FormalPara Lahire, Bernard:

This is Not Just a Painting. An Inquiry into Art, Domination, Magic and the Sacred. Cambridge: polity press 2019. 545 Seiten. ISBN: 978-1-5095-2869‑1. Preis: € 36,90.

Bernard Lahire möchte in seinem Band „This is Not Just a Painting“ an der Geschichte des Gemäldes „The Flight into Egypt“ von Nicolas Poussin die historischen Grundlagen der Herrschaftsstruktur unserer Gegenwartsgesellschaften untersuchen. Er versucht herauszuarbeiten, wie an dem Gemälde in verschiedenen Akten der Heiligsprechung historisch überlieferte Glaubens- und Herrschaftsstrukturen zur Anwendung kommen und sich so bis heute als wirkmächtig erweisen. Hierzu verfolgt er die historische Reise des Gemäldes durch die Hände verschiedener Eigentümer, Kunsthistoriker, Galeristen, Förderer, Kuratoren, Gelehrte, Anwälte, Auktionatoren, Experten usw. und rekonstruiert die Statusveränderungen des Objekts im Laufe dieses Prozesses. Diesem Vorgehen liegt eine Betrachtungsperspektive zugrunde, die jegliche Verhaltensweisen gegenüber Objekten ausschließlich durch Bedeutungs‑, Status- und Wertzuschreibungen bestimmt sieht. Objekte werden folglich einzig hinsichtlich ihrer Bedeutung, ihres Status und ihres Wertes untersucht, die ihnen durch Individuen, Gruppen oder Institutionen zugeschrieben werden. Lahire versucht in diesem Sinne durch die historische Rekonstruktion der Biografie und Trajektorie des Gemäldes „The Flight into Egypt“, etablierte Kategorien, Klassifikationen und sozial strukturierte Rahmungen sichtbar zu machen. Er grenzt sich hierbei wiederholt von einer Soziologie ab, wie er sie von Interaktionismus, Ethnomethodologie, Pragmatischer Soziologie und Soziologie der Kritik betrieben sieht. Diese Soziologien würden in ihren detaillierten Untersuchungen sozialer Begegnungen, Interaktionen und Verbindungen zwischen Menschen und Objekten aus dem Blick verlieren „what it is that acts, thinks, feels, perceives, imagines or pictures through them, or in other words, what unacknowledged ‚inherited‘ historical currents (familial, educational, economic, cultural, political, religious, etc.) flow through and condition them“ (S. 430). Lahire sieht in diesen Studien das Risiko „to lock us into the immediately visible present of situations“ und plädiert stattdessen dafür, „to resituate our practice onto the different historical terrains from which they are the contemporary outcome“ (S. 15).

Die Untersuchung Lahires setzt sich aus drei Teilen zusammen, die die Leserinnen und Leser vom Allgemeinen zum Besonderen und vom Strukturellen zum Individuellen führen sollen. Der erste Teil „History, Domination and Social Magic“ plädiert für eine historisch informierte Soziologie und versucht hierzu, vier Theoriebausteine zu entwickeln: erstens „A theory of self-evident facts and foundations of belief“; zweitens „A general theory of the magic of power“; drittens „A history of the interlinked transformations of power and the sacred“; und viertens „A theory of links and associations and changes in status“. Der zweite Teil „Art, Domination, Sancification“ zeigt auf, wie Kunst im Laufe der Geschichte zum Komplizen von Herrschaft wurde, was das Heilige ausmacht und wie Kunst Teil des Heiligen wurde. Im dritten Teil „On Poussin and Some Flights into Egypt“ wird schließlich die Geschichte des Gemäldes „Flight into Egypt“ auf Basis von und mithilfe der zuvor erarbeiteten Materialen untersucht.

Das Buch präsentiert sich den Leserinnen und Lesern als eine umfassend angelegte, theoretisch anspruchsvolle Rekonstruktion der Trajektorie eines als Kunst anerkannten Objektes durch die Geschichte und verspricht in diesem Sinne aktuelle Einsichten in soziale Wertungs- und Heiligsprechungsprozesse. Lahire integriert im Rahmen seiner Studie in beeindruckender Weise unterschiedlichstes Material: die politische und kulturelle Anthropologie staatenloser Gesellschaften, Kunstgeschichte, Assyriologie, die Analyse der ersten Staatsformen in Mesopotamien, die Geschichte indogermanischer Gesellschaften, die Kulturgeschichte des antiken Griechenlands, mittelalterliche Geschichte, sakramentale Theologie, Religionsgeschichte, die Geschichte des Heiligen und eine historische Aufarbeitung des Fälschens. Dem Leser bieten sich hier hochinteressante Einblicke in verschiedenste Themen. Allerdings ist das Material oftmals zu langatmig und wiederholungsreich präsentiert. Letztlich dient all das Material dazu, facettenreich, bekannte Theoriefiguren der Kritischen Soziologie in der Tradition Emile Durkeims oder Pierre Bourdieus aus- und aufzuarbeiten. Dabei werden immer wieder in der Soziologie durchweg bekannte Theoriefiguren als neue Erkenntnisse und Einsichten präsentiert: „We need to move on from a simple analogical displacement, which means that we refer to the world of art as though it were a religious world, while at the same time believing that it is fundamentally not so at all, to the historical interpretation of art as a sacred domain. By doing so we discover that all our societies, which claim to have lost touch with the sacred and to be disenchanted and rationalized, are indeed fundamentally sacred“ (S. 176).

