FormalPara Röcke, Anja, Maria Keil und Erika Alleweldt (Hrsg.):

Soziale Ungleichheit der Lebensführung. Weinheim: Beltz Juventa 2019. 220 Seiten. ISBN: 978-3-7799-3755‑5. Preis: € 29,95.

Auch wenn bei Max Weber weder expliziter Grundbegriff noch überhaupt abschließend definiert, so lässt sich im Konzept der Lebensführung doch der Kern seiner Soziologie in analytischer und auch normativer Hinsicht entdecken; darauf hat insbesondere Hans-Peter Müller wiederholt hingewiesen. Die Lebensführung bezieht sich sowohl auf praktisches Verhalten als auch auf Wertorientierungen, allerdings nicht individualistisch, sondern in Orientierung an unterschiedlichen „Wertsphären“ und Lebensordnungen der modernen Gesellschaft. Das Konzept betont die individuelle Aktivität und verbindet so Individuum und Gesellschaft wechselseitig. Wohl gerade auch wegen dieser Vielgestaltigkeit hat es aber nur sehr bedingt Eingang in die analytische Forschung gefunden. Der vorliegende Band möchte dazu beitragen, das Konzept für theoretische und empirische Analysen fruchtbar zu machen. Es geht hierbei aber eher nicht um die Details der „alltäglichen Lebensführung“. Vielmehr gilt es, konkrete Formen und Ausgestaltungen der Lebensführung zu analysieren, und zwar zeitdiagnostisch oder explizit sozial differenzierend.

Nach einer kurzen, aber instruktiven Einleitung der drei Herausgeberinnen gibt es zunächst „konzeptionelle Betrachtungen“. Michael Makropoulos unterstreicht mit Bezug auf Plessner die anthropologische Notwendigkeit der Lebensführung. Diese ist zunächst einmal inhaltlich offen, allerdings gilt das moderne Modell der methodisch-rationalen Lebensführung inzwischen als alternativlos, und ziel- und erwartungsoffene, antizipatorische Sozialisation (Riesman) bereitet dafür den Boden. Bruchlose Konformität gibt es dabei aber nicht, auch weil, wie Karin Lohr betont, die Individuen die Vielfalt der Wertsphären integrieren müssen. Außerdem hat die individuelle Lebensführung ein starkes Moment des Eigensinns. Auch den kurzen Schlussbeitrag von Heinz Bude könnte man noch zu den stärker konzeptionellen Beiträgen rechnen. Er unterstreicht ebenfalls die Bedeutung von innerer Motivation und subjektivem Sinn vor dem Möglichkeitshorizont jeweils nicht gewählter Optionen; inhaltlich steht Statusunsicherheit aufgrund von Angst vor Scheitern und Fehlentscheidungen im Vordergrund.

