FormalPara Carstensen, Anne Lisa:

Das Dispositiv moderne Sklavenarbeit. Umkämpfte Arbeitsverhältnisse in Brasilien. Frankfurt a. M., New York: Campus Verlag 2019. ISBN: 978-3-593-51048‑4. 541 Seiten. Preis: € 45,–.

In ihrer im Jahr 2019 veröffentlichten Dissertationsschrift widmet sich die Soziologin Anne Lisa Carstensen dem ebenso verstörenden wie häufig einseitig verstandenen Thema der modernen Sklavenarbeit in Brasilien. Im Wesentlichen diskutiert die Autorin „die umkämpften Arbeitsverhältnisse in Brasilien“, so der gleichnamige Untertitel der in der Reihe „Internationale Arbeitsstudien“ des Campus-Verlags erschienenen Arbeit. Große Teile der Schrift bestehen aus einer intensiven Auseinandersetzung mit zwei Fällen, wobei im ersteren die Holzkohleproduktion für die Stahl- und Eisenindustrie in der Region Carajás untersucht wird; in der zweiten liegt der Fokus auf der Bekleidungsindustrie in São Paulo. Das erklärte Ziel der Arbeit besteht darin, „die Verknüpfung unterschiedlicher Netzwerke der Migration und Produktion sowie die darauf bezugnehmenden Regulierungen hinsichtlich der Frage nach Macht und Widerstand in konkreten Arbeitssituationen zu untersuchen. Von theoretischem Interesse ist hierbei der Zusammenhang von Macht, Subjekt und Handlungsfähigkeit, beziehungsweise Widerstand“ (S. 33). Besonderen Wert legt die Autorin auf die Praktiken der normativen Grenzziehungen, für deren Herausarbeitung die Dispositivanalyse sehr gut geeignet ist. Bei einem solchen Vorgehen werden weder die Regulierungen der Arbeitsplätze noch die interpersonellen Arbeitsbeziehungen und Subjekte als gegeben oder gar als stabile Einheiten vorausgesetzt, vielmehr soll gerade deren wechselseitige Konstituierung erforscht werden. Der Untersuchungszeitraum der Studie erstreckt sich von 2003 bis 2015.

In ihrer Einleitung zu dem auf dem DGS-Kongress gehaltenen Vortrag „Moderne Sklavenarbeit in Brasilien zwischen Skandalisierung und Normalität“ (Carstensen [2019]) steckt Carstensen nicht nur den Rahmen ihrer Arbeit ab, sondern erklärt, was unter moderner Sklavenarbeit länderspezifisch verstanden wird. „Unter moderner Sklavenarbeit wird in Brasilien eine spezifische Form informeller Arbeit verstanden. Genauer gesagt wird als moderne oder auch zeitgenössische Sklavenarbeit unter Bezug auf den Artikel 149 des Strafrechts ein Arbeitsverhältnis bezeichnet, in dem Freiheitsberaubung oder erschöpfende Dienstzeiten (die die physische Regeneration der Arbeiter*innen nicht mehr ermöglichen) oder ‚unwürdige Arbeitsbedingungen‘ beobachtet werden; hier werden vor allem Fragen der Ausstattung am Arbeitsplatz, Unterkunft und Verpflegung aufgegriffen. Zusammengefasst weist diese Definition auf extreme Ausprägungen von Zwang, Ausbeutung und Entwürdigung bei der Arbeit hin“ ([2019], S. 1). Und genau für diese Themen interessiert sich Carstensen in ihrer gründlich recherchierten und methodisch souverän ausgeführten Arbeit.

Im zweiten Kapitel umreißt Carstensen ihr Forschungsprogramm sowie ihre Methoden. Sie betreibt Dispositivforschung. Genauer gesagt folgt sie dem Diskurs- und Dispositivbegriff Michel Foucaults und erforscht Sklavenarbeit nicht (primär) als empirisches Phänomen, vielmehr sind in dieser Perspektive Netzwerke von Praktiken, Institutionen und Diskursen Gegenstand der Auseinandersetzung. Die klassische Dispositivanalyse ergänzt Carstensen in ihren überzeugenden Analysen durch leitfadengestützte Interviews mit Experten und Expertinnen sowie mit Beschäftigten, mit qualitativen Dokumentenanalysen politikorientierter Studien, Reportagen, zahlreichen Medienberichten sowie ethnografischen Beobachtungen öffentlicher und geschlossener Veranstaltungen. Mit dieser Kombination verschiedener Methoden gelingt es ihr, ein Kaleidoskop von Themen und Aussagen im Kontext moderner Sklavenarbeit in Brasilien zu erschließen.

Im dritten Kapitel liefert die Autorin eine historisch-kontextuelle Einbettung des Dispositivs der modernen Sklavenarbeit in Brasilien. Hier erfahren die Leser und Leserinnen sehr viel zu den Hintergründen, den Besonderheiten, aber auch zu den Ambivalenzen bezüglich der Bewertung von Sklavenarbeit. Wenn Außenstehende zu Recht von Versklavung und Ausbeutung sprechen mögen, so stellen diese „unwürdigen“ Arbeitsverhältnisse häufig die einzige Möglichkeit für die ärmeren Bevölkerungsschichten und Migranten und Migrantinnen dar, ihr eigenes Überleben (und das ihrer Familien) zu sichern. Nicht verschwiegen wird in der Studie, dass es eine „politische Lücke der Repräsentation versklavter Arbeiter_innen gibt“ (S. 145). Nicht die Betroffenen selbst kommen zu Wort, sondern Vertreter und Vertreterinnen jeglicher Couleur, die ihrerseits Interessen verfolgen. Carstensen fokussiert zudem auf die „Praktiken normativer Grenzziehungen“ (S. 156), deren Effekte sie „mit den Begriffen Naturalisierung und Entnaturalisierung beziehungsweise Skandalisierung, Normalisierung und Mobilisierung“ (ebd.) fasst.

