FormalPara Abbott, Andrew:

Zeit zählt. Grundzüge einer prozessualen Soziologie. Hamburg: Hamburger Edition 2020. 328 Seiten. ISBN: 978-3-86854-340‑7. Preis: € 35,-.

Das vorliegende Buch ist eine Auswahl von sechs Essays und einem Epilog aus den Sammelbänden „Time Matters“ und „Processual Sociology“ des US-Soziologen Andrew Abbotts, die von Michael Adrin ins Deutsche übersetzt worden sind. Das Buch beginnt mit einer 55-seitigen Einführung der Soziologen Thomas Hoebel, Wolfgang Knöbl und Aaron Sahr des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Vor dem Hintergrund, dass keine von Abbotts Monografien bislang in die deutsche Sprache übersetzt worden sind, versuchen sie die Bedeutung von Abbotts Ansatz für die Soziologie im Allgemeinen und für die deutsche Soziologie im Besonderen herauszustellen. Sie stellen Abbott trotz seiner hohen institutionellen Stellung in der amerikanischen Soziologie als jemanden dar, dessen Werk auf Rezeptionsschwierigkeiten und Irritationen gestoßen ist (S. 24). Er habe sich nicht domestizieren lassen und sich nicht an die in „bloßen variablen Kategorien“ operierende Mainstream-Soziologie angepasst (S. 26).

Abbotts Ansatz wird in dieser Einführung als revolutionär dargestellt und zielt insgesamt darauf ab, die vorherrschende statische Soziologie zu überwinden (S. 7). Es gehe ihm darum, „die Temporalität des Sozialen“ als zentralen Aspekt sozialwissenschaftlicher Methodologie und soziologischer Theoriebildung zu verankern (S. 12). Er denke nicht in Kategorien einer beständigen sozialen Welt, sondern einer Welt als Bündel von Prozessen und Ereignissen (S. 38). Aus historischer Sicht sei nicht Wandel, sondern Ordnung eine Ausnahme. Bei der soziologischen Theoriebildung solle deshalb der Frage nachgegangen werden, wie aus Prozessen und flüchtigen Realitäten vermeintlich stabile Zustände entstehen (S. 34). Abbotts Arbeit untersuche, wie Ereignisse im Sinne von Sequenzen, d.h. Reihenfolgen von Ereignissen, miteinander verkettet sind und wie sich diese Verkettung erzählen lässt (S. 36). Er betone Kontinuität und Veränderung und nicht Zustände als die Realität des menschlichen Zusammenlebens, da die jeweilige Gegenwart jeweils auch immer eine Vergangenheit und Zukunft hat (S. 40).

Zusammenfassend und vereinfachend kann man Abbotts Hauptthesen in seinen sechs Essays und dem Epilog folgendermaßen beschreiben: In seinem ersten Essay „Die Historizität von Individuen“ stellt Abbott die theoretischen und empirischen Hauptlinien seines prozessualen Ansatzes dar, indem er die „biologischen, erinnerten und aufgezeichneten Kontinuität[en]“ bei Menschen hervorhebt (S. 63–79). Unter Historizität versteht er die Kontinuität von Individuen im Zeitverlauf (S. 66). Im zweiten Essay „Über die allgemeine lineare Realität hinausgehen“ erhebt er den Anspruch, die zunehmende Kluft zwischen soziologischer Theorie und Forschung sowie zwischen Theoretikern und Empirikern zu überwinden, indem er einen prozessualen Alternativansatz anbietet (S. 80–117). In seinem dritten Essay „Was machen Fälle eigentlich?“ stellt Abbott dar, dass „Fälle“ Teilelemente einer Menge sozialer Objekte sind, die es begrifflich zu erfassen gelte. Es gehe darum herauszufinden, was diese Fälle „tun“ und welche Tätigkeit sie ausführen (S. 118). Zusätzlich analysiert er das Verhältnis zwischen Fällen und Narrationen (S. 126). Hier macht sich Abbott für die Etablierung eines „narrativen Positivismus“ gegen die „gegenwärtige Sozialwissenschaft der Variablen“ stark (S. 152). In seinem vierten Essay „Zum Begriff des Wendepunkts“ ordnet sich Abbott zwischen den fallorientierten und variablenorientierten Ansätzen ein (S. 163). In „Lyrische Soziologie“ erhebt er den Anspruch, eine „theoretische Gegenbewegung“ anstoßen zu wollen. Die Gegenwart, die von den dominanten soziologischen Ansätzen statisch erfasst wird, bettet er als eine Episode in einer langen Abfolge von Momenten und Übergängen ein (S. 192). In seinem letzten Essay „Soziale Ordnung und sozialer Prozess“ versucht er ein dynamischeres Verständnis des Konzepts „sozialer Ordnung“ anzubieten, das empirischer und ideologiefreier sein soll als die bisherigen Konzepte sozialer Ordnung (S. 252). In seinem Epilog „Für eine humanistische Soziologie“ plädiert Abbott für eine humanistische und moralische Soziologie. Soziologie müsse beim Mitgefühl, beim unmittelbaren Verständnis anderer und ihrer Besonderheit ansetzen (S. 305).

