftspolitischen Agenda und einer leichten Verlängerung von Vertragslaufzeiten beschreibt er, wie Kurzzeit- sowie Kettenverträge nach wie vor Standard an der Hochschule sind. Peter Ullrich folgend ist es die „Struktur der Beschäftigungssituation selbst und die durch sie hervorgebrachte ‚prekäre Mobilität‘, die kollektive Interessensartikulation immens erschwert“ (S. 263). Im Anschluss an Pierre Bourdieu verdeutlicht er, dass die Herausbildung einer kollektiven Identität in einer Feldstruktur, die durch Konkurrenz und Vereinzelung geprägt ist (S. 269 f.), schwierig erscheint. Er beschreibt die Initiativen des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft, welches sich seit seiner Gründung 2017 insbesondere für die Abschaffung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes sowie des Lehrstuhlprinzips zugunsten demokratischer Departmentstrukturen engagiert. Christian Seipel und Per Holderberg zeichnen in ihrem Beitrag die Genese der betrieblichen Mitbestimmung beginnend bei der Ordinarienuniversität nach, um dann auf Basis aktueller Daten zu eruieren, „wie es um die Mitbestimmung und die Selbstverwaltung in der gemanagten Hochschule bestellt ist“ (S. 285). Sie zeigen, dass der Mittelbau über sehr eingeschränkte demokratische Beteiligungsrechte in der Mitbestimmung verfügt, wodurch seine Abhängigkeitsverhältnisse reproduziert werden. Rüdiger Helm und Peter Müßig betrachten befristete Beschäftigung und die damit einhergehende hohe Unsicherheit aus Perspektive des Arbeitsschutzrechts und zeigen auf, welche Gesundheitsgefährdungen damit verbunden sind. Der Band schließt mit einem Beitrag von David Salomon, der die „Politisierung der Wissenschaft“ diskutiert und für eine erneuerte Idee der Universität plädiert.

Die Stärke des Bandes liegt vor allem in seiner multiperspektivischen Betrachtung der Missstände des akademischen Mittelbaus. So gelingt es den Herausgebern hervorragend, sowohl Beiträge unterschiedlicher „Lager“ zu versammeln als auch Stimmen aus der Praxis zu Wort kommen zu lassen. Zudem werden nicht nur theoretische und empirische Betrachtungen herangezogen, denn der Sammelband bietet seinen Leserinnen und Lesern ferner einen sehr gelungenen Überblick über die aktuelle Lage des wissenschaftlichen Mittelbaus und fundierte historische Entwicklungen der Thematik. Insgesamt gehen die Beiträge über die subjektive Perspektive hinaus und zeigen, dass insbesondere Macht- und Feldmechanismen am Werk sind. Darüber hinaus werden konstruktive und vielfältige Lösungsvorschläge in die Diskussion eingebracht, die allerdings bisher kein Gehör gefunden haben. Doch #IchBinHanna und die daraus entstandenen Diskussionen und Initiativen lassen hoffen.