Im zweiten Teil des Bandes folgen mehr oder weniger empirisch gesättigte Beiträge, die auf ihre Art jeweils selektiv sind: entweder behandeln sie ganz bestimmte Teilgruppen, ausgewählte Momente oder es geht schlicht um die großen Linien. Steffen Mau, Olaf Groh-Samberg und Uwe Schimank widmen sich gesellschaftlichen Ursachen sowie Handlungsstrategien der „Statusarbeit“, mit denen Individuen und Familien versuchen, wenn schon nicht aufzusteigen, so doch zumindest das soziale Zurückfallen zu verhindern. Die Autoren diagnostizieren eine enge Wahlverwandtschaft mit Wachstumsgesellschaften und ihren Leitbildern von Meritokratie und Wettbewerb. Unter Bedingungen des Niedrigwachstums wird den Mittelschichten dieses Lebensführungsmuster einerseits schwerer gemacht, andererseits aber geradezu aufgezwungen: Bildungsinvestitionen, Vermögensbildung und -übertragung und private Vorsorge sind zentrale Strategien, die auch öffentlich propagiert werden. Dem Beitrag gelingt es, für das Konzept der Lebensführung zentrale Verbindungen (oder hier wohl besser: Parallelen) zwischen Makrostrukturen der Gesellschaft und individuellen Strategien exemplarisch nachzuzeichnen. Cornelia Koppetsch geht mit Bezug auf Bourdieu und Elias vom Zivilisationsprozess als einer Spiralbewegung mit Phasen der Liberalisierung oder gesellschaftlichen Integration und solchen neuen Abgrenzungen aus. Für die Gegenwart sieht sie die Ausbildung einer neuen Klassengesellschaft, in der sich das „postindustrielle Bürgertum“, das zwischenzeitlich Elemente der Protestkultur des 20. Jahrhunderts aufgenommen hat, wiederum nach unten abgrenzt. Bei dieser Distinktion geht es einmal mehr um Disziplin und die richtigen Umgangsformen und auch Gefühle; inhaltlich handelt es sich um einen Verlust von Liberalität und in diesem Sinne zivilisatorische Regression. Mit dem Aufstieg des Populismus lassen sich auch Verbindungen zu politischen Entwicklungen ziehen. Als zeitdiagnostisches Panorama durchaus gelungen, geht bisweilen die konzeptuelle Schärfe verloren. Es ist wohl kein Zufall, dass der Begriff der Lebensführung nur am Rande auftaucht und gleichrangig von Lebensstilen, Umgangsstilen, Verhaltensstilen, Verhaltenscodes oder Verhaltensschemata die Rede ist. Karl-Siegbert Rehberg beschreibt Kontinuitäten von Bürgerlichkeit in der DDR und Ostdeutschland nach der politischen Wende. Bürgerliche Verhaltenscodes haben demnach gerade in gesellschaftlichen Nischen in der DDR überdauert („Refugiumsbürgertum“). Die „ins Private geflüchtete Bürgerlichkeit“, oft Konsequenz einer oppositionellen Haltung, war gerade bei Angehörigen der klassischen Professionen zu finden. Zudem war der bürgerliche Lebensstil attraktiv für soziale Aufsteiger – und eben diese Ver(klein)bürgerlichung der Arbeiterschaft steht in der aktuellen Situation nun als mögliches Distinktionskriterium gegenüber neuen Statuskonkurrenten (Immigranten) zur Verfügung. Der Beitrag von Nicole Burzan und Ronald Hitzler, von beiden eher im Stil von Rede und Gegenrede geschrieben, fragt, ob „Juvenilität“ im Sinne lustbetonten und situativen Handelns und einer Art kultivierter Orientierungslosigkeit zum neuen, post-modernen Modus der Lebensführung geworden ist. Doch bei aller anekdotischer Evidenz: Die breitenwirksame Alternative zum Modell der methodisch-rationalen Lebensführung zeichnet sich hier wohl noch nicht ab. Es geht aber auch nicht nur um ein gegenkulturelles „Ventil“; im Gegenteil, wie etwa bei Koppetsch angedeutet, ist Jugendlichkeit ja durchaus in Teilen von der dominanten Kultur adaptiert worden, und es hat sich um sie herum ein veritabler Wirtschaftszweig entwickelt, der sich beileibe nicht auf Fitnessangebote beschränkt und kurzfristige Zerstreuung in jeder Form verspricht. Konzeptuell handelt es sich bei sozial bereitgestellten Angeboten keineswegs um „triviale Rahmenvorgaben des individuellen Lebensvollzugs“ (S. 149) – sie sind elementar für die Funktion der Lebensführung als Scharnier zwischen individuellem Verhalten und Gesellschaft. Peter Hägel analysiert anhand von Fallbeispielen, wie ökonomisch besonders erfolgreiche Einzelne (Milliardäre) in nationale und internationale Politik eingreifen und welche Strategien sie dabei verwenden. Es ist sehr lehrreich, über die Privatisierung von (Welt‑)Politik und die sogar transnationalen Einflüsse einzelner Personen zu lesen, und solche sind ja etwa im Fall von Bill Gates auch in jüngeren Debatten um Impfprogramme der WHO – und vermeintliche Bezüge zu Corona – wiederholt skandalisiert worden. Allerdings beziehen sich die dargestellten politischen Strategien nur am Rande auf das in dem Band überwiegend verfolgte Konzept von individueller Lebensführung. Uwe Krähnke schließlich beschreibt (idealtypisch) Motivationslage und Identität der hauptamtlichen Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Der Autor attestiert ihnen ein elitäres Grundverständnis, das eine primär intrinsisch motivierte Mitarbeit im MfS bedeutete. Allerdings ging es neben der „Berufung“ immer auch um Gehorsam. Der Dienst stand im Mittelpunkt der alltäglichen Lebensführung, was leider nur mit wenigen Beispielen illustriert wird. Interessant ist die These der Konsequenzen dieser totalen Verfügbarkeit: „Gerade weil sie die Übergriffigkeit des MfS täglich erlebten, sich daran gewöhnten und diese sogar als legitim erachteten, sahen es die Angehörigen dieses Ministeriums für normal an, dass auch die Privatsphäre anderer keine Tabuzone darstellte“ (S. 208, Hervorh. i. Orig.). Man braucht die Entgrenzung zwischen Beruf und Privatheit aber nicht in einen scharfen Kontrast zur modernen Gesellschaft zu stellen. Beiträge im selben Band beschäftigen sich schließlich ebenfalls mit vielfältigen Problemen der Entgrenzung – diesmal jenen unter aktuellen kapitalistischen Bedingungen.

Mit ihren sehr unterschiedlichen Schwerpunkten liefern diese Beiträge insgesamt ein eher unvollständiges Mosaik, das die in den einleitenden Beiträgen angedeuteten Möglichkeiten des Lebensführungskonzepts nur sehr selektiv abdecken kann. Eine umfassende empirische Studie des Verhältnisses von sozialer Ungleichheit und individueller Lebensführung muss also noch geschrieben werden. Hierzu würden insbesondere auch systematische und robuste Gruppenvergleiche gehören, die tatsächlich unterschiedliche „ständische Lagen“ mit spezifischen Formen der Lebensführung beschreiben. Andererseits liefern die Beiträge des Bandes aber eben auch viele interessante und brauchbare Mosaiksteine. In der Zusammenschau deuten sie die Punkte an, auf die es bei einer Analyse ankäme, und machen insofern auch Defizite in konventionellen Sozialstrukturanalysen von Lebenschancen und Lebensstilen deutlich. Hierzu zählen zum einen lebensbereichs- oder „wertsphären“-übergreifende Muster und gerade auch die Spannungsverhältnisse und Konflikte, die diese in der Regel bedeuten. Zum anderen sollten Analysen dem Prozesscharakter der Lebensführung gerecht werden und nicht nur im Arbeitsleben in Laufbahnen denken. Die jeweiligen individuellen Lebenspositionen müssen in der Regel erst erreicht werden und Elemente der Lebensführung werden an andere weitergegeben, insbesondere an nachfolgende Generationen. Und schließlich sollte es tatsächlich um Lebensführung gehen, also subjektiver Sinn berücksichtigt werden, statt primär Verhaltensmuster zu beschreiben. Das „Führungsmoment“ bezieht sich nicht nur auf spezifische individuelle Handlungsmotivationen, sondern verweist auf umfassendere und auch kollektive Sinnstrukturen – so wie sich bei Weber der Geist des Kapitalismus als „ethisch gefärbte Maxime“ der Lebensführung zeigt. Hinzu kommen praktische Aspekte wie Kompetenzen, Techniken und individuelle Integrationsleistungen im Rahmen der Lebensführung.