FormalPara Scraton, Paul:

Am Rand um ganz Berlin (Originaltitel: Berlin Outskirts; aus dem Englischen von Ulrike Kretschmer). Berlin: Matthes & Seitz 2020. 207 Seiten. ISBN 978-3-95757-843‑3. Preis: € 22,–.

Dieser Bericht über eine 180 km lange Wanderung durch und um Berlin ist ein Glücksfall: in Anbetracht einer überbordenden Flut an beliebigen Berlin-Reiseführern, vor allem aber für die Stadtsoziologie. Schon im Titel zitiert Paul Scraton ein großes Thema der Stadtsoziologie: die (vergessenen) Randgebiete einer Stadt. Im Rhythmus und der Geschwindigkeit des Wanderns offenbaren sich ihm die eigentümliche Schönheit, Wildheit und Hörbarkeit von Wohnsiedlungen, Gewerbegebieten, Müllhalden, Kliniken, Einkaufszentren, Autobahnkreuzen, Golfplätzen und Kleingärten am Rande Berlins.

Damit folgt Scraton der im Begriff „Edgelands“ eingeschriebenen Perspektive, wie sie z. B. Shoards (in J. Jenkins, Remaking the Landscape, Profile Books 2002) oder Farleys und Symmons Roberts (Edgelands, Vintage 2012) fast poetisch zelebrieren. Sein Buch kippt aber nicht in eine Müllhalden-Romantik um, sondern schreitet mit analytischer Schärfe vorwärts. Thomas Sieverts Topos Zwischenstadt (Birkhäuser 1997) gibt das Ziel der Wanderung vor: der „Ort, der weder Stadt noch Land ist, aber dennoch ein Ort […] mit eigener Geschichte“ (S. 11). Diese Geschichte, diese Geschichten aus den verschiedenen Randgebieten, Zwischenstädten, Grenzgebieten und Stadtteilen am Rande Berlins sind es, die sich Scraton in ihrer Besonderheit und ihrem Bezug zur „Stadt“ erschließen will.

Gleich zu Beginn seiner Wanderung nennt Scraton unverblümt einen Grund, warum die Peripherie, die Edgelands meist negativ konnotiert waren. Dort finden sich das Ausrangierte und Weggeworfene, die Gefängnisse, die Psychiatrie. Nicht selten war es Aufgabe des Randes, den Unrat der Stadt aufzunehmen: in Müllhalden und Kläranlagen. Ein Teil des Nordens von Berlin war ein Netzwerk von Rieselfeldern und musste ab Mitte des 19. Jahrhunderts „viel Scheiße aushalten“ (S. 29). Fast schon eine Ironie, dass Teile dieses Nordens, wie die Karower Teiche, heute Naturschutzgebiet sind und in ihrer Ruhe, Friedfertigkeit und Schönheit tatsächlich Edgeland-Romantik verkörpern. Eine andere, nicht minder dynamische Entwicklung erwandert sich Scraton im Süden Berlins, wo sich gewissermaßen Sieverts Zwischenstadt im ständigen Wandel neu hervorbringt. Füllten sich die Lücken zwischen „Stadt“ und „Land“ zunächst mit Einfamilienhäusern, Krankenhäusern, Lagerhallen, Supermärkten, getadelt wegen ihrer Langeweile, Hässlichkeit und ihres Konformismus, betont Scraton nun deren Anziehungskraft, zum Beispiel aufgrund günstigerer Mieten, aber auch aufgrund ihrer mittlerweile gestiegenen Wohnqualität.

Ein noch bemerkenswerterer Wandel der Berliner Edgelands und ein schlagendes Argument für das Wandern zeigt sich im körperlich erlebten Wechselbad zwischen einzelnen Stadtteilen. Der Autor fühlt sich fast bedroht, als er durch das an den äußersten Rand der Stadt gedrängte, durch Langzeitarbeitslosigkeit, Kriminalität und Drogenmissbrauch gekennzeichnete, ehemals ostdeutsche Kosmosviertel geht. Abrupt ist dann der Übergang in den nebenan gelegenen „Landschaftspark“ Rudow-Altglienicke: eigentlich auch eine Zwischenstadt im ehemaligen Todesstreifen, nun aber ganz modern mit Feuchtgebieten, neuerdings sogar mit grasenden Wasserbüffeln. Gegensätzlichkeit und Ungleichzeitigkeit städtischer Randgebiete können kaum besser zum Ausdruck kommen.

Hier übrigens zeigt der Autor in einer methodisch bemerkenswerten Selbstreflexion, wie Vorurteile über das Kosmosviertel seine wichtigsten Mittel der Erkundung – Langsamkeit und Offenheit – korrumpieren. Eingeschüchtert durch den schlechten Ruf des Kosmosviertels eilt er, gewissermaßen mit heruntergelassenem Visier, durch dessen Straßen. Erst im ökologisch korrekten Landschaftspark findet er wieder zu seinem Wanderrhythmus und seiner Offenheit zurück. Gleich noch einmal kommt es zu einem Wechselbad, diesmal im historischen Umschlag der Gropiusstadt, die der Autor mit Christiane F. im Kopf besucht („nur Pisse und Kacke“). Hier aber gelingt ihm ein langsamerer Gang und das Gespräch mit Einwohnern, die ihm z. B. darüber berichten, wie ruhig heute das Viertel sei und „nicht so dreckig wie im Zentrum“ (S. 89).

