FormalPara Kühl, Stefan:

Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2020. ISBN 978-3-593-51301‑0. 278 Seiten. Preis: € 22,-.

Regelmäßig erschüttern Skandale unser Vertrauen in Organisationen. Sei es Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche oder der aktuelle Wirecard-Skandal. Vor dem Hintergrund der Verwüstung, die Regelbrüche in und von Organisationen in unserer Gesellschaft hinterlassen, erscheint es angemessen, sich mit den dazugehörigen Ursachen auseinanderzusetzen. Dazu möchte Stefan Kühl mit seinem Buch einen Beitrag leisten und „grundlegende Muster der Regelverletzung in Organisationen“ freilegen. Dabei soll sowohl die wissenschaftliche Debatte zu diesem Thema als auch die Diskussion unter Praktikern und Praktikerinnen bereichert werden.

Einleitend wird die These vorangestellt, dass Regelabweichungen und Gesetzesverstöße sich primär dadurch erklären lassen, dass die Umwelt von Organisationen durch komplexe, sich widersprechende Anforderungen geprägt ist, die durch die reine Befolgung formaler Regelwerke und Gesetze von Organisationen nicht ausreichend beherrscht werden können. Aufbauend auf Luhmanns Konzept der brauchbaren Illegalität, konzentriert sich die Arbeit in den folgenden acht Kapiteln darauf, dass es sich beim Bruch mit formalen Regeln regelmäßig um funktionale Regelabweichungen handelt. Sie richtet den Blick dabei auch auf Grauzonen, in denen es schwer möglich erscheint, zwischen Funktionalität und Dysfunktionalität von Regelabweichungen zu unterscheiden.

Kapitel 1 zeigt auf, dass Organisationen zur Problembewältigung – neben bürokratischen Prinzipien – insbesondere auf informelle und persönliche Netzwerke angewiesen sind, um trotz widersprüchlicher Anforderungen der Umwelt, ihre Zwecke erfolgreich zu erfüllen. Es wird zwar ein formal konsistentes Regelwerk vorgegeben, um einer „Balkanisierung“ der Organisation entgegenzuwirken, aber in einem gewissen Maß werden informelle Abweichungen geduldet.

In Kapitel 2 wird herausgearbeitet, dass formale Organisationen auf die Einhaltung staatlicher Gesetze angewiesen sind, da ihnen einerseits – anders als beim Verstoß gegen interne formale Regeln – keine Autonomie bei der Behandlung von Verstößen zukommt und jedes Organisationsmitglied sich prinzipiell an Verfolgungsbehörden wenden kann und andererseits, weil die Akzeptanz des „Anspruchs des Staates“ die Legitimationsgrundlage legaler Organisationen darstellt.

Das Kapitel 3 differenziert zwischen brauchbarer Illegalität zum Nutzen der Organisation und unbrauchbarer Illegalität, die dem persönlichen Vorteil der Organisationsmitglieder dient. Jedoch zeigt sich anhand von informellen Gratifikationssystemen, dass es einen fließenden Übergang zwischen beiden Formen gibt. Informelle Gratifikationssysteme erlauben Organisationsmitgliedern, sich in einem gewissen Rahmen persönlich zu bereichern. Diese Systeme ermöglichen insbesondere, Motivationsprobleme kompetenter Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu lösen. Selbst persönliche Bereicherungen können also zum Nutzen von Organisationen sein.

Das Kapitel 4 widmet sich Organisationen mit eingehegter Illegalität und Organisationen mit entgrenzter Illegalität. In der entgrenzten Variante ersetzt das auf persönlichem Vertrauen basierende Tauschprinzip die Formalstruktur und die Organisation wird regelmäßig zur „Beute“ ihrer Mitglieder. Treffen Organisationen mit eingehegter Illegalität auf solche mit entgrenzter, finden erstere brauchbar illegale Wege der Kooperation, durch welche partikularistische Mitgliederinteressen in Organisationen mit entgrenzter Illegalität bedient werden, zugleich aber der Zweck der Organisation mit eingehegter Illegalität effektiv verfolgt wird. Als Beispiel dient hier das Feld der Entwicklungszusammenarbeit.

In Kapitel 5 wird die Entstehung von Regelbrüchen als Innovationen konzeptualisiert, die sich in der Organisationspraxis bewähren und sich als informelle Erwartungshaltungen institutionalisieren. Sie werden sowohl peer-to-peer als auch top-down durchgesetzt. Dabei werden auch formale Ressourcen genutzt, um informelle Erwartungen durchzusetzen. Auf Basis dieser informellen Erwartungen können sich deviante Subkulturen und Gruppenidentitäten bilden, die wiederum eine Entgrenzung der Illegalität zur Folge haben können.

