FormalPara Mayer, Lotta:

Konfliktdynamiken – Kriegsdynamiken. Zur Konstitution und Eskalation innergesellschaftlicher Konflikte. Bielefeld: transcript Verlag 2019. 490 Seiten. ISBN: 978-3-8376-4646‑7. Preis: € 49,99.

Gewaltsame und kriegerische Auseinandersetzungen basieren auf sozialem Handeln. Nichtsdestotrotz wird ihre politikwissenschaftliche Untersuchung häufig von einem makroanalytischen Fokus auf zwischenstaatliche Beziehungen oder strukturelle Kriegsursachen dominiert. Soziologische Analysen, die für das Verstehen der sozialen Einbettung von Konflikten prädestiniert wären, verschieben hingegen Gewaltphänomene entweder als Anomie in einen außersozialen Raum oder ignorieren die ihnen zugrunde liegenden Konfliktstrukturen. Demnach werden hochgewaltvolle Auseinandersetzungen als spezifische Austragungsform sozialer Konflikte entweder gar nicht erst thematisiert oder bleiben voneinander getrennten Mikro- oder Makroanalysen verhaftet. An eben dieser Lücke setzt Lotta Mayer mit ihrer Forschung an. Indem sie gewaltfrei ausgetragene Konflikte sowie Kriege als auf sinnstiftenden Handlungen aufbauende Interaktionsprozesse betrachtet, hebt sie die analytische Trennung zwischen Kriegen und Konflikten auf, betont ihre prozessuale Verbindung und führt das Phänomen hochgewaltsamer Konfliktaustragung zurück in die soziale Welt. Auf dieser Basis entwickelt sie einen symbolisch-interaktionistischen Analyserahmen der Eskalationsdynamiken sozialer Konflikte.

Im ersten Teil des Buches legt Mayer den theoretischen Grundstein ihres Analyserahmens, indem sie zentrale Aspekte von Blumers symbolischem Interaktionismus hinsichtlich ihrer konflikttheoretischen Passung modifiziert. Der Prozess der Handlungskonstruktion auf Basis von interpretierten Bedeutungen und Situationsdefinitionen, welche wiederum dem Einfluss der Handlungen unterliegen, dient als Grundlage für die Betrachtung von Interaktionen zwischen Gruppen. Dieser Fokus auf die kollektive Handlungsebene ermöglicht auch den Brückenschlag zwischen der Mikro- und Makroebene von Konfliktdynamiken: Die Orientierung kollektiver Handlungen an sozialen Ordnungen und die gleichzeitige Gestaltung derselbigen führt Ordnungsstrukturen in die Interaktionen selbst zurück. In dieser Hinsicht können auch Kriege als soziale Ordnung konstituierend verstanden werden, auch wenn diese in ihren Dynamiken nicht notwendigerweise intendiert sind. Neben dieser Grundlegung erweitert Mayer zum einen Blumers harmonistische Konzeption von handlungsleitenden geteilten Bedeutungen um die Existenz divergierender Bedeutungen, welche schließlich auch den definitorischen Kern ihres Konfliktbegriffs ausmachen. Auf diese Weise können Interaktionen nicht nur in Form kooperativen gemeinsamen Handelns, sondern auch in ihrer konfrontativen Ausprägung konzipiert werden. Zum anderen betont sie neben der subjektiven Situationsdefinition den handlungswirksamen Charakter der objektiven Situation, dies ist insbesondere angesichts des Körpers als Zielobjekt physischer Gewalthandlungen relevant.

Im zweiten Teil entwickelt Mayer aus dieser konflikttheoretischen Anpassung des Symbolischen Interaktionismus heraus einen Analyserahmen, um die Eskalationsdynamiken von Konflikten zu erfassen. Durch ihr spezifiziertes Konfliktverständnis auf manifeste, in den Handlungen selbst veräußerte Konflikte lassen sich diese als auf divergierenden Bedeutungen aufbauende Interaktionsprozesse verstehen. Darüber hinaus identifiziert sie die Konfliktarena, welche die Konstellation der zumeist vielzähligen Konfliktakteure umfasst, sowie die Konstitution der Konfliktparteien selbst als wichtige Bestandteile einer symbolisch-interaktionistischen Analyse von Konfliktdynamiken. Letzterer Aspekt betont, dass Konfliktakteure keineswegs unitarisch aufgefasst werden dürfen. Ihre Handlungsfähigkeit speist sich vielmehr aus internen Interaktionsprozessen, denen wiederum die gegenseitige Interpretation auf Basis (konfliktiv entwickelter) geteilter Bedeutungen und die damit einhergehende Etablierung bestimmter Handlungsweisen zugrunde liegen. In der Betonung des Wechselspiels der Interaktionen zwischen und innerhalb von Konfliktakteuren liegt die zugleich kontingente sowie selbstverstärkende Dynamik von Konflikteskalationen begründet.

