FormalPara Riekenberg, Michael:

Gewalt. Eine Ontologie. Frankfurt a. M., New York: Campus Verlag 2019. 164 Seiten. ISBN: 978-3-593-50984‑6. Preis: € 29,95.

Schon 1997 kritisierte Trutz von Trotha in seinem Urtext der neueren Gewaltsoziologie den „ungenügenden Stand der Gewaltforschung“. Wie gemeinhin bekannt, schlug von Trotha in dieser Zeitschrift eine Abkehr von den Ursachen und eine Hinwendung zur Gewalt selbst vor. Seine Anregungen haben das Feld nachhaltig geprägt, aber einige Erwartungen blieben unerfüllt. Insbesondere wird kritisiert, dass Gewalt theoretisch weiterhin nicht ausreichend reflektiert werde. In diese Lücke stößt Michael Riekenbergs 2019 erschienenes Buch „Gewalt. Eine Ontologie“, das sich zum Ziel gesetzt hat, unser theoretisches Verständnis von Gewaltphänomenen unter Rückgriff auf die ontologische Anthropologie zu stärken.

Seit den 1980er-Jahren befasst sich der Leipziger Professor für Vergleichende Geschichtswissenschaft und Geschichte Lateinamerikas mit Gewalt. In seinen Schriften setzt sich Riekenberg mit der einschlägigen Literatur kritisch auseinander. Schon seine vielbeachtete Studie „Staatsferne Gewalt. Eine Geschichte Lateinamerikas (1500–1930)“ von 2014 war ein Plädoyer für eine stärkere Kontextualisierung und Ausdifferenzierung von Gewaltverhältnissen. Hieran knüpft der Autor nun an und schlägt, wie auch in seinem früheren Werk – siehe beispielsweise seinen Sammelband „Zur Gewaltsoziologie von Georges Bataille“ (2012) –, vor, weniger prominente Stimmen für die Gewaltforschung nutzbar zu machen, im vorliegenden Fall die französischen und brasilianischen „Amazoniker“ wie Philippe Descola und Eduardo Viveiros de Castro.

Riekenbergs Essay versteht sich als „Beitrag zu einer Soziologie der Gewalt“ (S. 7), aber geht aufgrund seiner Interdisziplinarität weit über eine rein gewaltsoziologische Abhandlung hinaus. Er kritisiert, dass die neuere Gewaltsoziologie theoretisch begrenzt bliebe und dass auch methodisch durchaus Weiterentwicklungsbedarf bestehe. So argumentiert er, dass „ein Mehr an Kontextualisierung, nicht zuletzt auch an Theoriebildung“ notwendig sei, „um nicht im bloßen Anblick der Gewalt zu verharren“ (S. 13). Sein erklärtes Ziel ist es demnach, „die Gewaltsoziologie über die engere Tat und die ‚dichte‘ Betrachtung der Gewaltsituation hinaus in ein neues analytisches Feld einzugliedern“ (S. 13) – mit dem Ziel, Kategorien herauszuarbeiten und eine Gewalttheorie zu skizzieren.

Mit dem Anthropologen Philippe Descola versteht Riekenberg Gewalt als „Strukturtatsache“. Trotz seines Interesses an Beziehungen und Verfahren weist er darauf hin, dass Gewalt kein universell gültiges Handlungsmuster sei; vielmehr gelte es, Gewalt in kulturelle und historische Kontexte einzubetten. Dabei bewertet oder hierarchisiert der Autor nicht, seine Herangehensweise ist keine normative. Auch zielt er nicht auf eine universell gültige theoretische Definition von Gewalt ab, sondern mehr auf einen dezentrierten, aber sich dennoch nicht in mikrosoziologischer Kleinteiligkeit verlierenden Zugang zu Gewalt.

Im zweiten Kapitel zeigt Riekenberg, dass Gewalt in den „amazonischen Kollektiven“ nicht primär „Machtbeziehung“ sei, sondern sich vielmehr an „Balance und Symmetrie“ (S. 23) ausrichte. Gewalt sei dort also „determiniert, weil sie ihren Zweck nicht in sich selbst findet, sondern auf übergeordnete Ordnungen verweist und von dort her ihre Struktur wie Bedeutung erhält“ (S. 25). Hieraus leitet der Autor ab, dass beim Sprechen über Gewalt weitere Ordnungen – dezidiert hier im Plural – berücksichtigt werden müssten. Riekenberg kritisiert somit, dass gängige Wissenschaftsvorstellungen einer distanzierten Beobachtung und Auseinandersetzung mit einem Forschungsgegenstand solche komplexen Einbettungen von Gewalt in weitere Ordnungssysteme nicht erfassen könnten. Er plädiert daher auch für die Rückkehr der Gewaltsoziologie in die allgemeine Soziologie, ein Bestreben, das im deutschsprachigen Raum bereits angeregt und mitunter angegangen wurde. Ob sein enger, auf die körperliche Dimension abzielender Gewaltbegriff diesem Vorhaben zuträglich ist, ist fraglich; Gewaltsoziologinnen und -soziologen haben in den letzten Jahren immer wieder über Nutzen und Grenzen eines weiter gefassten Begriffs diskutiert. In Riekenbergs Band selbst zeigt sich an einigen Stellen, dass Körperlichkeit ohne einen Zugang über Sprache und Psyche gerade bei dem von ihm vertretenen analytischen Fokus kaum denkbar ist.

