FormalPara Röwer, Anne:

Das entwertete Selbst. Über Arbeit und Anerkennung. Frankfurt a. M.: Campus 2020. 530 Seiten. ISBN: 978-3-593-51223‑5. Preis: € 39,95.

Dass Arbeitsmüdigkeit dem menschlichen Wesen nicht im Sinne einer anthropologischen Tatsache eingeschrieben ist, sondern dass das menschliche Verhältnis zur Arbeit strukturell bedingt und kulturell formiert ist, gehört zu den zentralen Einsichten der Arbeits- und Industriesoziologie. So erscheinen Arbeitsunmut und Erschöpfung als psycho-emotionale und subjektivierende Effekte der polit-ökonomischen Ordnung einer Gesellschaft, ihres Arbeitsmarktes, des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements und der hierin institutionalisierten kulturellen Wertordnung.

Diese sozialtheoretische Annahme macht sich Anne Röwer in ihrer Dissertationsschrift Das entwertete Selbst zu eigen: Belastungserfahrungen lassen sich als Entwertungen deuten, die auf der Ebene des Subjekts eine „neue“ Anerkennungskultur der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft reflektieren. Diese Entwertungserfahrungen beschränken sich keineswegs auf die Erwerbslosigkeit, sondern sind, wie Röwer diagnostiziert, kennzeichnend für das Leben in der postindustriellen Arbeitsgesellschaft en gros. Damit erinnert die Studie in ihren Kernannahmen an Adornos Rede vom „Gespenst der technologischen Arbeitslosigkeit“ (Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, 2019, S. 11). Erblickte Adorno dieses Gespenst noch am Horizont einer prosperierenden sozialen Marktwirtschaft, scheint es heute angesichts eines politisch insituierten Strukturwandels der Arbeit realsoziale Gestalt anzunehmen. Perspektiviert wird dieser Wandel von Röwer unter den Vorzeichen der Subjektivierung im Sinne der Ökonomisierung des Selbst und der Aktivierung als Marker der zeitgenössischen Arbeitsmarktpolitik (S. 387 ff.). Folglich stellt sich nicht nur die Frage, wie sich prävalente Imperative der Erwerbsarbeit institutionell materialisieren, also welche Kultur der Arbeit formiert wird, sondern wie diese von den Subjekten erfahren werden und welche Auswirkungen das auf die Gesundheit der Individuen hat. Auf Basis einer qualitativen Interviewstudie entwirft Röwer eine Typologie der Entwertung, um den arbeitsgesellschaftlich institutionalisierten Mangel an sozialer Anerkennung in seiner strukturellen wie kulturellen Konstruktion zu analysieren und die sozialpolitischen Potenziale dieser Kultur der Entwertung kritisch zu befragen.

Begreift man Gesundheit, wie Röwer notiert, als ein „normatives Ideal“ (S. 15) des Organismus und Krankheit „im Sinne einer Abweichung von einer Norm“ (S. 14), dann gilt es, diese in ihrer Gesellschaftlichkeit verstehbar zu machen. Enggeführt wird das Forschungsinteresse auf psycho-somatische Pathologien, die unter dem Oberbegriff „Stress“ subsumiert und unter Rekurs auf psychologische Modellierungen als identitätsbedrohend konzipiert werden (S. 18 ff.). Belastungserfahrungen werden hier nicht als individuelle und zu psychologisierende Schicksale gedeutet, sondern verweisen im Sinne von lebensweltlichen Pathologien auf Störungen der materiellen und kulturellen Reproduktion der spätkapitalistischen Arbeitsgesellschaft.

Analytisch wird der Konnex zwischen makrosozialen Prozessen und dem psychischen Leben der Subjekte mittels einer anerkennungstheoretischen Forschungsperspektive geschlossen. Im Anschluss an Axel Honneths sozialphilosophische Überlegungen und unter Einbezug der arbeitssoziologischen Nuancierung des Anerkennungskonzepts von Stephan Voswinkel wird auf die identitätsformierende und herrschaftslegitimatorische Funktion der Anerkennung aufmerksam gemacht (S. 78 ff., S. 467 ff.). Da in modernen Gesellschaften die Lohnarbeit den Gelderwerb der Privathaushalte sichert, als Modus der sozialen Integration politisch institutionalisiert ist und einen Sozialraum der Identitätsarbeit abbildet, ist die materielle, soziale und symbolische Anerkennung dieser eine wesentliche Vermittlungsinstanz von Selbstwert (S. 111 ff.). Besondere Virulenz entfaltet diese Konzeptualisierung dort, wo Anerkennung verwehrt und Möglichkeiten der Selbstwertgenese negiert werden.