Das Kapitel 6 befasst sich mit Reaktionen von Organisationen auf aufgedeckte Regelverstöße: Als Konsequenz differenzieren diese häufig ihre Formalstruktur aus und wechseln das Personal. Dabei kommt es regelmäßig zu einer Machtverschiebung in Richtung von Abteilungen, die für die Überwachung zuständig sind, z. B. Compliance. Die Folge einer zunehmenden Formalisierung ist jedoch der Verlust von Informalität als sozialem Schmiermittel. Dies führt zu zunehmender Intransparenz, unbrauchbarer Illegalität und dem Verlust von Entscheidungsfähigkeit.

Ein ähnliches Phänomen betrachtet das Kapitel 7. Es werden die Folgen der „Moralisierung von Organisationen“ zum Zwecke der Bekämpfung von Regelabweichungen in den Blick genommen, die sich insbesondere in Form von durch Business Ethics angeleitete Integrity-Programmen manifestieren: Das Impressionsmanagement und die Heuchelei von Organisationsmitgliedern nimmt zu, da aufgrund mangelnder Konkretion von Werten nahezu jede Verhaltensweise kritisierbar wird. Entgegen der Absicht, durch Moral Regelverletzungen effektiv vorzubeugen, kommt es zu einer stärkeren Entkopplung von formaler Fassade und informeller Organisationsrealität.

Das Kapitel 8 fragt abschließend, wie mit Regelabweichungen im Organisationskontext umzugehen ist. Da der permanente Wechsel zwischen Formalität und Informalität zum Kern der Professionalität von Organisationsmitgliedern gehört, sollte der Umgang mit Regelbrüchen reflektiert werden, damit brauchbare Illegalität im notwendigen Maß erhalten bleibt, zugleich aber nicht entgrenzt. Bei der Reflektion sind allerdings Mechanismen des Strukturschutzes geschickt zu umschiffen. Hierzu werden strukturierte Empfehlungen geboten.

Insgesamt gelingt es Stefan Kühl, bisherige Erkenntnisse zu den Ursachen von Regelverstößen in und von Organisationen geschickt aufzubereiten und systemtheoretisch zu reflektieren. Auch wenn die Inhalte der Kapitel lediglich lose miteinander verkoppelt sind, geben sie einen sehr guten Überblick über die gegenwärtige Forschungslandschaft und einen theoretisch angeleiteten Ausblick über diese hinaus. Besonders positiv ist hervorzuheben, dass die Arbeit überzeugend Graubereichen zwischen funktionalen und dysfunktionalen Regelbrüchen in Organisationen nachgeht und diese theoretisch reflektiert. Diese Ausarbeitungen bieten interessante Anschlussmöglichkeiten für weitere empirische Forschung.

Die Arbeit lebt von ihrem facettenreichen Zugriff. Es wird Bezug genommen auf qualitative und quantifizierend ausgerichtete Erhebungen, „öffentlich zugängliche Fälle“, „Empirie aus Forschungsprojekten“, „Empirie aus eigener Beratung“, „Empirie aus Workshops zum Thema brauchbare Illegalität“ und die „eigene Erfahrung als Organisationsmitglied“. Dabei bleibt allerdings unklar, wie die zugrunde liegenden Daten erhoben und ausgewertet wurden. Die angehängten theoretischen und methodischen Überlegungen bleiben skizzenhaft. Sie eignen sich nicht, um die empirische Basis der Untersuchungen hinreichend beurteilen zu können und setzen damit bei aller Plausibilität hinter der Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse ein kleines Fragezeichen.

Das Buch eignet sich insbesondere für diejenigen, die sich in das Thema Regelbrüche in Organisationen einarbeiten möchten. Allerdings mit der Einschränkung, dass der Leserschaft ausschließlich eine systemtheoretische Perspektive präsentiert wird, die inhaltlich auf das Konzept der brauchbaren Illegalität fokussiert ist. Eine Auseinandersetzung mit alternativen Erklärungsansätzen erfolgt leider nur vereinzelt und Phänomene, wie die persönliche Bereicherung durch Regelbrüche, werden maßgeblich in Abgrenzung und nicht für sich betrachtet.

Schließlich leistet das Buch einen Beitrag zur Wissenschaftskommunikation und ist mit genannten Einschränkungen ausdrücklich auch für Organisationspraktiker und -praktikerinnen zu empfehlen, die jenseits der gängigen Managementliteratur ein sozialwissenschaftlich fundiertes Verständnis von Regelabweichung gewinnen wollen. Dem Buch ist daher eine weite Verbreitung zu wünschen.