Riekenberg macht deutlich, dass ihn weniger die Differenz der Gewaltereignisse interessiert, sondern mehr die durch den Vergleich erwartete „Schärfung unseres methodischen Wissens, und dass wir Gewalt in der Zusammenschau betrachten sollten“ (S. 28, Herv. im Original). Als Scharnierbegriff schlägt er die Ontologie vor. Hier stützt sich der Autor auf die Kategorien, die Descola in „Jenseits von Kultur und Natur“ (2011) verhandelt, nämlich Animismus, Naturalismus, Analogismus und Totemismus. Aus Riekenbergs Sicht lassen sich durch eine Analyse der (Selbst‑)Verortung des Menschen „im Natur-Kultur Kontinuum“ die verschiedenen „ontologischen Figuren der Gewalt herleiten“ (S. 48). So sei Gewalt im Animismus „Teil eines Gefühlsausdrucks“ (S. 50), im Naturalismus „Kommunikation“ (S. 51) und im Analogismus „ein Modell“ (S. 57). Vor diesem Hintergrund diskutiert Riekenberg dann in Kapitel 5 die Mythen der Gewalt und ihre Rolle bei ihrer Ausübung und nimmt in Kapitel 6 kritisch Stellung zum Gewaltraumbegriff, dem er als „eher blasses Konstrukt“ (S. 67 f.) den theoretischen Nutzen tendenziell absprechen würde.

In Kapitel 7 setzt sich der Autor mit den „sozialen Organisationsformen, in denen Gewalt geschieht“ (S. 77) auseinander. In einer Diskussion von „Aneignung und Schutzversprechen“ (S. 80) macht der Autor klar, dass Staatlichkeit auch existieren kann, wenn das Monopol der Gewalt fragil bleibt, und analysiert dies in der Dimension des Krieges (historische Betrachtungsweise) und des Raubes (Betrachtungsweise der ontologischen Anthropologie) mit Tilly und Descola. Im achten Kapitel schließt er aus dem Blickwinkel des Perspektivismus eine Auseinandersetzung mit Verfahren der Gewalt an und geht hier insbesondere auf die Rolle der Mimesis bei der Entstehung von Gewalt ein, eine der zentralen Kategorien, die von der ontologischen Anthropologie übertragen werden könne in das Feld der Gewaltforschung.

Darüber hinaus testet Riekenberg die Reisefähigkeit ontologischer Figuren. Zunächst wählt er hierzu einen synchronen und dann im neunten Kapitel einen diachronen Zugriff, der die Leserschaft vom amazonischen Regenwald zum Frankreich Robespierres und in heutige urbane Räume führt. In den darauffolgenden Kapiteln beleuchtet der Autor weitere Themenkomplexe, wie die Metamorphose als Deutungsmuster der Gewalt (Kapitel 10), die Furcht und die damit verbundene Frage, wie Menschen Gewalt für sich möglich machen – hierbei nochmals betonend, wie stark Gewaltakte von den jeweiligen Kosmologieformen abhängen, in die Menschen eingebettet sind (Kapitel 11), – sowie Fragen von Staatlichkeit und Bürgerkrieg (Kapitel 12 und 13). Er schließt mit theoretischen Überlegungen ab (Kapitel 14 und 15), indem er unter anderem für eine stärkere Rückbindung des Gewaltbegriffs an den Tod plädiert und ausführlich die Relevanz der Beziehung des Selbst mit dem Anderen für Gewaltphänomene bespricht.

Am Ende dieser veritablen Tour de Force haben die Leserinnen und Leser zwar keine stringent ausformulierte Gewalttheorie in der Hand, aber Riekenberg löst durchaus sein Versprechen ein, Wege hin zu einer theoretischen Weiterentwicklung der Gewaltforschung aufzuzeigen. Der Autor leistet einen originellen Beitrag zur gewaltsoziologischen Debatte, der einen dezentrierteren Zugang zur Komplexität und Multidimensionalität von Gewalt erlaubt. Seine Kritik an der Gewaltforschung ist pointiert und regt zum Nachdenken an, auch wenn an mancher Stelle eine detailliertere Auseinandersetzung mit den kritisierten Ansätzen wünschenswert gewesen wäre. Sein Essay bleibt insgesamt – in produktivem Sinne – unabgeschlossen: Einem Mosaik gleich, bietet er Gewaltforschenden reichhaltige Konzepte und Ideen, denen man nicht immer zustimmen muss, die aber zweifelsohne unzählige Anknüpfungspunkte für eine empirisch ausdifferenzierte und theoriegenerierende Gewaltforschung bieten.