Grundlage der Studie bilden zehn problemzentrierte Interviews mit erwerbstätigen wie erwerbslosen Personen, die unter pathologischem Stress leiden (S. 126 ff.). Die Rekonstruktion der Fallstrukturen dient zum einen der Identifikation von identitätsbedrohenden Modi der Nichtanerkennung (z. B. soziale Missachtung, kulturelle Stigmatisierung, schlechte Arbeitsorganisation, verdinglichende Praktiken, S. 147 ff.). Zum anderen werden vier Prototypen der Entwertung destilliert (S. 248–380): Die Typen „Zweifel am Selbst“ (erwerbstätig) und „Verlust des Selbst“ (erwerbslos) stehen für eine strukturell forcierte Selbstentwertung. Soziale Negation scheint selbstverschuldet. Andere Deutungslogiken werden aufgrund des zweifelsfreien Glaubens an die Legitimität der Werte der modernen Arbeitsgesellschaft „wegsubjektiviert“. Die daraus resultierenden Gefühle der Minderwertigkeit und Machtlosigkeit führen in Folge dazu, dass Ansprüche an eine „gute“ Arbeit als illegitim angesehen und selbstdisziplinierende Tendenzen freigesetzt werden. Während diese Typen ein defizitäres Selbst als ursächlich für soziale Entwertung ansehen, beziehen die Typen „Behauptung des Selbst“ (erwerbstätig) und „Kampf um das Selbst“ (erwerbslos) das Belastungserfahren auf eine defizitär gedeutete Gesellschaftsstruktur. Die Subjekte fühlen sich nicht wertlos, vielmehr stellen sich skandierende Emotionen und resignative Sentimente in Anbetracht der systemisch induzierten Deprivation ein.

Trotz des differenten Umgangs mit Formen der Entwertung ist all den skizzierten Typen die Erfahrung von Wirkungslosigkeit gemein, die ihren Widerhall in Belastungsstörungen findet. Diese gesundheitssoziologische Interpretation verbindet Röwer nicht nur mit einer Kritik an der erwerbszentrierten Anerkennungsordnung (S. 504), sondern formuliert in deren Anschluss eine sozialpolitisch virulente Schlussfolgerung, die auf die strukturreproduktiven Aspekte der Negationserfahrungen abstellt. Wo die ersten beiden Typen als Sozien der herrschenden Kultur der Anerkennung erscheinen (S. 493), da verdeutlichen die letztgenannten, dass die gegenwärtige Arbeitsgesellschaft durchaus als kritikwürdig wahrgenommen werden kann. Allerdings präformieren beide Deutungslogiken – die individualisierende wie die strukturdeterministische – ein Subjekt ohne Handlungsmacht. Gezeichnet wird so das Bild einer resignierten Gesellschaft, die die Politisierungspotenziale eines Ungerechtigkeitserfahrens wahlweise in ein individuelles Versagen oder in ein einsames Leiden an den sozialen Bedingungen übersetzt (S. 460 ff.).

Flankiert von einer Vielzahl an sozialdiagnostisch anschlussreichen Beobachtungen, legt Röwer einen empirisch fundierten Beitrag zu einer Anerkennungssoziologie der Arbeit vor, die Modi der Nichtanerkennung in ihrer gelebten Relevanz beleuchtet. Dabei wird deutlich, dass das Ausbleiben von Anerkennung in der Arbeitsgesellschaft durchaus funktional ist, wenngleich es mit hohen psycho-emotionalen Kosten für die Einzelnen verbunden ist. Aus einer gegenwartsdiagnostischen Perspektive offeriert die Arbeit somit eine Reihe von Reflexionspotenzialen – allen voran für die Wirtschafts- und Gesundheitssoziologie. Weiterhin wird eine Vielzahl an sozialtheoretischen Bezügen offenbar, etwa an die Professionssoziologie, die Soziologie der Kritik, an die Ungerechtigkeitsforschung oder an Gouvernementalitätstheorien. Und wenngleich emotionstheoretisch geschulte Leser und Leserinnen den Einbezug der soziologischen Forschung zu Gefühlen vermissen mögen, liefert das empirische Studium distinkter Gefühle der Nichtanerkennung hier einen Beitrag.

Güte wie Schwäche der Studie bildet das Sample. Wenn pathologische Deprivationserfahrungen fokussiert werden, treten Narrative eines entwerteten Selbst kristallin in Erscheinung, was eine differenzierende Analyse zulässt. Angesichts der Datenanalyse stellen sich aber Fragen bezüglich des Umgangs mit erwerbsbiografischen und sozialstrukturellen Differenzen im Sample. Und geht man von einer Normalisierung der Entwertungserfahrung aus, dann muss auch gefragt werden, wie nichtpathologische Fälle mit Nichtanerkennung umgehen? Welche sozial bedingten Deutungslogiken, welche Praktiken und Vorstellungen von (guter) Arbeit kommen hier zum Tragen? Kurz, wer Pathologien sucht, wird Pathologien finden. Zudem erschwert es die mit über 500 Seiten recht umfangreiche Schrift mit einer nicht immer nachvollziehbaren Argumentstruktur, die lebensweltlich eindrücklichen Nuancierungen der viel diskutierten Erschöpfung der Arbeitsgesellschaft zu erfassen.