Natürlich bezieht der zentrale Begriff Rand (oder Edgeland oder Grenze) einen zusätzlichen Reiz aus der doppelten Grenze, die Berlin auszeichnet(e) und die uns auch heute in sehr unterschiedlicher Weise entgegentritt: im schon erwähnten Kontrast von Kosmosviertel und Altglienicke oder wenn Scraton zum Beispiel die Großraumsiedlung Gropiusstadt in Richtung Brandenburg verlässt und Buckow betritt, wo sich eine neue Vorstadt an die Unterseite Berlins „wie eine Muschel an einen Schiffsrumpf“ heftet (S. 91). Auch ohne Beton und Stacheldraht macht sich die Grenze bemerkbar: durch die dort mit Schlaglöchern übersäten Straßen Berlins mit Einfamilienhäusern aus der Mitte des 20. Jahrhunderts und den neuen Straßen Brandenburgs nebenan mit adretten und seltsam gleichförmigen Häusern.

Paul Scraton ist Schriftsteller, der seit zwanzig Jahren in Berlin lebt. Er attackiert mit diesem Buch die traditionelle Sicht der Peripherie, die oft genug als Amerikanisierung der europäischen Kulturhauptstadt gebrandmarkt wurde. Diese Stigmatisierung hat treffend Christ im Deutschen Architektenblatt (9/1997) vor 25 Jahren beschrieben. Seine Ansätze zu einem „kultivierten Raum in der Zwischenstadt“ sind gewissermaßen die Leitplanken für Scratons Berliner Umrundung. Den Just-in-time-Verbindungen der Peripherie für Handel und Industrie möchten Christ und Scraton ein Erschließungsnetz von Fuß- und Radwegen entgegensetzen, die den Raum physisch erlebbar machen. Solange dieses Netz nicht existiert, wird man es sich selbst erschaffen müssen – immer in der Gefahr, im „dead end“ zu landen, wie es Scraton am neuen Flughafen ergeht: kein Ort für Fußgänger.

Der Autor eines Reisebuchs erhebt natürlich nicht in wissenschaftlich-systematischer Weise Daten über die Stadt, aber Scraton wandert gewissermaßen methodisch. In Anlehnung an Gabriele Sturm (im Handbuch Stadtsoziologie und Stadtentwicklung, Nomos 2020), könnte man seine Methode als Stadtethnologie oder „Spaziergangswissenschaft“ bezeichnen: ein „walking along“ nicht zur systematischen Erhebung, aber doch zum Verständnis alltäglicher Raumproduktionen. Es ist gerade das Wandern, das die Bedeutung von Stadt und Landschaft erschließt – letztlich nicht anders, als es Theodor Fontane für die Mark Brandenburg machte. Anders aber als zu dessen Zeit, wird der Spaziergänger heute zum „Politikum“, vor allem an Orten, an denen es keine Fußwege (mehr) gibt. So ist das Buch auch ein Plädoyer für gleichberechtigten Zugang und freie Fortbewegung für Spaziergänger, um leibhaftig zu verstehen, „wie gebaut wird, zu welchem Zweck und mit welchen Mitteln“ (S. 78).

Susanne Frank hat im gerade erschienenen Handbuch Stadtsoziologie und Stadtentwicklung (Nomos 2020) der Peripherie ein eigenes Kapitel gewidmet und dabei die zunehmende Hilflosigkeit und Unschärfe der Begriffe Urbanismus und Suburbanismus verdeutlicht. Die Unschärfe, könnte man mit Scraton sagen, resultiert nicht allein aus der Kategorie, sondern aus der großen Varianz, die er in den Randgebieten erlebt: im Kontrast von Kosmosviertel und Gropiusstadt, an den vielen Grenzen zwischen Ost und West, in den großen Veränderungen an der Peripherie, in den kleinen und großen Geschichten der Stadtteile. Sein Rundgang um Berlin zeigt ihm die Abhängigkeit der Ränder von der „Stadt“ und die Orientierung an ihr, besonders in den Stadtvierteln im Süden: überall „blinkt der Fernsehturm“ (S. 93). Genauso aber erfährt er den Rand als eigenes, stolzes Gravitationszentrum, am deutlichsten in Spandau, das selbst noch einen „eigenen Stadtrand“ besitzt. Gibt man in die Suchmaschine „Spandau ist …?“ ein, vervollständigt das aufpoppende Fenster gleich an zweiter Stelle: „… nicht Berlin“ (S. 180) – Beispiele, wie sich die Randzone von der Stadt befreit. Oder in Susanne Franks Worten: Neue Peripherien und neue Zentren finden sich überall, letztere auch in den suburbanen Räumen.

Ein Reisebericht ist keine soziologische Forschung, selbst wenn der Wanderer kluge soziologische Klassiker im Gepäck hat, aber von Paul Scraton können wir wieder einmal lernen, dass ein aufmerksam-empathischer Blick – ebenso ein offenes Ohr – und die kritische Reflexion wichtiges Rüstzeug (nicht nur) für die empirische Stadtsoziologie sind. Aber auch andersherum stimmt es in diesem Glücksfall: soziologische Methoden, Einsichten und Kategorien können touristische Erkundungen anleiten, strukturieren, zu einem Reiseabenteuer werden lassen.