Dieses Vorgehen wirkt befremdlich, weil man von einer Rekonstruktion der historischen Trajektorie eines Objektes eine umfassende Auseinandersetzung und möglicherweise auch Aktualisierung der Kritischen Soziologie unter Rückgriff auf aktuelle soziologische Positionen zur Stellung des Objektes erwartet hätte. Vor dem Hintergrund des material, des practice, des spacial und des body turn werden seit einigen Jahren Dinge, Artefakte, materielle und räumliche Umgebungen, das Sinnliche und das Affektive ebenso wie Fragen des Materiellen, des Körperlichen, des Atmosphärischen und der Praxis vermehrt in den Fokus der Soziologie gerückt und so ihren Verwendungen, Gebrauchsweisen, Erscheinungen und Performativitäten zunehmend Aufmerksamkeit zuteil. Anstatt in Auseinandersetzung mit derartigen Positionen eine Aktualisierung der Kritischen Soziologie zu unternehmen, brandmarkt Lahire Pragmatismus und (Neo‑)Phänomenologie durchweg als naiv und aktualisiert so lediglich altbekannte Konfrontationslinien. Die zum Teil allzu polemische Darstellung der Positionen Latours oder Boltanskis erweckt durchweg den Eindruck, als versuche Lahire hier lediglich die Kritische Soziologie gegen Kritik zu immunisieren: „The principle of generalized symmetrie, which enjoins researchers to treat non-humans as humans, should, if it had any relevance, allow us to read or hear what non-humans can tell us about the social world. But, to date, such accounts have so far failed to materialize within our societies“ (S. 9). Wie sehr Lahire auf den altbekannten, ausgetretenen Pfaden der Kritischen Soziologie bleibt und deren grundsätzliche Abwertung des Sinnlich-Performativen gegenüber dem Sinnhaften fortschreibt, wird u. a. deutlich, wenn er Bourdieu zitierend schreibt: „The matter seems clear enough, speech is indeed a very secondary aspect of things in comparison with the authority of the spokesperson: ‚Language at most represents this authority, manifests and symbolizes it‘“ (S. 89).

Diese Schwächen des Buches manifestieren sich eindrücklich im dritten Teil des Buches, der Fallstudie, die als das eigentliche Herzstück der Studie – „the central focus of my work“ (S. 16) – präsentiert wird. Während die Nacherzählung der Geschichte der Heiligsprechung des Gemäldes noch durchweg spannend zu lesen ist, erweist sich die Vorstellung der Biografien der zentralen Akteure als langatmige Beschreibung, deren Nutzen für die Studie zudem nicht klar herausgearbeitet wird. Die zuvor entwickelten Theorien und Modelle kommen hier zudem nicht wie bei Bourdieu als heuristische „Werkzeuge“ zum Einsatz, die in der empirischen Anwendung eine Überarbeitung erfahren, vielmehr kommt die Fallstudie – trotz aller gegenteiliger Beteuerungen (S. 16 f.) – eher wie eine Illustration des im theoretischen Teil entwickelten Instrumentariums daher. Die Studie hält keinerlei Überraschungen bereit und präsentiert sich wie eine lineare historische Erzählung. Sie wirkt so letztlich etwas wie ein eigentümlich isoliertes Anhängsel der ersten beiden Teile. Lahire hat hier das große Potenzial einer notwendigen und wünschenswerten Aktualisierung der Kritischen Soziologie vergeben. So wäre es beispielsweise überaus spannend gewesen, in der Studie gezielt nach Widersprüchlichkeiten zu seinem theoretischen Modell zu suchen und so zum Beispiel die Fragen nach dem Verhältnis von Materialität und Bedeutung in dieser Trajektorie näher zu beleuchten. Eine derartige Perspektive drängt sich geradezu auf, wenn im Rahmen der Studie wiederholt das Verhältnis von naturwissenschaftlich orientierten, kunstwissenschaftlichen Forschungslaboren und geisteswissenschaftlich orientierten Kunsthistorikern angesprochen wird (S. 292 f., S. 305 f.). Hier hätte ein durchaus interessantes Potenzial der Arbeit gelegen. Zwar gelingt es Lahire in seiner Studie, die allzu dualistische Perspektive der feldanalytischen Studien Bourdieus zu überwinden, welcher Mehrwert sich hieraus jedoch ergibt, wird leider nicht deutlich. Letztlich erfährt man, dass die wechselnden Wertzuweisungen an das Gemälde auf Basis historisch überlieferter Glaubenssätze, Statuszuschreibungen und Wertzuweisungspraktiken erfolgt. Diese Einsicht und ihr Nachweis mag für Leserinnen und Leser, die sich mit dem Feld der Kunstsoziologie grundsätzlich vertraut machen wollen, gewinnbringend sein, an den aktuellen kunstsoziologischen Diskurs schließt sie jedoch nicht an.