Die längere Fallstudie (Kapitel 4) setzt sich intensiv mit der Holzkohleproduktion für die Stahl- und Eisenindustrie in der Region Carajás auseinander. Hier findet häufig eine temporär „zirkuläre Arbeitsmigration“ (S. 231) statt, die den landlosen Arbeiter und Arbeiterinnen ihr Auskommen sichert. Carstensen weist bei dieser oft sehr gefährlichen Arbeit in den sogenannten carvoarias (Köhlereieinrichtungen) auf vergeschlechtliche Rollenbilder der migrierenden Männer hin (zwischen Abenteurer und sorgendem Familienernährer). Die kürzere Fallstudie (Kapitel 5) zur Bekleidungsindustrie im Großraum Sao Paulo beschäftigt sich mit den vielen informellen Hinterhofwerkstätten (oficinas). In diesen arbeiten und wohnen häufig transnationale Migranten und Migrantinnen (viele aus Bolivien). Für Carstensen stellt die Arbeitssituation die entscheidende Schnittstelle zwischen Produktionsnetzwerk und Migration dar: „In beiden Fallstudien fungieren leistungsbezogene Entlohnungsmodelle und Stücklöhne als Disziplinierungstechnik, die einen spezifischen ‚Willen zur Arbeit‘ sowie exzessive Arbeitszeiten bedingen. Wenn die Rede von moderner Sklavenarbeit ist, geht es oftmals auch um gewaltförmige Praktiken von Seiten der Arbeitgeber*innen, Vorarbeiter*innen oder Arbeitsvermittler*innen“ (Carstensen [2019], S. 6). Im Unterschied zur Holzkohleproduktion sind die Produktionsnetzwerke der Bekleidungsindustrie globalisiert, nicht zuletzt, weil transnational agierende Konzerne den Einzelhandel bestimmen und sich der Wettbewerb durch die Konkurrenz zwischen Anbietern in unterschiedlichen Regionen dieser Welt auszeichnet. Diese Produktionsnetzwerke weisen einen „Doppelcharakter“ (S. 385) auf, da es „nicht auf der einen Seite ausbeuterische und auf der anderen Seite solidarische Netzwerke gibt, sondern unterschiedliche Sichtweisen auf denselben Gegenstand wiedergegeben werden“ (ebd.). Es liegt nahe, dass sich Widerstand gegen diese menschenunwürdigen Arbeitsverhältnisse regt. Im Machtverständnis von Foucault ist Gegenmacht als Widerstandsform immer schon impliziert und da Carstensen einem solchen (produktiven) Machtverständnis folgt, kann sie auch viele Formen des symbolischen Widerstands, der Um- und Neuinterpretation, aber eben auch Streiks und kollektive Kündigungen beschreiben.

Im abschließenden sechsten Kapitel „Umstrittene Repräsentationen ‚versklavter‘ Subjekte“ resümiert Carstensen ihre wichtigsten Ergebnisse. Zugleich versucht sie eine Einordnung in den gegenwärtig sich wandelnden politischen Kontext in Brasilien. Mit Blick auf die beiden Fallstudien konstatiert sie, dass zu Beginn des neuen Jahrtausends von Seiten staatlicher und aktivistischer Akteure eine Art Neuentdeckung auf dem Feld der Abschaffung moderner Sklavenarbeit stattgefunden habe. Dennoch geht der damals begonnene Kampf um Repräsentationen und die Rechte für die betroffenen Menschen, die häufig Migranten und Migrantinnen aus den umliegenden Ländern sind, weiter.

Die Dissertation von Anne Lisa Carstensen ist solide geschrieben, liefert viele Einsichten rund um das Dispositiv moderner Sklavenarbeit in Brasilien und rückt so ein gesellschaftlich bedeutsames Thema in den Vordergrund. Vor einer schnellen Übertragung der Ergebnisse auf den europäischen Kontext warnt die Autorin. Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern es Sinn machen könnte, mit diesem Werkzeug hiesige Verhältnisse zu untersuchen. Die Grenzen der Dispositivanalyse werden von der Autorin am Ende selbst kurz benannt, und so hätte tatsächlich noch mehr ethnografisches Material zur Konkretisierung der Themen beigetragen. Inhaltlich war es eine kluge Entscheidung, auf die Ebene globaler Produktionsbeziehungen und deren staatlichen Regulierungen zu fokussieren, um so Ausbeutungs- und Gewaltbeziehungen im Kontext einer globalen politischen Ökonomie nachzuzeichnen. In formal-stilistischer Hinsicht erscheinen mir die in der dicht geschriebenen Studie eingestreuten Zusammenfassungen und Zwischenfazite als sehr hilfreich. Andernfalls wäre es für die Leser und Leserinnen nicht immer einfach, die vielen Details und thematischen Ausführungen aufzunehmen. Eine gewisse Sperrigkeit, an manchen Stellen sogar eine gewisse Langatmigkeit, bezeugen eindeutig, worum es sich bei der vorliegenden Arbeit im besten Sinne des Wortes handelt: eine klassische Dissertationsschrift.