Die Stärke von Abbotts Ansatz ist meines Erachtens seine Diagnose der dominanten gegenwärtigen Soziologie, die zustandsreduziert ist und eher auf Trennungen und Dualitäten setzt als auf Prozesse und ihre Verflechtungen. Sein Alternativansatz ist jedoch in vielerlei Hinsicht nicht neu und es gibt große Lücken und Unklarheiten in seinen theoretischen Überlegungen.

Nicht nur der relationale und dynamische Ansatz von Pierre Bourdieu, sondern auch der Ansatz von Norbert Elias, dessen Herangehensweise und Methoden explizit als Prozesssoziologie bekannt sind, werden komplett ignoriert. Selbst ihre Namen werden nicht erwähnt. Möglicherweise hat ein US-amerikanischer Soziologe wie Abbott wenig Interesse an der Verfolgung von soziologischen Ansätzen aus Europa. Befremdlich ist jedoch, dass auch die drei deutschen Soziologen, die die Einführung zu Abbotts Buch verfasst haben und darin Abbotts Ansatz in die deutsche Soziologie einzuordnen versuchen, eine ähnliche Ignoranz an den Tag legen. Sie konnten den Prozessbegriff in zahlreichen deutschen soziologischen Lexika und Wörterbüchern anscheinend nicht finden (S. 9 f.). Hier nur zwei Hinweise, wo sie auf den Begriff „soziale Prozesse“ leicht hätten stoßen können, hätten sie den Begriff einfach im Internet nachgeschlagen: In der Zeitschrift für Soziologie, 6 (1977) hat Norbert Elias im Aufsatz „Zur Grundlegung einer Theorie sozialer Prozesse“ ausführlich auf 22 Seiten seine prozesssoziologische Kerntheorie dargelegt. Außerdem wurde im Lexikon „Grundbegriffe der Soziologie“, herausgegeben von Bernhard Schäfers im Jahr 1986, ein kurzer Beitrag von Elias unter dem exakten Titel „soziale Prozesse“ veröffentlicht.

Die gesamte Tradition der Prozesssoziologie wird im Einführungstext pauschal als Symbol für „Arbeiten von Norbert Elias, nicht aber für eine bestimmte soziologische Perspektive oder einen Problemkomplex“ bezeichnet (S. 11). Dies ist das einzige Mal, wo sie sich auf Norbert Elias beziehen. Dieses realitätsferne Urteil könnte meines Erachtens nach zwei Gründe haben: Entweder sind sie tatsächlich nicht mit den umfassenden Arbeiten von vielen Prozesssoziologen und -soziologinnen in Deutschland und weltweit vertraut oder sie vernachlässigen dies mit Absicht, um die Einmaligkeit und Neuheit eines Ansatzes zu zelebrieren, den sie selbst im deutschen Sprachraum als eine neue und scheinbar revolutionäre Schule der Soziologie zu etablieren versuchen. Ich gehe von der zweiten Vermutung aus, da die Herausgeber auf die kritische Rezension des niederländischen Prozesssoziologen Nico Wilterdink hinweisen, der Abbotts Ansatz aus dieser Perspektive umfassend kritisiert hat (Driving in a dead-end street: Critical remarks on Andrew Abbott′s Processual Sociology. In: Theory and Society 47, 2018). Ohne überhaupt auf diese Kritik einzugehen, wird sie wiederum pauschal als „unfair“ abgetan (S. 13). Mir scheinen einige Kritikpunkte von Wilterdink jedoch durchaus plausibel zu sein. Wilterdink erkennt richtigerweise, dass Abbotts Ansatz eine Kombination von US-Zentrismus und Präsentismus darstellt (Wilterdink 2018, S. 548). Was noch beim Ansatz von Abbott auffallend fehlt, sind Vorstellungen von menschlichen Interdependenzen, Machtbeziehungen, Zwängen und Gewalt (Wilterdink 2018, S. 555).

Es bleibt auch offen, wie empirische Untersuchungen mit seinem Ansatz möglich sind. Sein Anspruch als Soziologe nicht deskriptiv und erklärend, sondern normativ und engagiert zu agieren, ist ebenso unklar und problematisch. Der Soziologe als Humanist sollte laut ihm in erster Linie daran interessiert sein, die soziale Welt zu verstehen und nicht daran, sie zu verändern (S. 308). Meines Erachtens lohnt es sich jedoch zu fragen, wie Soziologen und Soziologinnen bei ihrer Forschung eine normative Brille wie Aktivisten und Aktivistinnen aufsetzen können, aber dann den notwenigen zweiten Schritt scheuen, konstruktive alternative Lösungsvorschläge zu formulieren. Das folgende Urteil von Wilterdink bringt meines Erachtens abschließend die Bedeutung des Ansatzes von Abbott für die heutige Soziologie auf den Punkt: „Angesichts der Tatsache, dass sich die Prozesssoziologie [von Abbott] weder empirisch noch theoretisch mit sozialen Prozessen befasst, ist die Bezeichnung prozessual für diese Soziologie ziemlich irreführend. Der Ehrgeiz des Autors ist klar: Er kritisiert die Mainstream-Soziologie, möchte aus den konventionellen Grenzen seiner Disziplin ausbrechen und strebt nach Originalität und theoretischer Innovation. Es ist allerdings weniger klar, zu welchen neuen wesentlichen Erkenntnissen dieser Ehrgeiz führt“ (Wilterdink 2018, S. 543).