In einem dritten Schritt entwickelt Mayer auf diesem Analyserahmen aufbauend ein Phasenmodell gewaltsamer Eskalationsprozesse, welches sich entlang der Konstitution der Konfliktparteien bewegt. Über alle Phasen hinweg müssen Eskalationsdynamiken dabei mehrdimensional verstanden werden, die Konfliktgegenstände selbst, die Austragungsformen sowie die Akteurskonstellationen können gleichzeitig prozesshaften Veränderungen unterliegen. In der ersten Phase entwickelt sich aus unorganisiertem sozialem Protest eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung, die in sporadischen Gewaltmomenten kulminiert, woraus sich schließlich eine Konfliktpartei konstituiert, der von staatlicher Seite aus mit repressiven Mitteln begegnet wird. In der zweiten Phase eskaliert die Gewalt durch einen zunehmenden Militarisierungsprozess: die organisatorische Festigung der Protestbewegung hin zu einer Gewaltorganisation einerseits, für die massive Gewalt eine etablierte Handlungsweise darstellt, und der Einsatz der Armee andererseits. In der dritten Phase führt die Fragmentierung der Konfliktparteien zur Entgrenzung der massiv gewaltsamen Konfliktaustragung. Die drei Phasen haben zugleich unterschiedliche Konsequenzen für mögliche Deeskalationsformen: Bereits mit den ersten Gewaltausschreitungen und mit zunehmender Polarisierung wird die Regelung des Konflikts durch einen ausgehandelten Kompromiss erschwert. Trotz verbesserter Bedingungen durch die sich in der zweiten Phase entwickelnde Organisationsstruktur, können gerade Verhandlungen, angesichts der inneren Aushandlungsprozesse, sogar noch die Fragmentierung der Konfliktparteien begünstigen. Die Potenziale einer Deeskalation müssen daher stets im Kontext der Dynamiken verstanden werden, die sie auch innerhalb der Konfliktparteien auslösen. Mit fortschreitender Eskalation wird eine Beendigung schließlich auch durch Sieg oder Erschöpfung möglich, je komplexer die Akteurskonstellation desto geringer ist jedoch deren Wahrscheinlichkeit. Aus einer interaktionistischen Perspektive steht diese dreiphasige Veränderung der Akteurskonstitutionen und -konfigurationen somit in direkter Wechselwirkung zu Eskalationsdynamiken, welche eine kooperative Regelung oder anderweitige Beendigung der physischen Gewalt erheblich erschweren.

In ihrem Buch gelingt es Mayer in beeindruckender Weise, die Eskalationsdynamiken zwischen Konflikten und Kriegen hinsichtlich ihrer selbstverstärkenden sowie kontingenten Momente durch unintendierte Konsequenzen oder veränderte Akteurskonstellationen verstehbar zu machen. Gerade durch ihre innovative Betrachtung dieser Konfliktdynamiken mithilfe des Symbolischen Interaktionismus identifiziert sie die oft vernachlässigte Veränderung der Konstellation von Konfliktparteien als zentrale Komponente für gewaltsame Eskalationsdynamiken, die wiederum im Wechselspiel mit den inneren Interaktionsprozessen der Konfliktparteien stehen. Dabei gelingt ihr zugleich eine solide und ebenso mutige theoretische Verortung, trotz der Ambivalenzen in Blumers Konzeption des Symbolischen Interaktionismus. Im Gegenteil, sie nutzt dessen Widersprüche, um seine Theorie für eine Konfliktanalyse brauchbar zu machen und ein entsprechendes Analysemodell zu entwickeln. Dieser theoretischen Stärke stehen zwar auch kleinere Vernachlässigungen in dem erarbeiteten Phasenmodell gegenüber: So hätten zum einen die spezifischen Konfliktdynamiken gewaltvoller Auseinandersetzungen zwischen zwei nicht staatlichen Gewaltorganisationen noch besser expliziert werden können – die Modellentwicklung bleibt in großen Teilen auf der Konstellation staatlicher gegen nicht staatliche Akteure fokussiert. Zum anderen hätten die Differenzierung staatlicher Konfliktparteien hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden Regimeform oder die Thematisierung einer Konfliktregelung durch externe Interventionen weitere konfliktdynamisch relevante Erkenntnisse hervorbringen können. Dennoch liegt in ihrer klaren Fokussierung der Vorteil, einen wissenschaftlich äußerst relevanten Analyserahmen geschaffen zu haben, der komplexe Dynamiken kriegerischer Gewalteskalationen erfasst. In dieser Hinsicht ist auch die eher knappe empirische Illustration anhand des Darfur-Konflikts nicht negativ einzuordnen, sondern vielmehr als Chance für eine Vielzahl wissenschaftlicher Folgeuntersuchungen, die Mayers Modell empirisch zu untermauern, spezifizieren oder modifizieren vermögen.